Russlands ländliche Zustände seit Aufhebung der Leibeigenschaft

Drei russische Urteile
Autor: Eckardt, Julius Albert Wilhelm von Dr. (1836-1908) deutscher Journalist, Historiker, Senatssekretär und Diplomat, Erscheinungsjahr: 1870
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Vorwort.

Selten sind in den kurzen Zeitraum eines Jahrzehnts so zahlreiche politische Enttäuschungen gefallen, wie in die Jahre, welche zwischen 1859 und 1869 liegen. Italien, dessen nationale Wiedergeburt in dem gesammten Weltteil gefeiert wurde, hat aus einer langen Reihe demütigender Erfahrungen lernen müssen, dass der Konstitutionalismus auch wenn er ehrlich durchgeführt wird, für ein krankes Volksleben die Heilkraft nicht besitzt, welche man ihm zugeschrieben. Deutschland hat erfahren müssen, dass die Einigung seiner zerfahrenen Stämme nicht auf dem „trocknen Wege“ herbeigeführt werden konnte, den der Liberalismus so zuversichtlich empfohlen hatte, sondern dass in der Tat Blut und Eisen die Arbeit fertig bringen mussten, welche man zuletzt dem Manne zugetraut hatte, der zuerst auf dieses Mittel provoziert hatte. Jenseits des Ozeans hat die radikale Partei, welche die Aufhebung der Sklaverei erzwang und sich dadurch ein unverwüstliches Verdienst um die Menschheit erwarb, von dem politischen Kredit, dessen sie in der alten Welt genoss, beträchtlich verloren und das Recht jener demokratischen Prinzipien, welche man für bloße Aushängeschilder südstaatlichen Eigennutzes gehalten, wenigstens in gewissem Grade anerkennen müssen. Allenthalben wo der Liberalismus belehrbare Vertreter fand, hat man einsehen gelernt, dass die unfehlbare Doktrin mit der man vertrauensselig in den Kampf zog, der Korrektur durch praktische Erfahrungen bedürfe, um die Lebensfähigkeit zu gewinnen, die sie sich von Hause aus zugeschrieben hatte.

Dieselbe Erfahrung hat auch Russland und Europa mit Russland machen müssen. Die nationalen und demokratischen Prinzipien, deren Verkündigung in dem absolutistischsten Staate Europas als Triumph der Menschheit begrüßt wurde, haben in den westlichen Provinzen der großen Monarchie des Ostens zu einem System geführt, über dessen Verwerflichkeit ganz Europa einig ist. Auch bezüglich der inneren Verhältnisse in Russland selbst, steht man vor einer Enttäuschung. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche in reinster Absicht und mit unvergleichlicher liberaler Unerschrockenheit unternommen worden war, hat zu einer Reihe zunächst wirtschaftlicher Schwierigkeiten geführt, deren Beseitigung noch größere Anstrengungen und Opfer zu fordern scheint, als die Befreiung von dem Joch der Unfreiheit, die seit Jahrhunderten auf Millionen russischer Staatsbürger lastete. — Wenn Umwälzungen dieser Art in anderen Staaten nicht die gewünschten Folgen gehabt hatten, so suchte man den Grund davon gewöhnlich in der Halbheit und Unentschiedenheit der getroffenen Maßregeln. Von diesem Vorwurf konnte in Russland auch nicht die Rede sein; man hatte nicht nur die Ablösung der Bauern von ihren ehemaligen Herren mit beispielloser Raschheit durchgeführt und den Emanzipierten die reichlichsten Mittel zum Eigentumserwerb der Scholle dargeboten, die sie sonst als Frohner bearbeitet, sondern gleichzeitig eine Kreis- und Gemeinde-Ordnung geschaffen, welche der bäuerlichen Selbstbestimmung die ausgedehntesten Befugnisse gab, jede Spur einer Abhängigkeit von den ehemaligen Grundherren vernichtete und außerdem die von dem modernen Staatsrecht geforderte Trennung der Justiz von der Verwaltung bis in die letzten Konsequenzen durchführte.

Damit schien Alles getan worden zu sein, was überhaupt getan werden konnte und als die Durchführung dieser ungeheuren Reform in dem ausgedehntesten europäischen Staat gelungen war, ohne die Ruhe desselben auch nur einen Augenblick ernstlich zu gefährden, glaubte man ein Werk hinter sich zu haben, das seinesgleichen suche. Mehrere Jahre vergingen, ohne dass etwas über die Resultate verlautete; in Russland war man mit der Bekämpfung des polnischen Aufstandes und seinen Folgen, in West-Europa mit den deutschen und französischen Dingen zu ausschließlich beschäftigt, um für die Frage nach den nächsten Wirkungen der großen russischen Agrarreform Zeit übrig zu haben; die überhaupt an derselben Anteil nahmen, begnügten sich, die ungestörte Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu konstatieren und dabei hatte es sein Bewenden.

Erst vor zwanzig Monaten, bei Gelegenheit des furchtbaren Notstandes, der im Winter 1867 —68 das nordöstliche Europa heimsuchte, erschien ein Buch, das die Summe der wirtschaftlichen Resultate zu ziehen versuchte, welche seit Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland gemacht worden. „Die Landwirtschaft hat Rückschritte gemacht, die jeden Vergleich mit anderen Völkern und Zeiten ausschließen, die Produktion nimmt allenthalben ab, die Gutsbesitzer stehen am Rande des Bankerotts, die Bauern sind ärmer, liederlicher und verkommner als sie je zur Zeit der Unfreiheit gewesen, die ländliche Justiz und Verwaltung stellt ein unentwirrbares Chaos dar“ — so lautete im Wesentlichen das Urtheil, welches eine anonyme unter dem Titel „Land und Freiheit“ publizierte Broschüre über die Lage fällte und das sie mit einer ziemlich ansehnlichen Reihe von Zahlen und Daten belegte.

Das Aufsehen, das diese Schrift erregte, war begreiflicher Weise ein sehr bedeutendes. Die gesamte liberale Presse Russlands erging sich in Klagen über den Pessimismus des Verfassers, von allen Seiten regnete es Erwiderungen und Proteste. Aber was war der Inhalt dieser Entgegnungen? Die von dem Autor (einem russischen Staatsmanne, der sich P. L. unterzeichnet hatte) behaupteten Tatsachen wurden nirgends widerlegt, kaum die Richtigkeit der mitgeteilten Zahlen und Daten bestritten. Dafür erging man sich in zornigen Vorwürfen darüber, dass in dem demokratischen Russland Angriffe gegen das unbeschränkte Selfgovernment des Bauernstandes gewagt worden, dass ein russischer Schriftsteller die Kühnheit gehabt, die Ausschließung der Gutsbesitzer aus den Bezirks- und Gemeindeverbänden zu tadeln, die Tunlichkeit der Trennung von Justiz und Verwaltung in Frage zu stellen, das Heiligtum des nationalen Gemeindebesitzes anzutasten und die Reihe dieser sträflichen Attentate gegen die neuen Prinzipien mit der Forderung einer aristokratischen Organisation der ländlichen Verwaltung zu schließen. Das war genug um den Verfasser von „Land und Freiheit“ zu den Todten zu werfen, seine Ausführungen über die zunehmende Verarmung des Bauernstandes und den Verfall der Produktion zu ignorieren und unbeirrtes Festhalten an dem einmal beschrittenen Wege zu predigen. Wie weit man es in der Kunst, von unliebsamen Tatsachen keine Notiz zu nehmen, auch jenseits der Weichsel gebracht, bewies einige Monate später das Geschick eines zu Berlin erschienenen Buchs „Le patrimoine du peuple“, welches auf Grund der gemachten traurigen wirtschaftlichen Erfahrungen die Aufhebung des Gemeindebesitzes in Vorschlag brachte und ein ganzes System von Maßregeln enthielt, welche die Beseitigung jenes Instituts erleichtern sollten. Es genügte, dass der Verfasser K. D. Schedo-Ferroti hieß und als Verteidiger der Polen bekannt war, um ihn und sein Werk vollständig totzuschweigen.

Im April dieses Jahres erschien ein drittes Buch über denselben Gegenstand und merkwürdig genug — das Bild, das dasselbe von den wirtschaftlichen und moralischen Zuständen auf dem flachen Lande entwarf, stimmte mit den Schilderungen des Verfassers von „Land und Freiheit“ im Wesentlichen überein. Verminderung der Produktion, Verarmung der Bauern, vollständige Recht- und Zuchtlosigkeit in den Gemeinden wurden wiederum als die Hauptmerkmale und bedeutsamsten Zeichen der Zeit hervorgehoben. Und doch bot der Name des Verfassers A. Koschelew die sichersten Garantien für streng nationale und zugleich demokratische Gesinnung! Wie war es möglich, dass ein Mann, der Feind des Adels, Anhänger der auf alle Stände ausgedehnten Provinzialvertretung, der Geschworenen Gerichte u. s. w. die Lage als wahrhaft verzweifelt bezeichnete und dringend zur Umkehr, zur Wiederherstellung der Autorität der Gebildeten, besonders entschieden zur Beschränkung der bäuerlichen Selbstverwaltung und Justiz mahnte und entgegengesetztenfalls eine vollständige Auflösung aller staatlichen und sittlichen Bande prognostizierte?

Eine Antwort auf diese Frage hat auch die Allwissenheit der modernen russischen Presse nicht zu geben gewusst, ebenso wenig eine Widerlegung der Behauptungen, in denen sich ein aristokratischer und ein demokratischer Beobachter der neu-russischen Zustände so merkwürdig begegnet waren. Von einer Reihe kleinerer Schriften abgesehen, die sich sämtlich auf den Standpunkt Koschelew’s und seines Vorgängers stellten, fehlt es in der russischen Literatur an eingehenderen Erörterungen der ländlichen Zustände seit Aufhebung der Leibeigenschaft, — somit auch an Allem, was einer wirklichen Widerlegung der von den genannten beiden Autoren gefällten Urteile ähnlich sähe.

Bei dem Interesse, welches eine Thatsache von der Bedeutung der großen russischen Bauernemanzipation an und für sich und ganz besonders unter den oben angedeuteten Verhältnissen hat, wird auch für Westeuropa eine Mitteilung dessen, was über die gewonnenen Resultate bis jetzt bekannt geworden, der Rechtfertigung nicht bedürfen. Ganz abgesehen davon, dass eine eingehendere Erörterung der in Russland gemachten neusten wirtschaftlichen und politischen Erfahrungen für die Wissenschaft nicht ganz ohne Nutzen sein kann, und andererseits Russland den Wunsch haben muss, das Urtheil der Vertreter dieser Wissenschaft einzuholen, haben die Tatsachen, von denen hier die Rede sein soll, einen begründeten Anspruch darauf, von den Zeitgenossen nicht ignoriert, sondern in die Register der Zeitgeschichte eingetragen zu werden. Das kann aber nur geschehen, wenn die bis jetzt veröffentlichten Aufzeichnungen über dieselben, durch eine deutsche Version dem westeuropäischen Publikum zugänglich gemacht werden.

Wir wissen wohl, dass die beiden russischen Schriften, welche den Inhalt dieses Buchs ausmachen, auf vollständige und erschöpfende Beurteilung der in Rede stehenden Materie keinen Anspruch machen können und dass sie, auch abgesehen hiervon, Widerspruch hervorrufen werden. Das gilt namentlich von der Broschüre „Land und Freiheit“ welche gewissen Anschauungen, die in und außerhalb Russlands für unantastbar gelten, in schneidiger Weise entgegentritt und diesen Widerspruch absichtlich hervorrufen zu wollen scheint. Aber es darf einerseits nicht vergessen werden, dass der Verfasser zu Russen und zwar zu modernen, eigensinnig im Doctrinarismus steckenden Russen redet (denen viele seiner — uns wie ihm geläufigen — Ausführungen neu sind, und dass er zweitens auf Grund von Tatsachen redet, die trotz ihrer Unwiderlegbarkeit hartnäckig und absichtlich ignoriert worden waren. Für den Leser, der wirklich lernen will, wird die Broschüre „Land und Freiheit“, auch wenn er ihr nicht in allen Stücken zustimmen kann, eine reiche Quelle der Belehrung über bisher unbekannte Tatsachen bilden. Namentlich der Gegensatz zwischen nord- und südrussischen Verhältnissen ist zuerst von dem Verfasser dieser Schrift genügend hervorgehoben und erörtert worden. — Was die Art der Darstellung anlangt, so wird dieselbe, weil genau auf den gegenwärtigen Bildungsstand russischer Durchschnittsleser berechnet, für den aufmerksamen Beobachter an und für sich von Interesse sein.

Der Koschelew’schen Abhandlung über die gegenwärtige Lage des russischen Bauernstandes haben wir an dieser Stelle nichts weiter hinzuzufügen, da die „Einleitung“ auf den Standpunkt des Verfassers näher eingeht und die übrigen Voraussetzungen enthält, welche für das Verständnis deutscher Leser erforderlich sind.

Ich habe mir nicht versagen können, als Anhang zu den Urteilen P. L.’s und A. Koschelew’s einen „Brief vom. Lande“ abzudrucken, den die Mosk. Ztg. im J. 1866 veröffentlichte, obgleich derselbe die optimistischen Darstellungen empfindlich Lügen straft, die gerade durch dieses einflussreiche Journal gehegt und gepflegt, so zu sagen zur politischen Religion Russlands gemacht worden waren. Ein russischer Landwirt, der, wenn er überhaupt Politiker ist, zweifellos auf dem Standpunkt des Journals steht, an welches sein Schreiben adressiert ist, entwirft eine rein objektive Schilderung der Zustände, die er in seiner Heimat vorgefunden. Diese Schilderung stimmt vollständig, zum Teil wörtlich mit den Angaben überein, welche einige Monate später von unseren beiden Broschüren zum allgemeinen Ärgernis publiziert wurden. — Bruchstücke dieses Briefs vom Lande sind von mir schon früher nach einer in der Baltischen Monatsschrift veröffentlichten Übersetzung angezogen worden. Hier, wo es sich um einen möglichst ausführlichen Nachweis für die Unparteilichkeit unserer beiden Berichterstatter handelt, hat von einer nochmaligen und vollständigen Mitteilung dieses interessanten Aktenstücks nicht Abstand genommen werden können.

Der Herausgeber hat sich den Vorwurf systematischer Feindschaft gegen Russland und die in diesem Lande herrschende Partei zu häufig gefallen lassen müssen, um nicht darauf gefasst zu sein, auch wegen der Herausgabe dieses Buchs einen reaktionären Verleumder Russlands gescholten zu werden. Von einer Verständigung mit den Wortführern an der Newa und Moskwa glaubt er auch diesesmal absehen zu müssen. Für das deutsche Publikum wird es der Versicherung nicht erst bedürfen, dass bloß das Interesse an einem der wichtigsten Abschnitte der neusten Geschichte und der Wunsch, — wenn auch nur im bescheidensten Maßstabe — zur Feststellung allgemeiner Wahrheiten beitragen zu können, die Herausgabe dieses Buches veranlasst haben.

Leipzig, d. 12. Nov. 1869.
Dr. J. Eckardt.