Fortsetzung

Urteilt man nun nicht nach den Absichten, sondern — wie es in der Politik trotz aller moralinsauren Einwände nötig ist — nach den Erfolgen, so erscheint es klar, dass Witte als Ministerpräsident trotz seiner scheinbaren Zarentreue der größte aller bekannt gewordenen Moltschaniki ist. Denn niemand vor ihm ist imstande gewesen, die Desorganisation der zaristischen Staatsordnung bis zu dem Grade zu treiben, dessen fragwürdiges Bild sich seit dem konstitutionellen Ukase vom 30. Oktober 1905 vor der lachenden Kulturwelt aufrollt. Da er ohne Zweifel in späteren Zeiten als eine historische Persönlichkeit schwer definierbaren Charakters figurieren wird, ist es am Platz, diese seine desorganisatorische Tätigkeit in ihrem Werte für Russlands Zukunft einzuschätzen. Witte ist jedenfalls ein wesentliches Element der Revolution. Ist er aber auch ein Element, das zum Wiederaufbau Russlands verwendbar ist? Er konnte im Augenblick seiner Berufung in zwei ganz verschiedenen Haltungen seine Zarentreue beweisen. Er musste entweder den Ministerpräsidententitel mit allen ihm entsprechenden Funktionen annehmen, dem Zarentum ganz klar eine dem österreichischen christlichen Sozialismus ähnliche demagogische Färbung geben, alle bisherigen Stützen der Selbstherrschaft ohne weiteres fallen lassen mit Ausnahme einer einzigen, der politischen Unwissenheit der Volksmassen, diese aber bis zur äußersten Grenze ausnutzen, das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht nicht nur proklamieren, sondern sofort, bevor die politische Erziehung des Volkes sich entwickelt hätte, funktionieren lassen, mit Hilfe der persönlichen Autorität der Beamten und Priester auf dem platten Lande eine erdrückende, politisch total unfähige Mehrheit ins Parlament locken, mit ihrer Unterstützung alle fortschrittlichen Programme niederstimmen, und so den revolutionären Parteien und besonders dem Auslande beweisen, dass die selbstherrschaftliche Praxis, wenn auch die Theorie geopfert war, die einzige nach dem Volkswillen in Russland mögliche Staatsform wäre; wenigstens war dies zu versuchen, und jedenfalls wäre es die einzige erfolgversprechende Methode der Anwendung politischer Narkotika zur Aufrechterhaltung der Sache, wenn auch nicht des Wortes gewesen. Oder aber Witte musste den Ministerpräsidentenposten ausschlagen, und damit den Zaren zwingen, den Hauptwert seiner Politik nicht auf die Sache, sondern auf das Wort Autokratie zu legen, zunächst die Anerkennung des Prinzips von allen Untertanen mit Gewalt zu erzwingen, um dann das praktische Regierungssystem mit einigen technischen Verbesserungen nochmals auf die Theorie des Gottesgnadentums zu stützen; wenigstens wäre dies das einzige Mittel gewesen, das historische Zarentum zu retten.

Dass diese zweite, offen gegenrevolutionäre Methode nicht befolgt worden ist, muss jedenfalls daraus erklärt werden, dass ihre Erfolglosigkeit sogar in den Hofkreisen, welche den reaktionären Aufruhr vorbereitet hatten, als sicher angenommen wurde. Denn wenn diese auch die noch zur Verfügung stehenden Machtmittel der alten Ordnung zum Versuch der blutigen Unterdrückung des fortschrittlichen Ansturms zusammenraffen und in die Waagschale werfen wollten, so wagten sie doch nicht, alles in dem schrecklichen Würfelspiel des Bürgerkrieges auf einen Wurf zu setzen. Sie, die aus ausgezeichneten Informationsquellen zu schöpfen vermochten, hatten sich überzeugt, dass, wenn nicht die Zarenselbstherrschaft, so doch die Beamtenoligarchie, an der allein ihnen lag, jeden Boden im Volke, sogar bei der Bauernmasse, verloren hatte; sie wussten, dass die Volkswut eher den Zaren gegen die Beamten- und Höflingskaste, als diese gegen die Donnerkeile des Zaren verteidigen würde. Und unter diesen Umständen wäre die konsequente Durchführung der gegenrevolutionären Methode mit Selbstmord gleichbedeutend gewesen. Denn sie hätte gegen die Person des Zaren gerichtet werden müssen. Zum Leiter eines so tragischen Kampfes war eine im höchsten Grade nicht nur selbstbewusste, sondern vor allem selbständige, nervenstarke, mit eisernem Willen begabte Persönlichkeit nötig, ein Dschinghis-Chan, oder zum mindesten ein Napoleon. Eine jämmerlich schwache, willenlose Persönlichkeit, deren Selbstbewusstsein zur Karikatur, wenn nicht zum Größenwahn wird, deren Machtinstinkte nicht in großartigen Wogen schauerlich aber prachtvoll über die Völker dahinrollen, sondern listig in den Winkeln der Kaiserschlösser furchtsame Intrigen gegen ihre natürlichen Werkzeuge, die Staatsmänner und Höflinge, aushecken, eine Persönlichkeit, deren wesentlicher Charakterzug die Diagonale aus der Angst und der Bosheit ist, musste von jedem freudig im Prätorianerhandwerk Arbeitenden als Pfuscher, als oberstes Hindernis am Erfolge gebrandmarkt werden. Mit anderen Worten, in den Augen der überzeugten, opferbereiten Parteigänger der wirklichen Autokratie war Nikolaus II. das erste aus dem Wege zu räumende Taugenichts. Die Anwendung der brutalen gegenrevolutionären Methode hatte mit der Palastrevolution zu beginnen. Dass an sie gedacht worden ist, daraus hat die Hofpartei niemals Hehl gemacht. Kandidaten zum Prätorianerkaiserthron gab es nur zu viele. Wladimir, dessen vom Spiel-, Trink- und Liebesteufel geholter Verstand in der Zarenonkelhülle bloß die Physis des zeramüsierten Untermenschen gelassen hatte, kam kaum in Betracht. Dagegen wäre Alexander Michailowitsch, der Zarenschwager, vielleicht der rechte Mann gewesen. Jedoch war die Erinnerung an die abenteuerliche Staatsstreichvorbereitung des Generals Skobeleff im Jahre 1882 in allen Höflingsseelen so lebendig, dass auch einige nicht zur Dynastie gehörende Beamte an sich dachten. Wenn es Skobeleff fast gelungen wäre, sich mit Hilfe der Millionen des Hüttenbesitzers Malzeff und des Weihrauchtopfes des Erzbischofs von Wladimir auf dem Roten Platz zu Moskau vor seinen ihn abgöttisch verehrenden Truppen mitten im kaum von einigen Nihilisten gestörten sozialen Frieden zum Kaiser ausrufen zu lassen; wenn diese abenteuerliche Unternehmung so aussichtsvoll schien, dass man nach ihrer Entdeckung Skobeleff in Freiheit lassen und, um ihn los zu werden, bei einem wüsten Zechgelage vergiften musste, warum sollte dann nicht im Wirrwarr des Zusammenbruchs ein starker Mann aus dem Nichts als neuer Cäsar erstehen können? Der wahre Prätorianerkaiser wäre der vom Petersburger Generalgouverneur zum Majordomus aufgerückte Trepoff gewesen. Aber die Palastrevolution in ihrer gewöhnlichen brutalen Form war, wenn nicht materiell unmöglich, so doch moralisch zum Misserfolge verdammt. Um aus ihr die Regeneration der Selbstherrschaft zu entwickeln, hätten vor allen Dingen die Prätorianer ihrer eigenen Macht im Lande sicher sein müssen; aber das Heer, das zum großen Teil schon demokratisch gesinnt war, und aus bloßer Gewohnheit noch dem Zaren treu blieb, wäre offenbar für die Unterstützung eines Gegenzaren nicht zu haben gewesen: Dann schon lieber eine gründliche Revolution! wäre ihre Losung geworden. Und das schlimmste war, dass die allgemeine Erbitterung im Volke sich ja gar nicht gegen den Zaren persönlich richtete, sondern gerade gegen die, welche, nicht zufrieden ihn einstweilen in ihren Händen zu haben, ihn gern hätten verschwinden lassen mögen. Der Gedanke der Palastrevolution wurde fallen gelassen, und mit ihm notwendigerweise der Plan, mit eiserner Faust die empörten Millionen in den alten verbogenen Rahmen der Beamtenoligarchie wieder hineinzupressen. Es musste die eiserne Faust in einen Samthandschuh versteckt werden. Dieser Samthandschuh war Witte.


Dass dieser sonst durchaus nicht naive, ja in seiner Art als Staatengründer und Eroberer geradezu geniale Mann sich zum Ofenschirm zwischen dem Feuer der Reaktion und der an ihm zu bratenden Volksherde hergegeben hat, könnte wohl als Beweis seiner politischen Unfähigkeit aufgefasst werden. Aber es darf nicht das in allen Politikern bestimmend auftretende psychologische Moment des Willens zur Macht vergessen werden. In Politikerseelen findet die Klugheit nur einen Meister; und das ist der Wunsch zu regieren. Witte musste, wenn man seine Psychologie als einmal gegebenes Faktum hinnimmt, die ihm angebotene Rolle des „verantwortlichen" Leiters der Regierung annehmen — wenigstens auf dem Papiere. Aber es war von vornherein schon prinzipiell unmöglich, dass dieses Papier politische Wirklichkeit wurde. Er konnte auf keine Weise seine narkotische Methode dem Zaren als alleinseligmachenden Glauben ansuggerieren. Denn trotz aller Kombination zu friedfertiger Umgarnung des Volkswillens, blieb hinter ihm die eiserne Faust der blutigen Gegenrevolution versteckt. Er war im Grunde, trotz alles Wutgeschreis der Hofpartei, den Verteidigern der Theorie der Selbstherrschaft ins Garn gegangen. Denn diese hatte nicht auf ihre Pläne verzichtet, sondern sie nur unter eine andere Fahne gestellt. Es war nicht eine brutale, sondern — wenn man den Ministerpräsidenten als Verkörperung einer Politik der sich naiv gebenden List ansehen darf — eine wittische Palastrevolution ins Werk gesetzt. Der Zar war weder getötet noch vom Throne gestoßen, aber er war gefangen, geistig und körperlich der Prätorianerbande auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Er wurde — die spätere Geschichte wird dies Drama ins hellste Licht setzen — von seinen lieben Kerkerwächtern, den Großfürsten und dem um sie schwärmenden Geschmeiß, von dem zur Flucht nur zu leicht zu benutzenden Sommerpalast Peterhof, ins Innere des Landes, auf das von allem freien Verkehr abgeschnittene Zarskoje Sselo deportiert und dort festgehalten. Der die zu Hausmaierwichtigkeit angewachsene Palastkommandanten-, gleich Kerkermeisterwürde bekleidende General Trepoff setzte alsbald den zur Karikatur herabgesunkenen Selbstherrscher aller Reußen unter die gleichen Lebensregeln, die seit alters in Russland auf die politischen Gefangenen angewandt zu werden pflegen. Es wurde Seiner Majestät verboten, nicht für Höchtstdero Augen bestimmte Druck- oder Schriftsachen zu lesen, oder gar verdächtige Telefongespräche höchsteigenmündig zu führen. Das Telefon ging durch Trepoffs Kabinett, und die Zeitungen, Briefe und Bücher gleichfalls. Gespräche mit zur Audienz befohlenen, irgendwie verdächtigen Individuen, Ministern, Prinzen, Botschaftern, fanden nur in offener oder durch Türvorhänge schamhaft aber wie bei den Gasetoiletten orientalischer Tänzerinnen nur um so weniger verhüllter Gegenwart Allerhöchstdero Gängelbandführer statt. Und wenn ja einmal der großmächtige Kaiser und Herr bei solcher Gelegenheit in seiner ängstlichen Rede von dem ihm vorgeschriebenen Programme abgewichen war, so wurden die großen Scheuchen auf die Beine gebracht. Wladimir hielt ihm die Faust unter die Nase, Alexander murmelte von höherer Notwendigkeit das Schicksal der Dynastie fähigen Händen anzuvertrauen, Xenia warf ihm seine kindische Unerfahrenheit vor, und die ehrwürdige Kaiserinmutter machte ihn beim Diner vor dreißig Hofdamen und -Herren in an die selige Madame Kaudel gemahnenden Gardinenpredigten viertelstundenlang so jämmerlich herunter, dass der Monarch des weitesten Weltreichs vor Scham weinte, und die ehrfurchtsvolle Gesellschaft ihr alleruntertänigstes Hohnlachen mit in die Mäuler gestopften Servietten verbeißen musste . . .

Witte, der diese Umstände mindestens ebensowohl kannte wie Trepoff selbst, wusste von Anfang an, dass der Ministerpräsidententitel die Ministerpräsidentenmachtbefugnisse nicht verleihen konnte. Er wusste, dass er die zu Gunsten der Prätorianer erfolgte virtuelle Absetzung des Zaren zu decken, sich selbst in den Augen der Welt als Herrn des Kaisers hinstellen, aber die anderen als Herren des Kaisers wirtschaften lassen musste. Er wusste folglich, dass seine narkotische Methode nicht den Staat leiten, sondern nur die offen gegenrevolutionäre Leitung des Staates verdecken sollte. Er wusste, mit einem Worte, dass man ihn nötig hatte, nicht um das Staatsschiff ins ruhigere Fahrwasser der Parteipolitik zu lenken, sondern um mit seiner Augurenweisheit dem Volke weiszumachen, der Orkan des Bürgerkrieges sei ein ausgezeichneter Fahrwind auf dem Ozean des Fortschritts. —

Weil Witte alles dies wohl wusste, ließ er aus reiner, man möchte fast sagen physischer, Lust zu regieren, die beiden möglichen Methoden das Zarentum zu retten, fallen. Und wenn er nicht bewusst als Moltschanik handeln wollte, so hat er sich damit sein moralisches Todesurteil gesprochen. Einer seiner nonchalantesten Aphorismen, die er mit Überdieschulterwerfung brennender Zigaretten auf kostbare Teppiche zu begleiten pflegt, lautete — aber es war im Jahre 1904 — : „Wenn Mirabeau gelebt hätte, würde er Ludwig XVI. gerettet haben." Witte hatte sicherlich damals noch den Ehrgeiz, der russische Mirabeau .zu werden, der lange genug lebt, um selbst die neue Ordnung zu beherrschen. Und er definierte diesen Ehrgeiz genauer, indem er emphatisch erklärte : „Niemals werde ich die Regierung in die Hand nehmen, solange derartige (plehwesche) Regierungsmethoden Anwendung finden." Der Ehrgeiz fand wohl Befriedigung, aber die Aphorismen wurden vergessen; letzteres ist zweifelsohne bei jemandem entschuldbar, für den Seligkeit und Redseligkeit denselben Begriff ausmachen. Ob die Unterminierung der letzten Säulen des Zarentums seinen Ehrgeiz entschuldigen konnte, ist ebenso sicherlich von der Revolution und von der Gegenrevolution verschieden aufgefasst worden. Eines jedoch in dieser historischen Tragikomödie ist unbestreitbar: die ungeheuerliche Peripetie, die Witte, in dem Augenblick, als er zum Kapitel emporstieg, auch vom tarpejischen Felsen seines Willens zur Macht ins Nichts stürzte. Denn Witte wollte wirklich herrschen; einerlei wie, aber doch irgendwie. Er war innerlich felsenfest überzeugt, dass die virtuelle Palastrevolution, die in jenen Tagen vollführt wurde, notwendig zu seinen, und nicht zu Trepoffs, Alexanders oder Wladimirs Gunsten ausfallen müsste. Er war von Europens politischer Intrigenkunst zu dick übertüncht, als dass er nicht begriffen hätte, nur der würde dem Zaren und damit dem Reiche seinen Willen diktieren, der das Volk hinter sich hätte, oder doch wenigstens die gescheitesten, das heißt egoistischsten Volkstribunen. Trepoffs Hausmaiermacht ängstigte ihn nicht; die Zeiten Pipins des Kurzen sind vorbei; um eine Dynastie ins Kloster zu stecken, oder franko wie die russischen Spanferkel mit Eilzug über die deutsche Grenze zu senden, genüget kein Hausmaier mehr. Es gehört ein Reichs-, ein Volksmaier dazu. Und der glaubte Witte trotz seiner autokratischen Überzeugungen — die allerdings ihn selbst als Autokraten voraussetzten — wirklich zu sein. Er glaubte, seine narkotische Methode würde ihm die Donnerkeile der Volkserbitterung gegen die Prätorianerbande zur Verfügung stellen. Er glaubte, das Volk würde zunächst einmal die von ihm tatsächlich in furchtbarem Ringen um die hypnotische Gewalt über das kaiserliche Idiotengehirn erkämpften Minimalreformversprechen mit Freuden in Erwartung weiterer Neuerungen aufgreifen, ihn als Retter aus dem reaktionären Blutschwitzbad begrüßen, und ihm damit zum endgültigen Siege über die Kerkermeister des Zaren verhelfen.

Aber hier lag sein großer Rechenfehler. Das Volk, wie alle im zusammengehegelten Wahne des absoluten Rechtes schwelgenden spießbürgerlichen Gläuber, wollen, sobald sie von der immanenten Rechtmäßigkeit ihrer Forderung überzeugt sind, entweder alles oder nichts. Witte konnte ihnen nur das hypokritische Versprechen einer winzigen Teilzahlung geben. Er konnte nicht anders, selbst wenn er es — was nicht der Fall war — gewollt hätte. Denn nur um den Preis der praktischen Nichtigkeit seines Antrittsukases konnte er die Prätorianer für kurze Zeit entwaffnen. Um diesen Sündenlohn wurde zwischen Witte und den Kerkermeistern des Zaren ein Kuhhandel um den Zaren abgeschlossen, dessen Bedingungen, wie glücklicherweise auf allen Viehmärkten, die Kontrahenten zu betrogenen Betrügern machten. Witte verzichtete auf die Machtmittel militärischer, prätorianischer Natur, und begnügte sich mit den listigeren der lokalen Verwaltung.

So waren — und dies ist das Wesentliche an dem ganzen langen Todeskampfe des Zarentums — mit einem Schlage an der Stelle der einheitlichen Selbstherrschaft des Zaren zwei einander nach ihren Grundsätzen und Methoden, wenn nicht nach ihren Tendenzen, feindliche Regierungen geschaffen, von denen die eine über das Heer, die Flotte und die Diplomatie, die andere über die schon autoritätslos gewordene Zivilverwaltung verfügte. Diese Dualität der Selbstherrschaft seit dem 30. Oktober 1905, führt die alte Staatsordnung ins sichere Verderben, denn zwei Seelen wohnen, ach! in ihrer Brust. Alles was an wüster Inkoherenz, an toller Verwirrung, an abenteuerlicher Anarchie die russischen Behörden seit jenem kritischen Tage erster Ordnung unfreiwilligerweise, um alle andern historisch bekannten Revolutionen in den Schatten zu stellen, ans Licht gebracht hat, ist bloß die tausendfältige Wiederholung des anarchistischen Max- und Moritzstreiches, den Witte und Trepoff, im Wahne sich gegenseitig übers Ohr zu hauen, gemeinschaftlich ausgeheckt haben. Durch die Schuld der Prätorianer war ja die innere Lage des Reiches recht eigentlich zu der des Bürgerkrieges geworden. Das einzige der Regierung noch zu Gebote stehende unmittelbar wirkende Machtmittel war also das Heer. Es hatte an jedem Orte, zu jeder Stunde der Zivilverwaltung zu ihrer Gewalt zu verhelfen oder sie überhaupt zu ersetzen. Und das Heer blieb, von Witte ganz unabhängig, unter dem unmittelbaren Befehl der Prätorianer. Über die Hälfte des Reiches war im Belagerungszustand, und der in den Augen des Volks und der Welt verantwortliche Leiter der Regierung war ohne Macht, auch nur diesen Zustand zu billigen oder aufzuheben. Der Ministerpräsident erfuhr durch die Zeitung, dass die Prätorianer in Zarskoje Sselo über ganz Polen den Belagerungszustand verhängt hatten, gerade 48 Stunden nachdem er polnischen Delegierten erklärt hatte, nie würde er dies zulassen! Vier Stunden nach der Promulgierung seines Antrittsukases erhielten alle Militärgouverneure einen Prikas der Prätorianer, welcher besagte, das Volk solle nicht gehindert werden, seinen Unwillen über die reformatorischen Machenschaften öffentlich zu bezeigen! Und dieser Prikas, „strengst geheim", von dem fast niemals die Rede gewesen ist, war nicht einmal unmittelbar von der gegenrevolutionären Verschwörung verfasst, sondern von dem Verbrecher unterzeichnet, den Witte ganz speziell engagiert hatte, um sich gegen die prätorianischen Machenschaften zu sichern, um die Polizei, dieses furchtbare Henkerkorps, in seiner Gewalt zu haben, um nötigenfalls den Hofintrigen mit der ganzen Macht der alten plehweschen Verdächtigenschnüffelei entgegenzutreten. Witte war von der ersten Stunde von seinem Minister des Innern, dem alten Diebe, Erpresser, Hochstapler und Spitzel Durnowo, einem administrativen Exkrement Plehwes, verraten. Nach dem offenbaren Misstrauen des Volkes war dies der entscheidende Schlag, der Wittes Luftschloss in den Staub stürzte. Denn nun waren alle seine Anstrengungen, welcher Art sie auch sein mochten, zur gänzlichen Wirkungslosigkeit verurteilt.

Da über das ganze Reich mit Ausnahme weniger fast unbewohnter arktischer Gegenden der Belagerungszustand verhängt war, so entging die eigentliche Landesverwaltung den Zivilbeamten Wittes vollständig. In seinem Schacher um die Macht hatte er ja die Kontrolle des Heerwesens und der auswärtigen Politik um das Linsengericht des sinnlosen Präsidententitels verkauft. Und damit hatte er sich selbst verkauft. Seine von fremden Panegyrikern bis in den Himmel gehobene diplomatische Kunst ging mit Durnowos Verrat jammervoll in die Brüche. Militärdiktatur und Polizeidiktatur sind im Grunde dasselbe, und Durnowo, der beim Verschwinden seines Herrn und Meisters Plehwe von dem unbändigen Ehrgeiz ergriffen worden war, auf irgend eine Weise sein wirklicher Nachfolger zu werden, ging, da die Diktatur so wie so schon bestand, darauf aus, sich selbst zu ihrem Leiter zu machen. Psychologisch konnte er also gar nicht anders, als parallel mit der Prätorianerbande arbeiten, und Witte, der in seinem kindlichen Übermut auf jedes Verwaltungsportefeuille verzichtet hatte, mit seinem Titel, aber ohne jede Regierungsgewalt sitzen lassen. Es blieb dem großen Staatsmann bloß der traurige Ruhm, unerfüllbare Versprechen feierlich dem Volke vorgelogen und sein von den Prätorianern wie vom Volke mit gleichem Hohne abgelehntes Wahlgesetz ausgeklügelt zu haben. Was hatte das Zarentum damit gewonnen? Es hatte momentan den Willen gezeigt, aus Angst vorm Volke seine Kräfte zu zersplittern. Es hatte neben die Peitsche der Kosaken das Zuckerbrot der konstitutionellen Illusionen gestellt — und damit hatte es vor aller Augen, zum ersten Male in seiner Geschichte bewiesen, dass es nicht mehr wusste, was es wollte. Von nun an wusste das Volk, dass das Zarentum nicht mehr im stände war, einen konsequenten Kampf um seine Existenz zu führen, sondern von Tag zu Tag, von Fall zu Fall, von keiner leitenden Idee getragene Versuche machen würde, die schlimmsten Vorstöße der Revolution ohne Hoffnung auf dauernden Erfolg zurückzuschlagen.

Das war Wittes Werk. Seine narkotische Methode wurde, da er seine größten Machtmittel gegen den Grafen- und Präsidententitel verschachert hatte, nicht einmal probiert. Sie blieb in der Reserve, um zu Hilfe gerufen zu werden, wenn die Prätorianerwirtschaft am Bankrott angelangt wäre; gerade wie man zu Tode operierten Kranken schließlich eine tüchtige Dosis Morphin samt Atropin eingibt, damit sie sich nicht sterben fühlen . . .

Es ist unnötig, aus der Flutwelle der prätorianerterroristischen Gräuel, die auf Wittes Ernennung folgten, und unter dem Verwände, das Volk dem Witteschen Konstitutionalismus gefügig zu machen, die neronische Verfolgung auf die Urchristen des zwanzigsten Jahrhunderts, die Sozialisten, wiederholten, den faktischen Beweis für diese Sachlage abzuleiten. Die Ereignisse, da sie nun einmal von einzelnen Persönlichkeiten abhingen, konnten sich aus psychologischen Gründen gar nicht anders gestalten. Und daraus ist ein für Russlands Zukunft höchst wichtiger erster Schluss zu ziehen. Das Wittesche Regierungssystem ist so wenig ein möglicher Baustein zum neuen Staat, dass es sogar von seinen Erfindern nicht als Fundament des zukünftigen, sondern als fauler Verschlag um das zerfallende Gebäude angesehen wird.

Aber selbst wenn die Prätorianerdiktatur — von persönlicher Selbstherrschaft des Zaren kann offenbar so wenig mehr Rede sein wie in Rom nach den Antoninen — die Wittesche Methode der pseudokonstitutionellen Volksknebelung ernsthaft als ein äußerstes Rettungsmittel für den Fall einer alles zerreißenden Sturmflut revolutionären Aufstandes ansähe, wäre der Wittesche Ministerrat, das Wittesche Parlament, die Wittesche Bureaukratenroutine aus dem gesunden Material zum Wiederaufbau Russlands auszuscheiden. Sein Ministerrat, selbst wenn er vor einer wirklichen ehrlich gewählten Volksvertretung verantwortlich wäre, würde ja praktisch von der intakt gebliebenen kaiserlichen Militär- und Diplomatenmacht zur Arbeitslosigkeit und damit das Parlament selbst zum zwecklosen Kaffeeklatsch verurteilt bleiben. Sein bureaukratisches Verwaltungssystem würde, sogar wenn die Volksvertretung es kritisieren und kontrollieren wollte, im alten Gleise fortfahren, da die Beamtenernennung das Vorrecht derselben Oligarchen bleiben würde, welche die Diktatur der demokratischen Ordnung vorziehen, und die von der Opposition des Parlamentes ja noch viel weniger zu fürchten haben, als von der Erbitterung des aller, auch scheinbarer politischer Rechte beraubten Volkes. Sein Reichstag schließlich wäre nicht nur regierungs-, sondern auch beratungsunfähig; er würde überhaupt nur zusammentreten können, um sich aufzulösen, sich umzugestalten, oder den Bürgerkrieg, den er vermeiden soll, zu entfesseln. Dass nämlich kraft des auseinandergesetzten Wahlrechts bloß eine der Diktatur gefügige Mehrheit in dem Witteschen Parlamente sitzen kann, darf als zweifellos angesehen werden, um so mehr als die Regierung vorsichtigerweise in Anbetracht der überall eingerissenen Anarchie eine fatal niedrige Beschlussfähigkeitsziffer zu dekretieren nützlich fand, welche aus den "Wahlbezirken mit großem Zeitvorsprung nach Petersburg geschafft werden kann, deren politisches Leben „am wenigsten durch Unruhen getrübt ist", das heißt, nicht existiert, folglich sich durch die Entsendung bureaukratisch gesinnter Abgeordneten genügend ausdrückt. Eine derartige Volksvertretung hat vielleicht das Vertrauen der Prätorianer, aber sicherlich nicht das der Masse der Bevölkerung. Die große Frage ist unter solchen Umständen, ob diese das Wahlgesetz verdammende Bevölkerung sich ihm unterwerfen soll oder nicht. Die von vornherein praktisch nutzlose Wahlbeteiligung der Gegner der Selbstherrschaft bringt die ungeheure Gefahr mit sich, nicht nur das Zarentum vor dem die Geheimnisse der Witteschen Politik ungenügend kennenden Auslande zu stärken und ihm die Fähigkeit wieder zu verleihen, einige Anleihen zur Fortsetzung der alten Oligarchenwirtschaft aufzunehmen, sondern auch das Volk selbst über seine eigene Kraft irre zu führen, ihm, das den Wahlmechanismus schlecht versteht, geschickt die Überzeugung beiz abringen, die Mehrheit sei wirklich antidemokratisch gesinnt, und dadurch die jammervolle Riesenherde des Stimmviehs, das immer mit den Machthabern läuft, auf die Seite des unumschränkten Zarentums zurückzuleiten. In diesem Falle würde Russland das klägliche Beispiel Preußens nachahmen und die Aussicht gewinnen, dreivierteljahrhundertelang ruhig unter dem „erbärmlichsten aller Wahlsysteme" dahinzuvegetieren. Dass diese Gefahr theoretisch überhaupt geschaffen ist, war sicherlich vom Witteschen Standpunkte aus die wesentliche Tugend des Wahlgesetzes.

Aber zum Entsetzen der Prätorianer wurde diese Gefahr abgewendet, und zwar nicht durch die Tugend der freiheitlichen Theorie, sondern der Praxis. Die von Byzanz herübergeerbte Leidenschaft zum Theoretisieren ist ja die Todsünde der Russen, von der sie sogar das Fegefeuer der blutigsten Schreckensherrschaft nicht hat loskaufen können. Und die Theorie schien die Opposition in dieselbe Falle zu locken, in die Witte schon gefallen war. Es wurde, als wenn es nötig gewesen wäre, vor den Augen der verständnislosen Welt mit einem abenteuerlichen Aufwand von anderweitig viel nützlicher zu vergebender Kraft, das Problem der abstrakten Staatsphilosophie breitgetreten, ob die Opposition sich an den Wahlen beteiligen sollte, oder nicht. Niemand wollte begreifen, dass es darauf gar nicht ankam, sondern dass die zu lösende praktische Aufgabe mit dem Charakter des zu erwartenden Parlamentes gar nichts zu tun hatte. Das wesentliche war doch die von Witte herbeigewünschte Gefahr abzuwenden, dass der Reichstag wirklich im Volke als Volksvertretung aufgefasst würde. Und das konnte ebensowohl mittels der Wahlbeteiligung als mittels des Boykotts, des Wählerstreikes geschehen. Es musste ja nur bewiesen werden, dass das Wahlrecht ein reaktionäres Zuckerbrot bedeutete. Die Gegner der Wahlbeteiligung brauchten zu diesem Zwecke nur den Wählern auseinanderzusetzen, auf welche Weise sie um den ihnen gebührenden Einfluss betrogen waren, und so von vornherein das Parlament im Volke selbst zu diskreditieren. Die weniger radikalen Elemente, welche fester an den Eindruck parlamentarischer als revolutionärer Zwischenfälle glauben, durften wohl versuchen im Parlamente Stimmen zu gewinnen, mussten aber bei Eröffnung der Tagung von der Tribüne herab das Wahlrecht als Rettungsmittel der Reaktion und alle arbeitsfreudigen Abgeordneten als verkappte Helfershelfer der Prätorianer brandmarken, eine Motion zur Änderung des Wahlrechts einbringen, und wenn die Regierung nicht sofort kapitulierte, nach einer feierlichen Erklärung, sie seien außer Lage, nützlich am Volks Wohle zu arbeiten, die Versammlung verlassen. Eine derartige würdige, aber energische Haltung musste aufs Volk einen um so tieferen Eindruck machen, als sie gerade von den gemäßigten Konstitutionalisten einzunehmen war.

In einem Falle wie im anderen, mit oder ohne Wahlbeteiligung, konnte also dasselbe Ziel verfolgt werden: die Wittesche Duma zu sprengen und die Erbitterung des Volkes gegen die zu lange glücklich lavierenden Hochstapler des Zarentums bis zum Paroxysmus der offenen Revolution steigern. Diese Möglichkeit lag so klar, dass, wenn sie auch nicht den fruchtlosen Diskussionen der nach dem Vorbild der orthodoxen Sekten lächerlich zerklüfteten Parteien ein Ende zu setzen vermochte, diese doch durch die Lage der Dinge geradezu passiv auf ein und dasselbe Kampfgelände der praktischen Politik zusammengedrängt wurden.

Hatte nun das Wittesche System, das von den fortschrittlichen Parteien abgelehnt und von der Prätorianergruppe als Deckmantel gewaltsamer Unterdrückung der extremen Revolutionäre betrachtet wurde, außer Wittes persönlichem Willen und seinem Anhang von Strebern irgendwelche wirkliche moralische Machtmittel im Volke? Sicherlich keine großen. Wohl aber genügende, um eine reaktionäre Mehrheit im Parlamente zusammenzubringen. Die reine Prätorianerreaktion ist mit dem Wahlgesetz das exklusive Vorrecht der Hofpartei geworden. Denn außer diesen sind gerade die „feinen Leute" Gegner der Schreckensherrschaft und des Blutvergießens; sie haben zur ruhigen Einstreichung und Verzehrung ihrer Einkünfte Ruhe nötig, und da die Wittesche Ordnung eine reine Plutokratie darstellt, während die prätorianische, sogar wenn man an die Möglichkeit ihrer Dauer glaubt, bloß lange Jahre entsetzlicher Verwirrung verspricht, so sind alle Mitglieder der ersten Wählerkaste, obschon Gegner der Witteschen Wirtschaftspolitik, Anhänger seines pseudoparlamentarischen Systems. In derselben Geistesverfassung befinden sich die treuen Anhänger einer Reihe religiöser Sekten, die vom Plehweschen Zarentum höchst unchristlich verfolgt, aus Liebe zu ihrem Aberglauben sofort aus Verächtern der Staatsgewalt begeisterte Verteidiger geworden sind, als man ihre Zarentreue mit Freigabe ihrer harmlosen Kulte erschacherte; aber auch diese Rückschrittler wollen wie die Plutokraten wenigstens Ruhe und Ordnung in den Staatsgeschäften, Überwachung der bureaukratischen Verbrechergenossenschaft und Abschaffung des Beamtendespotismus. Dasselbe ist von einem verhältnismäßig großen Teile der Kleinbürgerschaft zu sagen, der Meschtschane, die zwar den „Schwarzen Scharen" liebevoll zu Hilfe eilten, solange sie überzeugt blieben, der gute Ton verlangte es, aber in ihrem alleinseligmachenden Glauben an den Zaren, ,,der alles am besten wissen muss, weil er ja dazu da ist'', ohne weiteres sich zu wahlfreudigem Stimmvieh entwickelten, sobald ein allerhöchster Ukas es ihnen gebot.

War aber auch auf die Zarentreue, die Wittetreue, die Harmlosigkeit derer zu rechnen, die wenn nicht im Parlamente, so doch im Volke die erdrückende Mehrheit bildeten: die Bauern? Nur Europa glaubte es; aber Witte selbst nicht. Denn sonst hätte er das allgemeine gleiche Wahlrecht dem Zaren als rettenden Floh ins Ohr gesetzt. Er wusste nur zu gut, dass man aus diesem Floh ebensogut wie aus einer Mücke einen Elefanten machen konnte, und vor der wütenden Bestie, die ihn mitsamt dem Zaren in Brei zusammenstampfen würde, empfand er ein erhebliches Unbehagen, so dass er gegen das Bauerngeziefer die rigoroseste Antisepsis in seinem Parlamente vorsah. Wenn in ganz Russland a priori, auf Geheiß Wittes — der Zar kommt ja nicht in Betracht — die Großgrundbesitzer die Bauern politisch zu Tode stimmen sollen, gerade wie in den Städten die „Herrschaften" mit zehnfacher Wahlmännerübermacht den Arbeitern einbläuen sollen, dass sie nicht existieren, so ist das der schärfste vom Zarentum selbst großmütig gelieferte Beweis, dass es mit der politischen ,,Zuverlässigkeit“ der Bauern aus ist.

Die reinen Prätorianer, welche ja nicht wie Witte im Trüben nach ihrem Machttalisman fischen, sondern im klaren roten Bürgerblut, rechnen wohl noch auf den Bauern, aber nicht weil er „zuverlässig" ist, sondern weil er wütend um sich schlägt und hübsche Blutvergießen aktiver oder passiver Natur auf Bestellung gratis zu liefern in der Lage ist. Dieser nicht caesaristische, sondern von Wittes politischem Sauerteig zur deutschkonservativen pseudozivilisierten Reaktion emporgedunsene Monarchismus hofft nicht einmal mehr, dass die Bauern Junker ins Parlament wählen würden. quae mutatio rerum! Und da dieser konstitutionelle Monarchismus, wenn überhaupt von der alten Beamtenoligarchie noch etwas zu retten ist, trotz des prätorianischen Übermuts, der ihn zur als Mumie auf die Welt gekommenen Missgeburt stempelt, die einzige faule Rettungsplanke des Zarentums bleibt, so hängt von seinen Machtmitteln das Schicksal der Revolution überhaupt ab. Diese sehr realen Machtmittel, die dem äußeren Anscheine nach der irrealen pseudo-konstitutionellen Monarchie noch zur Verfügung stehen, sind einige von denen, die auf jeden Fall in jedem Staatswesen, also auch im zukünftigen russischen, eine Rolle allerersten Ranges zu spielen haben. Diese noch offiziell zur Verteidigung des rohen konstitutionell verbastardierten Zarentums angewandten Mittel sind die Polizei, das Heer und die Finanzen; denn wenn man Wittes Staatsweisheit zur Norm nimmt, muss ja die vornehmste Säule der Selbstherrschaft, der Loyalismus der Bauern, als vom Bazillus der Neuerungssucht an ihrer Basis zerfressen angesehen werden.

Jedenfalls ist, ganz abgesehen von dem Schicksal des Witteschen Zwitterlings zwischen Prätorianertum und modernem Staatsleben, aus den Ereignissen des Winters 1905 — 1906 ein für Russlands Wiederaufbau höchst wichtiger zweiter Schluss zu ziehen: Das Zarentum findet im Volke selbst, soweit es nicht durch die Zwangsmittel des Geldes, der Polizei und des Heeres, als blöde Herde der Flut des Neuen entgegengeworfen wird, nicht mehr die gegenrevolutionären Kräfte, die ihm das Würfelspiel des offenen Entscheidungskampfes erlauben.

Folglich bleibt von aller offenen oder listigen Gegenrevolution überhaupt nichts mehr übrig, wenn diese drei Zwangsmittel ihren Dienst versagen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Wiederaufbau