Das Wahlgesetz

Die Einberufung der im Ukas vom 19. August 1905 versprochenen Gossudarstwennaja Duma unmöglich zu machen, musste im Prinzip wohl der Zweck aller zaristischen Politik sein. Aber in der Politik taugen leider Prinzipien nicht viel mehr als in der praktischen Lebensweisheit. Praktisch hätte die Reaktion auf sofortige Wahl und Einberufung der Duma dringen müssen. Denn das Wahlrecht, wie es promulgiert war, konnte ihr jahrelangen fruchtbaren Besitz absoluter Macht sichern. Es ist nämlich in der weit über die der preußischen hinausgehenden Erbärmlichkeit seiner wahnwitzigen Kontextur ein derartiger Hohn auf wirkliche Volksvertretung, dass es sogar mit dem Ergänzungsukase vom 24. Dezember, einem bloßen abenteuerlichen Produkte Wittescher Angst vor Absetzung und Volkswut zugleich, als Modell eines gegenrevolutionären Narkotikums anzusehen ist. Es ist als wirkliches, allerdings nicht mehr ehrliches, sondern hinterlistiges, reaktionäres Machtmittel, so charakteristisch, dass es, wenn es auch niemals zur Durchführung kommen sollte, ein historisches Denkmal russischer Staatsweisheit zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bleiben wird. Es ist so wundervoll gewoben — mit Absicht — dass seine eigenen Urheber, geschweige denn das mit ihm beschenkte Volk, es zu verstehen in der Lage sind. Um so notwendiger ist es, in diese fast unerforschte Dämmerung der politischen Natur mit der Laterne europäischen Menschenverstandes ein wenig hineinzuleuchten.

Nichts ist schwieriger, denn die konfusen Kommissionen die das Gesetz ausarbeiten sollten, haben nicht nur seinen Sinn nicht begriffen, sondern sie haben offenbar nicht einmal gewusst, was sie wollten. Und um dem Meisterwerk die Krone aufzusetzen, haben sie in ihrer Angst aus bloßer Kopflosigkeit die lächerlichsten Fehler begangen, wichtige Bestimmungen, die sie machen wollten, vergessen, andere getroffen, die gegenstandlos waren, und trotz zweimal zweimonatiger Anstrengung die beschlossenen Verfügungen nicht anständig in einen verständlichen Text nebeneinander anordnen können.


Der Grundgedanke des Gesetzes, soweit überhaupt von Gedanken in Beziehung auf es die Bede sein kann, ist der genaue Gegenpol des demokratischen Prinzips, nach welchem an und für sich die Rechte aller Menschen gleich sein sollen. Der Geist des altindischen Manu, der die Kastenfrage regelte, oder eher wohl die Erobererweisheit der mittelalterlichen Mongolen, scheint in die Köpfe der Gesetzgeber gefahren zu sein. Denn diese Herren (die sämtlich aus mehr oder weniger eingestehbaren Gründen erst vor relativ kurzer Zeit persönlich „geadelt" waren), konnten plötzlich eine Weltordnung nicht mehr begreifen, in der die feinen Leute nach ihrem individuellen Werte mit den gewöhnlichen Sterblichen verglichen werden dürfen. Das Wort Mensch ist nur ein leerer Schall; bloß der Klang des Rubels zeigt Vorhandensein von etwas Reellem an, folglich, da die Politik real sein sollte, musste nicht der Mensch, sondern der Rubel wählen. Aber sogar dieser wechselt seinen Wert mit seinem Besitzer. Nicht jeder Rubel also durfte gleich wählen. Denn es ist ja offenbar, dass seine Besitzer nach Gottes unerforschlichem Ratschluss verschieden geboren werden, verschieden nicht etwa nach Klugheit, Charakter oder Tatkraft, sondern nach den Zufällen ihrer Umgebung. Ein Idiot zum Beispiel — der Fall ist ja vorgekommen — kann im Kaiserpalast geboren und Zar werden, während ein Genie in der Bauernhütte zur Welt kommen kann. Darauf muss, nach uralter Weisheit, Rücksicht genommen werden. Nicht etwa so dass man das Genie auf den Thron und den Idioten auf den Kutscherbock des Mistwagens setzt, sondern umgekehrt, so, dass man den Idioten als Genie preist, weil er im Schloss gezeugt wurde, und das Genie zum Idioten stempelt, weil es Bauer ist. Diese „Korrektur" des unvernünftigen natürlichen Werdens, war die erhabenste Aufgabe der Wahlgesetzverfasser. Die Kasten mussten mit ihrer Hilfe fester als je abgegrenzt, und nicht vermischt werden. In Gegensatz zu allem nicht nur modernen, sondern ganz einfach naiv-logischen, auch dem unentwickelten Bauern sich aufdrängendem Denken, sollte der natürliche Aufschwall des Individualismus, der den Menschen nach sich und nicht nach seiner zufälligen Umgebung wertet, zurückgedämmt werden, und das in einem Gesellschaftsgebiete, wo von uralten Zeiten her, sogar in der Staatsverwaltung die Rolle des Einzelnen nur nach seinen persönlichen Fähigkeiten beurteilt und geschätzt worden war; in einem Lande, wo der albern zum Grafen aufgerückte Witte ein Eisenbahnkanzleisupernumerar, Plehwe ein Vatermörder und Dieb, unzählige Generäle, Krämersöhne, unzählige Professoren, Bauernlümmel, unzählige Minister und Günstlinge vom Sturmwind des Ehrgeizes aus niedrigstem gesellschaftlichen Range emporgerissene Schmierfinken und Flegel gewesen waren. Nichts ist grotesker, als gerade diejenigen den heftigsten Glauben an aufeinander nicht zu reduzierende Kasten gesetzgeberisch verwerten zu sehen, die einzig und allein ihre Titel erbetteln, ihr Vermögen zusammen stehlen, ihren Einfluss erkriechen konnten, weil diese Kasten nichts als Fiktionen sind.

Aber gerade deshalb wurden sie wahrscheinlich der grundlegenden politischen Reform als reale Basis untergeschoben. Denn wenn die listig ausgeklügelte Grundlage nicht hält, muss ja der ganze Bau zusammenstürzen. Und da die Gesetzgeber die überhaupt zu Worte kommen konnten, insbesondere moralisch faule Individuen wie Witte, Trepoff, Bulygin und andere auf dem Mist des Zarentums aufgeschossene Pilze, trotz aller lügnerischen Versicherungen gerade diesen Zusammenbruch, die Unmöglichkeit eine wirkliche Volksvertretung in die Wirklichkeit zu rufen, wollten, so wurde logischerweise zum Prinzip des Wahlgesetzes der Grundsatz erhoben, dass jede Kaste der Bevölkerung ein anderes Wahlsystem und zwar die genantesten gar keins erhalten sollten. Aber das war auch das einzige Logische an der ganzen Sysiphusarbeit, ein Gesetz zu schaffen, das seinem eigenen Ziele zuwiderläuft . . . .

Sobald das auf bloße soziologische Fiktionen gestützte Prinzip durch seine Anwendung auf die Wirklichkeit gesetzgeberische Tugenden entwickeln sollte, wurde die Logik zum witzlosen Possenspiel. Denn, wenn Russland auch noch kein europäischer Staat ist, so hat es doch die alte orientalische gesellschaftliche Gliederung so weit verloren, dass sein Volk nicht mehr nach religiösen oder „rassischen", sondern nur noch nach wirtschaftlichen Merkmalen in einigermaßen wohlbestimmbare Gruppen zerfällt. Wenn man vom moralischen und intellektuellen Werte der Individuen absieht — und da für ihn kein allgemeingültiger Maßstab gefunden ist, schalten ihn ja sogar die höchstentwickelten Völker als Grund politischer Rechte aus — so bleibt in Russland wie anderwärts eben als Wert des Individuums nur das übrig, was gerade nicht das Individuum selbst ist. Die Wahlrechtsauguren wussten dies sehr wohl. Sie wussten auch, dass der Kastenwert, nach welchem sie alles einrichten wollten, vor dem Geldwert des Individuums nicht mehr standhält. Und so mussten sie an ihr Kastenprinzip wirtschaftliche Korrektivprinzipien anhängen, die es zerfressen ohne ein anderes an die Stelle zu setzen. Gerade diese Bastardierung der Grundsätze zeigt am schönsten die absolute gesetzgeberische Unfähigkeit der Selbstmörder des Zarentums. Denn die einzige Entschuldigung jeglichen Gesetzes ist seine Gerechtigkeit, die Abwesenheit von Willkür, die Gleichheit seiner Anwendung auf alle, die sich in gleichen Umständen befinden. Und gerade dieses alleroberste Erfordernis gesetzgeberischen Erfolges wurde gänzlich außer acht gelassen, so zwar, dass sogar in derselben Kaste die Rechte willkürlich differenziert wurden, und als schließliches Ergebnis des Systems, jeder Bevölkerungsklasse verschiedene politische Rechte zu gewähren, praktisch die absolute Systemlosigkeit in die Erscheinung trat und mit ihr natürlich der Spott und die Unzufriedenheit aller.

Das ursprüngliche Wahlgesetz vom 19. Aug. 1905, beschränkte im Prinzip das Wahlrecht auf vier wirtschaftliche Gruppen, welche jede eine andere Kaste gleichsam in nuce vertreten sollten. Drei dieser Gruppen waren winzige Minoritäten in ihrer Kaste, und die vierte wurde durch besondere Maßnahmen elegant ihres Majoritätscharakters entledigt. Es waren 1. die Großgrundbesitzer, 2. die Großhändler und Großindustriellen, 3. die reichen Bürger, 4. die Bauern. Aber das Wahlrecht der Großgrundbesitzer wurde an ganz willkürlich festgesetzte Bedingungen geknüpft; ihr Immobiliarvermögen musste zwar sehr groß sein, aber seine Minimalgröße wurde für jeden Landbezirk ganz verschieden festgesetzt, sodass der Gutsbesitzer im Gouvernement Woronesch z. B. fünfundzwanzigmal mehr Boden besitzen muss, um wahlfähig zu werden, als in der Krim! Es wurden, mit anderen Worten, innerhalb der Kaste der Latifundienbesitzer schreiende Unterschiede auf wirtschaftlicher Basis geschaffen. Ebenso war es mit den Großhändlern, deren „Recht" je nach ihrem Erwerbszweige und Wohnorte von beliebig festgesetzten Minimalhöhen der erlegten Handelssteuer abhing. Noch unsinniger zeigte sich diese Willkür in der Definition der „reichen Bürger", welche auf der Höhe ihrer Wohnungsmiete beruhte, deren Minimum mit der „wirtschaftlichen und kulturellen Wichtigkeit der Städte" nicht etwa abnahm, sondern wuchs; so zwar dass in kleinen Städten ohne jedes intellektuelle Leben, ohne Handel und Industrie, alle möglichen in ihrer Vereinsamung sicher nicht zur höchsten Höhe individueller Entwicklung emporgestiegenen Gevattern Schuster, Schneider und Wucherer das Volk vertreten durften, während für Petersburg und Moskau der Mietszensus auf über 2.700 Mk. festgesetzt wurde, was geradezu ein Interdikt auf die führenden Geister Russlands bedeutete; bloß vier Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, nicht ein einziger aus wenig begüterter Familie stammender Hochschulprofessor, keine Gelehrten, keine Künstler, ganz wenige Modeärzte und -Advokaten, kein Schriftsteller, der aus eigener Kraft seine Existenz geschaffen, kurz nur Großkapitalisten irgend welchen Ursprungs wurden für würdig befunden mit dem Bauernwucherer aus Morschansk oder Kusnetzowo auf einer Stufe zu stehen. Was die Bauern betrifft, so hielt man — da man auf ihren staatserhaltenden Stumpfsinn bauen zu können glaubte, jeden für prinzipiell wahlfähig, aber nicht etwa zur Wahl von Parlamentsabgeordneten sondern von Ur-ur-urwählern, nach der Richtung, die die Knute des Landrats anzeigen sollte.

Das System war so albern, seine praktischen Konsequenzen schienen mit der Unterdrückung der politischen Rechte für die nicht reichen Gelehrten und die Arbeiter, die ganz vergessen waren, so kulturwidrig, dass sein reaktionärer Charakter sich jedem offenbarte, und Graf Witte, um Plehwes Schicksal zu vermeiden, genötigt war, Erweiterungen vorzuschlagen, die am 24. Dezember 1905, inmitten des revolutionären Aufstandes in Moskau promulgiert wurden. Sie sollten dem Volke demokratischen Sand in die Augen streuen; aber sie waren, obwohl unter dem moralischen Druck des General-Streiks vom November, des Moskauer Aufstands vom Dezember und der totalen Anarchie in den Provinzen beschlossen, bloß eine Wittesche, bureaukratische, listigere Interpretation der Grundsätze, die im Ukase vom August zutage getreten waren.

Es ist zur Charakteristik der historischen Persönlichkeit Wittes notwendig, festzustellen, dass dieser Politiker, obschon persönlich. Anhänger des allgemeinen direkten Wahlrechts, der erbittertste Gegner der radikalen Reform blieb, für welche im Ministerräte eine Majorität vorhanden war. Witte, welcher seine Adelung und seinen Ministerpräsidentenposten glaubte mit Übergang zu den reaktionären Theorien der Großfürstenclique bezahlen zu müssen, verwandelte unter dem machiavelischen Vorwande der Zurateziehung der öffentlichen Meinung mit Hilfe des listigen Zaren diese Majorität in eine Minderheit, um sein höfisches, bloß formale Erweiterungen vorsehendes Projekt durchzudrücken. Er ließ vom Zaren zu den Beratungen die folgenden nicht zum Ministerrat gehörigen Personen hinzuziehen: Obolenski, Ignatieff, Taganzeff, Ssaburoff, Bulygin, Trepoff, Bobrinski, Gutschkoff und Schipoff; außer den letzten zweien, welche als alte Slawophilen das zweistufige allgemeine Wahlrecht befürworteten, waren alle diese Vertreter der öffentlichen Meinung bloß Vertreter des zum Himmel oder zur Hölle bombardierten Geistes ihres früheren Meisters und Beschützers Sergius, Herren und Handlanger der korruptesten Beamtenwirtschaft. Einige besonders ,,feine“ Minister interessierten sich gar nicht für die Frage und straften sie mit Verachtung. In der entscheidenden Sitzung waren nur vierzehn Berater anwesend. Gutschkoff, Schipoff, der Vetter des letzteren als Finanzminister, und zwei andere, vertraten vergebens die Ansicht, nur eine Form des allgemeinen, gleichen, wenn auch nicht direkten Wahlrechts, könnte die hochgehenden Wogen der Volkswut besänftigen. Witte, nebst dem Minister des Innern, Durnowo, hielt zu den obengenannten ersten sieben, die an sich schon die Mehrheit besaßen. Er hatte den Höflings . . . mut, im Beisein des Zaren den „Demokraten" vorzuhalten, ihre Vorschläge stellten einen unehrerbietigen Widerstand gegen den Ukas vom 30. Oktober dar, welcher nicht nur ihn selbst zum Ministerpräsidenten gemacht, sondern auch das Wahlgesetz vom August als „unerschütterlichen kaiserlichen Willen" bestätigt hatte. Es waren dem Zaren zwei einander widersprechende Ukastexte vorgelegt, einer, der das zweistufige allgemeine Wahlrecht definierte, und ein anderer, der die Grundsätze des früheren Gesetzes festhielt. Der eitle Zar war von Wittes Gründen so geschmeichelt, dass er selbst die Ansichten der „Demokraten" für unehrerbietig hielt und Wittes Projekt unterzeichnete. Dieses wurde sofort, ohne weitere Durchsicht, veröffentlicht „um dadurch die Beruhigung des Volkes und der Gesellschaft zu erzielen." Aus dieser Hast seinen Sieg auszunutzen, erklären sich die höchst lächerlichen Redaktionsfehler des Gesetzes, und zugleich die durchaus allen Volkswünschen widersprechenden Tendenzen seiner „demokratischen Erweiterung."

Von den vier im Augustgesetz definierten Wählerklassen wurden zwei, die der Großhändler und der Stadtbürger, in eine zusammengefasst und eine neue hinzugefügt:, die der Arbeiter. Aber — und nichts ist charakteristischer für die Sorgfalt, mit der das Verfassungsgesetz ausgearbeitet war — es war vollständig vergessen worden, für diese Klasse, wie für die anderen, ein Minimalalter der Wähler vorzuschreiben, sodass nach dem Buchstaben des Ukases alle Arbeiter wahlberechtigt sind — und das Fabrikgesetz gestattet die Einstellung von Arbeitern von zwölf Jahren an!

Die anderen Klassen wurden „erweitert", so dass nominell alle Grundbesitzer, alle Geschäftsinhaber und alle selbständigen Mieter von Stadtwohnungen Wähler darstellen. Aber diese demokratische Erweiterung ist papieren wie die Begeisterung moderner Ästheten. Denn die Grundsätze des Augustgesetzes, oder vielmehr die Grundsatzlosigkeit des Durcheinanderwerfens von Kasten- und Geldrecht, wurde in so ungeheuerlichem Maße zugleich „erweitert", dass schließlich noch eine autokratische Zurückschraubung der ganzen offiziellen Wahlrechtsinitiative offenbar wurde.

Diese wurde äußerst geschickt mit Hilfe von vier den allererbärmlichsten europäischen Wahlordnungen früherer Zeiten entlehnten Knebelungsmitteln erreicht. Sie können bezeichnet werden als: Kastenwahl, Lokal- und Kastenbeschränkung des passiven Wahlrechts, Mehrstufigkeit und Pluralwahl.

Das System der Kastenwahl will, dass jede Bevölkerungsklasse, je nach ihrer „Wichtigkeit", im Grunde je nach ihrer mutmaßlichen reaktionären Gesinnungstüchtigkeit, ein besonderes Wahlrecht erhält.

Die vornehmste Klasse ist die der Grundbesitzer (mit Ausnahme der Bauern). Sie zerfällt in zwei Gruppen, Groß- und mittlere Grundbesitzer. Für jeden Bezirk ist willkürlich das Minimalmaß des Großgrundbesitzes festgesetzt. In Jalta beläuft es sich auf 27 Hektar. In Tula auf 300, in Wiatka auf 500, und so fort. „Mittlere" Grundbesitzer sind alle, die mindestens ein Zehntel des für den Bezirk festgesetzten minimalen Großgrundbesitzes ihr eigen nennen. Alle anderen sind Bauern und gehören zu einer anderen Kaste. Die „Mittleren'' wählen aus ihrer Gruppe je einen Delegierten auf je einen durch Zusammenlegen ihres Besitzes erhaltenen Minimalgroßgrundbesitz. Dieselbe Regel gilt für die Geistlichen, welche der Kirche gehörigen Boden besitzen. Diese Delegierten stellen virtuelle Großgrundbesitzer dar. Sie treten mit den wirklichen Großgrundbesitzern zur Wahlversammlung zusammen, und wählen aus ihrer Mitte Wahlmänner. Die Großgrundbesitzer sind also Urwähler, die ,, Mittleren'' bloß Ururwähler. Sogar die am freundlichsten behandelte Kaste wählt demnach in drei Stufen!

Die zweite Klasse, die der Stadtbürger, ist in dieser Hinsicht bessergestellt. Sie wählt ihre Wahlmänner direkt. Leider ist jedoch die Zahl der letzteren ganz willkürlich für jede Stadt festgesetzt. Die Klasse umfasst offiziell ,,alle Stadtbürger mit Ausnahme der Arbeiter/' Aber was ist ein Arbeiter? Ein Paria, wie man sehen wird. Die Bürgerkaste begreift nämlich nur drei Gruppen, erstens die Inhaber von Handels- und Industrie-Unternehmungen, zweitens die Wohnungsmieter und die Angestellten von staatlichen Instituten oder Gesellschaften (also nicht von individuellen Arbeitgebern, Handwerkern usw.), drittens die Inhaber und Angestellten (unter denselben Bedingungen), die auf dem Lande wohnen. Die letzteren wählen in der Bezirksstadt, was im Großen und Ganzen materiell unmöglich ist.

Viel schlimmere Unmöglichkeiten noch hindern die Arbeiterklasse an der Ausübung ihres Rechtes. Denn Arbeiter ist nur, wer wirklich in einer Fabrik tätig ist, die mindestens fünfzig Arbeiter zur Zeit der Wahl beschäftigt. Hier leuchtet Wittes Weisheit im schönsten Lichte. Da die Arbeiter, die keine festgemietete Wohnung besitzen und auch nicht als ,,Angestellte“ (mit Monatsgehalt) von Gesellschaften oder Staatsunternehmungen gelten können, ja keine „Bürger“ der zweiten Klasse sind, so . . . haben sie überhaupt kein Wahlrecht, wenn ihre Fabrik etwa gerade bloß 49 Arbeiter beschäftigt. Ja, ist eine Fabrik zur Zeit der Wahl geschlossen, so verlieren ihre Arbeiter das Wahlrecht, wobei es ganz gleichgültig ist, ob die Schließung eine Folge vom Streik, von Feuersbrunst, Reparaturen oder dem sie volo sie jubeo der Besitzer ist! Gleichgültig ist natürlich auch, ob sie seit zehn Jahren, oder gerade nur am Wahltage geschlossen ist. Herrlich! Die Regierung braucht den industriellen Riesenunternehmungen, mit deren sämtlichen Leitern sie in engsten Beziehungen steht, nur rechtzeitig die Idee eines lock out als Floh ins Ohr zu setzen, und die Zarentreue wächst in den Wahlergebnissen im selben Maße, wie die Stimmen der nicht arbeitenden Arbeiter ungültig werden. Ein Meisterzug zaristischer Schachkunst wäre es, die Wahlen auf Sonntage zu verlegen, an denen höchstens die Heizer und Hochofenbediener arbeiten, und nun nach dem Buchstaben des Gesetzes alle Arbeiter als nicht wahlberechtigt abzuweisen. Es versteht sich von selbst, dass Subjekte, die sowieso arbeitslos sind und hungern, einen derartigen Grad moralischer Ekelhaftigkeit an den Tag legen, dass sie von vornherein politisch rechtlos sind. Arbeiter, die das Glück genießen, mehr als 49 zusammen in einer Fabrik ihren echtrussischen Hungerlohn zu erschwitzen; die, wenn sie mehr sind, nicht gerade durch Krankheit oder Entlassung von Kameraden auf 49 reduziert und rechtlos gemacht werden; deren Besitzer sie nicht in den Ausstand jagt, nicht gerade die Kessel reinigen, nicht gerade ein Inventar aufnehmen lässt, nicht seine Gebäude ansteckt — solche Glücklichen dürfen endlich wählen; keine Abgeordneten natürlich, sondern Ururwähler, und zwar in jeder Fabrik einen Arbeiter dieser Fabrik auf tausend. Fünfzig also wählen einen; 999 nebenan desgleichen. Und diese Übung wird natürlich von den Oberarbeitern, Aufsehern, Angestellten, Besitzern mit Liebe, wenn nicht mit Drohungen, geleitet. Alle schön ordentlich unter dem Druck ihrer Arbeitgeber gewählten Ururwähler eines Bezirks wählen Urwähler, und zwar notwendig aus ihrer Mitte. Selbstverständlich ist die Zahl dieser Wahlmänner von der Regierung mit aller nur wünschenswerten Subtilität bestimmt. In diesem Sublimationsverfahren verduften die 300.000 Petersburger Arbeiter zu . . . 24 Urwählern, welche, ebenso wie ihre Wähler, wirtschaftlich und polizeilich verloren sind, wenn sie höchst skandalöser Weise etwa „unrussische“ Tendenzen unverschämt auf ihre Parteifahne schreiben wollten. Die vierte Kaste, die der Bauern, ist die einzige, innerhalb welcher wenigstens dem Buchstaben des Gesetzes nach gleiches Recht für alle gilt; sie sind ja in den Augen der Machthaber alle gleich „untermenschlich", aber gerade deshalb auch alle gleich zarentreu. Nichts ist rührender als die Auffassung vom Zarentum, die die Gesetzgeber in ihrer Fixierung des Bauernwahlrechts ans Licht sickern lassen: der Bauer ist eine Art Haustier der Dynastie und die Leithammel seiner verschiedenen Herden sollen als Lastvieh oder Karyatiden auf dem Bilde des Staates den Thron stützen. Selbstverständlich ist nicht jeder Bauer Ur-ur-ur-urwähler, sondern nach der vom Zarentum der Bauernkaste aufgezwungenen „patriarchalischen", in Wirklichkeit despotischen Familienordnung, bloß das „Familienhaupt". Es wird an anderer Stelle gezeigt werden, dass die Regierung die Zahl der Familienhäupter durch administrative Gewaltmittel möglichst niedrig erhält, so zwar, dass die Gründung einer Familie durch Heirat und Zeugung von Kindern den Mann durchaus nicht zum Familienvater macht; die Behörden verweigern nämlich mit Vorliebe die staatliche Bestätigung der Aufteilung des Familienbesitzes, welche nötig ist, wenn ein junger Mann sich selbständig machen will. Die vom Staate als solche anerkannte Familie besteht daher meistens aus einer ganzen Horde von Blutsverwandten, wie bei den Mongolen; Vater, Brüder, Neffen, Schwäger, Enkel, manchmal Dutzende erwachsener Männer, die Frau und Kind haben, sind familienrechtlich persönlichkeitslos, sie unterstehen der despotischen Gewalt des Familienhauptes und bloß dieses hat politische Rechte. Sie wählen in der Dorfversammlung auf zehn von ihnen aus ihrer Mitte ein Mitglied der Wolost (Distrikt) -Versammlung. Jede Wolostversammlung wählt aus ihrer Mitte zwei Delegierte, wobei wohlweise natürlich gar keine Rücksicht auf die ungeheuerlichen Unterschiede in dem Umfang der Woloste genommen wird; sodass hier tausend, dort zwanzigtausend Familienhäupter dieselbe Wahlkraft besitzen. (Es ist zu bemerken, dass diese Anordnung ein Abklatsch der blödsinnigen deutschen Wahlkreisumgrenzung ist.) Die je zwei Delegierten der Woloste versammeln sich und wählen schließlich eine von der Regierung höchst zweckentsprechend, aber ganz willkürlich festgesetzte Zahl von Urwählern.

Um den Kastencharakter der Wahlen durchaus rein zu erhalten, ist die von jeder Klasse zu wählende Anzahl der Wahlmänner willkürlich nach dem Grundsatze bestimmt, dass die je nach der Örtlichkeit für die rückschrittlichst gehaltene Kaste bei der Hauptwahl ganz allein schon über die Majorität der Wahlmänner verfügt, während alle anderen Klassen von vornherein zur Ohnmacht verurteilt, ihre politischen Rechte hinterlistig zerstört sind. (Es ist zu bemerken, dass für diese im höchsten Grade unehrliche autokratistiche Maßregel das Beispiel des jämmerlichen preußischen Wahlrechts bestimmend gewesen ist.) Die Hauptwahlen werden n?mlich von den Wahlmännern aller vier Kasten vorgenommen und zwar nach dem Prinzip der Listenwahl, welches unter diesen Umständen ein weiteres Attentat auf die Volksrechte darstellt. Die Wahlmännerversammlung findet in den Gouvernementshauptstädten statt; sie schickt definitiv — aus ihrer Mitte — nicht einen, sondern alle Abgeordneten des ganzen Gouvernements in die „Duma", die es der Anstand verbietet ein Parlament zu nennen. Was dem ganzen System die Krone aufsetzt, ist die willkürliche Bestimmung der Zahl der für jedes Gouvernement zu wählenden Abgeordneten, so zwar, dass die als zarentreu angesehenen Gegenden verhältnismäßig viel reichlicher vertreten sind, als die „unsicheren".

                                    (Fortsetzung)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Wiederaufbau
Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

alle Kapitel sehen