Über die kleinrussische Frage

Nun möchte ich noch über eine Frage sprechen, die bei uns während des Krieges erst eigentlich weiten Kreisen bekannt geworden ist, die lebhaft die Gemüter erregt und zu weitgehenden Hoffnungen für unsere Sache im Kampf mit Russland Anlass gibt: über die kleinrussische Frage. Auf dem weiten russischen Gebiet gibt es in der Sprache gewisse Dialektunterschiede. Aber wie überhaupt die slawischen Sprachen in ihrer Entwicklung sich nicht so weit von einander entfernt haben wie etwa die germanischen, so sind auch die Abweichungen innerhalb der russischen Sprachfamilie im Ganzen nicht so sehr groß. Das gilt besonders, wenn man sie an dem großen Raume misst, über den sich die russischen Sprachen ausdehnen. Und was bei den slawischen Sprachen im allgemeinen auffällt, die große Gemeinsamkeit im Wortschatz, wiederholt sich auch hier. Die nahe Verwandtschaft der russischen Dialekte beruht mit in erster Linie darauf, dass sie im Wortvorrat sehr weitgehend übereinstimmen. Bei den russischen Dialekten kann das zum Teil damit zusammenhängen, dass die Russen großenteils auf nicht sehr altem und weit ausgedehntem Kolonialgebiet wohnen. Auf der ungeheuren Fläche, auf der neben dem Russischen viele andere Sprachen gesprochen wurden, war das Russische für die teilweise weit zerstreut lebenden Angehörigen der russischen Sprachgemeinschaft das einzige Verständigungsmittel. Da wirkte das Bedürfnis, einander verständlich zu bleiben, dahin, dass sich keine allzu großen Verschiedenheiten herausbildeten.

Hauptsächlich sind nun drei Dialekte zu unterscheiden: Großrussisch, Kleinrussisch und Weißrussisch. Wie alt die Spaltung in diese Dialekte ist, ist schwer zu sagen. Die ältesten Denkmäler der Kleinrussen, die wir haben, stammen aus den Jahren 1073 und 1076, die der Großrussen etwa aus derselben Zeit. Die Weißrussen sitzen östlich von Livland, Kurland, Litauen und dem nördlichen Polen bis etwas über den Dnjepr, südlich begrenzt von den Kleinrussen. Sie bewohnen die Gouvernements Wilna, Minsk und Grodno, sowie die angrenzenden Gebiete von Witebsk, Smolensk und Mogilew. Die Kleinrussen wohnen nördlich bis zu einer Linie, die an den Karpaten südwestlich von Lemberg beginnend bis zum großen Knie des Bugs geht, von da südöstlich bis an den Don, den Don abwärts bis ans Meer, dann westlich der Küste folgend, mit Ausschluss des südlichen Teiles der Krim und des Tatarengebiets bis an den Pruth und diesen Fluss aufwärts bis zu den Karpaten. Außerhalb Russlands gibt es in Ostgalizien, der nordwestlichen Bukowina und dem nordöstlichen Ungarn etwa 4.200.000 Kleinrussen, über die wir hier nicht weiter zu sprechen haben. Innerhalb Russlands umfasst das Gebiet die Gouvernements Wolhynien und Podolien, dann die eigentliche Ukraine, die Gouvernements Kiew, Tschernigow, Poltawa und Charkow; ferner in Süd oder Neu-Russland, dem Kolonialgebiet, zu dem auch Charkow großenteils gehört, und das erst vom siebzehnten Jahrhundert ab Türken und Tataren entrissen wurde, zum größten Teil erst seit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts zu Russland gekommen ist, Cherson, Taurien und Jekaterinoslaw. In diesen Gouvernements machen die Kleinrussen nach der Zählung der Nationalitäten vom Jahre 1897 in Wolhynien 70% der Bevölkerung aus, in Podolien 80%, in Kiew 79%, in Tschernigow 80%, in Poltawa 98%, in Charkow 70%, in Cherson 54%, in Taurien 42%, in Jekaterinoslaw 69%. Sie sitzen ferner im südlichen Gebiet des Gouverments Woronesh, wo sie etwa ein Drittel, im westlichen Teil des Don-Gebietes, wo sie etwas weniger als ein Drittel der ER Re Einwohnerzahl bilden, und sind mit nicht unbedeutenden Minoritäten in Kursk in dessen südlichem Teil und in Bessarabien im Nordwesten und Südosten vertreten. Im Kubangebiet erreichen sie wieder 41%. Was sich sonst noch in anderen Gouvernements an kleinrussischen Minderheiten findet, kann hier außer Betracht bleiben. Die Gesamtzahl ward 1897 auf 22,4 Millionen angegeben, die sich entsprechend der allgemeinen Bevölkerungszunahme vermehrt hat. Man schätzt sie heute auf 32—34 Millionen. Die Minorität in den Kernlanden Kleinrusslands setzt sich zusammen in erster Linie aus Großrussen und Juden, in zweiter aus Polen und Deutschen. Andere Völker brauchen hier nicht erwähnt zu werden. Die Kleinrussen sind vor allem Bauern und ländliche Arbeiter. In den Städten treten sie mehr zurück und sind überhaupt in der Oberschicht nicht sehr stark vertreten. Der Großgrund besitz ist im Westen hauptsächlich in den Händen der Polen, sonst gehört er vor allem den Russen. Nur im Gouvernement Tschernigow ist der größte Teil der Großgrundbesitzer kleinrussisch.


Über die verschiedenen Namen, mit denen dieser Stamm bezeichnet wird, erhitzen sich die Geister sehr. Der Tatbestand ist folgender: ursprünglich heißen alle die Ostslawen, die im Reich der Ruriks vereint sind, Russen. Diesen Namen haben die Österreichischen Kleinrussen festgehalten. Die Bezeichnung „Kleinrussen“ stammt von der geographischen Benennung Russia minor, womit man zuerst im vierzehnten Jahrhundert den westlichen Teil des Gebiets bezeichnet hat. Der Name „Ukraine“ bedeutet Grenzland, Marken, was an der Grenze liegt; es steckt darin dasselbe Wort wie in Krain und Kraina, dem nordöstlichen Teil von Serbien. Seit dem sechzehnten Jahrhundert wird er speziell auf das Gebiet am mittleren Dnjepr angewandt, wo die Grenze zwischen der von Tataren beherrschten Steppe und dem litauischen-polnischen Reich lag. In Österreich sagt man auch Ruthenen, das ist eine im Mittelalter aufgekommene Nebenform von „Russen“. Die Kleinrussen selbst nennen sich gern Ukrainer (viersilbig zu sprechen), in Anknüpfung an historische Traditionen.

Kleinrussland ist wirtschaftlich von sehr großer Bedeutung für Russland. Es besitzt mit den fruchtbarsten Boden im ganzen Russischen Reich. Der Boden wird in den Gouvernements Kiew, Tschernigow, Charkow, Poltawa, Wolhynien und Podolien durch die außerordentlich fruchtbare Schwarzerde gebildet. Diese Schwarzerde erstreckt sich etwa in derselben geographischen Breite sehr weit östlich von diesem Gebiet, aber das Klima ist für die Landwirtschaft wohl kaum irgendwo so günstig wie in diesem westlichen Teil der Schwarzerde. Es wachsen auf ihm große Massen besonders von Weizen und Zuckerrüben. Daran schließt sich im Süden, also in den Gouvernements Cherson, Taurien, Jekaterinoslaw, dem Don-Gebiet und Bessarabien, ein Boden, der nicht mehr eigentliche Schwarz erde enthält — wir befinden uns auf der Steppe —, aber doch noch sehr ertragreich ist. Diese ganzen Gegenden Kleinrusslands aber sind es, aus denen Russland vor allem die Unmasse von Getreide ausführt, sie bilden sein Hauptexportgebiet. Den was sich in Russland nördlich von der Schwarzerde ausdehnt, kommt für Getreideausfuhr nicht in Frage, im Gegenteil, es braucht Zuschuss aus dem Süden. Selbst Polen und Litauen sind in einem Teil ihres Getreides auf Kleinrussland angewiesen. Über ein Drittel der Gesamtproduktion Russlands an Weizen, Roggen und Gerste stammt aus Kleinrussland, dessen Ernteertrag schon jetzt drei Vierteln der Ernte aus Deutschland gleichkommt. Dabei ist es außer Zweifel, dass dieser Boden bei rationeller, moderner Wirtschaftsweise noch beträchtlich mehr hergeben wird. Auch die Viehzucht ist hier sehr bedeutend, spielt aber für die Ausfuhr, wie überhaupt die russische Viehzucht, keine große Rolle. Man kann aber getrost behaupten, dass für die Volkswirtschaft des heute noch vorwiegend agrarischen Russlands Kleinrussland mit das wichtigste Gebiet ist. Man bedenke, dass im Jahre 1910 zwei Drittel der Gesamtausfuhr des Reiches in Lebensmitteln bestand, dass davon auf Getreide, besonders auf Weizen und Gerste, bei weitem der größte Teil entfiel.

Nicht so zentral ist die Stellung Kleinrusslands in der russischen Industrie. An dem wichtigsten Industriezweig, dem Textilgewerbe, hat es einen verschwindend kleinen An teil. Aber auch hier gibt es sehr wichtige Produktionsarten, die hauptsächlich in Kleinrussland ihre Stätte haben. Über 80% der russischen Zuckerrüben wachsen in Kleinrussland, besonders in den Gouvernements Podolien, Kiew und Charkow. Dabei ist zu bedenken, dass die Zuckererzeugung Russlands von Jahr zu Jahr bedeutender wird und die deutsche Zuckerproduktion schon jetzt fast erreicht. Die Metallindustrie ist im Süden, in Neurussland, stark vertreten. Roheisen wird gewonnen im Gouvernement Cherson in Kriwoj Rog und im Donezrevier, das sich auf dem rechten Ufer des Donez vom Südwesten von Charkow durch die östlichen Teile von Jekaterinoslaw und die südwestlichen Teile des Don-Gebietes bis zur Mündung des Donez in den Don erstreckt, also durch Landstriche, die vor allem Kleinrussen bewohnen. Mit 64% der Gesamtförderung im Jahre 1907 steht diese Gegend im Reiche durchaus an erster Stelle. Ebenso liefert das Donez Revier den bei weitem größten Teil der Steinkohlen im Russischen Reich, 1907 waren es 70% der Gesamtförderung, 99% der Koks- und Anthrazitproduktion Russlands werden hier gewonnen. Allerdings geht diese hervorragende Stellung des Donez-Gebiets für Eisen und Steinkohle auf die sehr starke Förderung des Bergbaus dieser Gegend durch den Staat unter dem Grafen Witte zurück, wodurch die Eisengewinnung am Ural zurückgedrängt ist.

Kleinrussland bildet also wirtschaftlich ein außerordentlich wichtiges Glied am Gesamtkörper des großen Russlands.

Betrachten wir nun die Geschichte dieser kleinrussischen Landschaften. Es ist das Gebiet, in dem Kiew liegt, das stolze Kiew, der Mittelpunkt des alten russischen Reiches. Aber nichts ist verfehlter, als dies Reich deswegen kleinrussisch zu nennen. Denn seitdem die Ruriks in Kiew herrschen, gehören zu ihrem Besitztum weite Strecken großrussischen Landes sowie Weißrussland. Dabei ist zu beachten, dass die großrussische und kleinrussische Sprache in dieser Zeit jedenfalls sich noch viel näherstanden als später, wo in den kleinrussischen Wortschatz viele polnische Wörter aufgenommen sind. In der nun folgenden Zeit der Teilfürsten von der Mitte des elften Jahrhunderts an behielt zwar zuerst Kiew als Sitz des Großfürsten den Vorrang, aber Kleinrussland war nicht etwa in einem dieser Fürstentümer geeint. Vielmehr finden wir gleich zu Beginn der Periode einen Fürsten in Tschernigow, einen in Perejaslawl, einen in Wladimir in Wolhynien. Damals saßen auf den Steppen südlich der Gouvernements Podolien, Kiew und Poltawa nichtslawische Völker wie die oben erwähnten Petschenegen, die Torken usw. Seit dem Ende des elften Jahrhunderts vermischen sich diese zum Teil mit den benachbarten Slawen, also grade mit kleinrussischen Elementen, besonders an den Grenzen. Man kann also wirklich nicht behaupten, dass die Kleinrussen den alten Slawentypus rein vertreten, weil sie den ältesten Sitzen der noch geeinten Slawen, bis zu denen wir zurückkommen, näher geblieben sind als die Großrussen.

Zur Zeit der Tatareneinfälle, um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, hat dann Daniel, Fürst von Halicz d. h. dem östlichen, ruthenischen Teil Galiziens, und von Wolhynien, Kiew erobert. So hat er große Teile von Südrussland in seiner Hand vereinigt, aber trotzdem nicht etwa alle Kleinrussen beherrscht. Sein Reich fiel nach seinem Tode wieder auseinander. Im vierzehnten Jahrhundert dehnen die Litauer von ihren Sitzen an der Ostsee ihre Herrschaft weit nach Süden aus und fügen so ihrem Reiche Weißrussland, Kleinrussland und den an Smolensk und Mogilew angrenzenden Teil Großrusslands ein. Zwei Drittel ihrer Untertanen waren Russen. In der Zeit also, in der der größte Teil der Großrussen allmählich von Moskau aus zusammengefasst wird, sind die Kleinrussen in einem Reich vereinigt, aber unter fremder Herrschaft. Bedeutungsvoll genug ist diese staatliche Scheidung geworden. Nicht nur war das Großfürstentum Litauen frei von der Oberhoheit der Tataren, die zweifellos auf das moskowitische Russland, wie oben bemerkt, demoralisierend wirkte. Kleinrussland war so dem Westen und den von dort ausgehenden kulturellen Einflüssen ganz anders zugänglich, als wenn sein Schicksal mit dem noch halb barbarischen Moskau verbunden geblieben wäre. Es entwickelte sich unter günstigeren Bedingungen, als Großrussland, das umgekehrt infolge der Abtrennung des Westens kulturell wenig vorankam. Zwar übernahmen zuerst die noch recht barbarischen Litauer vielfach von ihren Untertanen russische Sprache und die griechisch-katholische Religion. Aber seit 1386, seitdem durch die Heirat des litauischen Großfürsten Jagiello mit Hedwig, der Königin von Polen, die Geschicke Litauens und Polens für lange Zeit aneinander gekettet waren, wurde polnischer Einfluss in den vereinigten Ländern maßgebend. E?st recht ward dieser verstärkt, als auf dem Reichstag von Lublin 1569 die endgültige Vereinigung von Polen und Litauen unter dem polnischen Könige Sigismund II. vollzogen ward. Bei der administrativen Teilung des Reiches ward Kleinrussland dem polnischen Teil einverleibt. Den Niederschlag dieser Loslösung Kleinrusslands von Großrussland treffen wir in der Sprache: es ist die Zeit, in der ins Großrussische eine Reihe tatarischer Ausdrücke für Geld-, Fuhrwesen usw. eindringen, wie russisch djengi „Geld“, jamtschik „Kutscher“, die dem Kleinrussischen fremd sind, während dieses nun sehr viel polnisches Sprachgut übernimmt.

Zwei Dinge sind es, die nun in der folgenden Periode das Verhältnis Kleinrusslands zu Polen und Moskau wesentlich bestimmen: die religiösen Streitigkeiten und die Organisation der ukrainischen Kosaken. Was die ersteren anlangt, so versuchten die Jesuiten, die seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Polen wirkten, die griechisch-katholischen Kleinrussen zum römischen Glauben zu bekehren. Da sie aber Erfolg nur bei den Vornehmen hatten, so begnügte man sich, das Volk für die sogenannte Union zu gewinnen. Diese Union, die auf dem Konzil zu Florenz 1439 beschlossen, dann 1596 in Brest erneuert war, verfolgt den Zweck, die Anhänger des griechischen Katholizismus mit der römischen Kirche zu vereinen. Die Oberhoheit des Papstes soll anerkannt, das Messeopfer eingeführt werden, aber die Priester ehe und der Gebrauch der slawischen Liturgie den Unierten bleiben. Auf die Dauer hat die Union Anhänger nur im Westen des Gebiets gefunden, noch heute besteht sie bei den Ruthenen außerhalb Russlands. In dieser Zeit aber versuchte man, sie dem Volke mit Gewalt aufzudrängen. Die Folge war, dass dieses, soweit es der alten Kirche treu blieb, aufs stärkste gereizt wurde.

Gab die Verfolgung des alten Glaubens den Kleinrussen zu der größten Erbitterung Anlass, so waren es die Kosaken, die den Kampf gegen die polnische Herrschaft in der eigentlichen Ukraine organisierten, indem sie sich auf die Glaubenstreue des Volkes stützten. Seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts tauchen in der russischen Geschichte die Verbände der Kosaken auf, die einen türkischen Namen führen, der „freier, unabhängiger Mensch, Abenteurer, Vagabund“ bedeutet. Abenteurer, Leute, die frei und unabhängig leben wollten, waren es in der Tat, die an den Südgrenzen Russlands zusammenströmten und hier unter besonderen Anführern, den Atamanen oder Hetmanen, eigne Genossenschaften gründeten, die keine Herrschaft über sich duldeten. Den Grundstock haben wohl Russen gebildet, aber von allen Völkern, die damals den europäischen Osten bewohnten, von den Polen, Litauern, Moldauern, Polowzern, von den Tataren traten ihnen Leute bei, die die unbändige Freiheit suchten. Die Grundbedingung für die Aufnahme in die Verbände war die Zugehörigkeit zur griechisch-katholischen Kirche. Sahen sie als eigentlichen Gegner die Tataren an, mit denen sie einen ständigen, wilden Kampf führten, so fielen sie doch auch zur Abwechslung in Russland, Polen, Litauen und die Moldau sengend und plündernd ein. Die ersten Genossenschaften begegnen am Don und am Dnjepr. Die am Dnjepr war ansässig hinter den Stromschnellen, die der Fluss von Jekaterinoslaw an abwärts bildet, sie heißt daher die Genossenschaft der saporogischen Kosaken, d. h. derer, die hinter (russisch sa) den Schnellen (russisch porog) wohnen. Nach dem Vorbild dieser saporogischen Kosaken trat die Genossenschaft der ukrainischen oder städtischen Kosaken ins Leben, die aber ansässig waren und im Gegensatz zu den Saporogern ein Familienleben führten. Sie suchten Anschluss an einen christlichen Fürsten, da sie sich, auf sich gestellt, nicht behaupten konnten. Der Polenkönig Stephan Bathory, der erkannte, wie bedeutsam es war, diese tüchtigen Krieger auf seiner Seite zu haben, gewann sie für sich und gab ihnen ihre eigne Verfassung, eine große Selbstständigkeit und Freiheit von Abgaben. Aber seine Nachfolger hielten sich nicht an seine Versprechungen und entzogen — seit 1589 — den Kosaken von den gewährten Rechten eins nach dem andern. Von nun an hören die Kämpfe zwischen Kosaken und Polen nicht auf. Es waren Kämpfe, die infolge der eben erwähnten Bekehrungssucht der Polen in Kleinrussland den Charakter eines Glaubenskampfes gegen die Unterdrücker der griechisch-katholischen Kirche annahmen. Hinzu kam aber der Gegensatz gegen die polnischen oder polonisierten Magnaten, die hier schrankenlos walteten. Der Glaubenseifer hat die Kosaken nicht gehindert, sich gegen ihre Tyrannen mit Tataren und Türken zu verbinden. Aber trotz dieser Bundesgenossen wurden die Kosaken immer wieder von den Polen zur Ruhe gebracht. Schließlich gelang es dem Hetman Bogdan Chmijelnitzki, der sich an die Spitze der gesamten saporogischen und ukrainischen Kosaken stellte, die Polen 1648 und 1649 entscheidend zu schlagen. Die religiösen und sozialen Gegensätze, die überall Kleinrussen und Polen trennten, konnten in den kleinrussischen „Marken“ zu einem erfolgreichen Aufstand führen, weil sie an der Organisation der Kosaken einen ausgezeichneten Stützpunkt hatten. Andrerseits wurden sie von diesen benutzt im Kampfe für ihre alten Sonderrechte. Chmjelnitzki hatte wirklich die griechisch -katholische Ukraine hinter sich. Im Vertrage von Sborow 1649 bekam die Ukraine eine relative Selbständigkeit innerhalb des polnischen Staates. Aber die Polen dachten nicht daran, sich an den Vertrag zu halten. Da wandte sich Chmjelnitzki an den russischen Zaren, und dieser ließ sich von den Führern der Ukrainer 1654 im Vertrage von Perejaslawl, auf den sich die national gesinnten Kleinrussen noch heute gern berufen, den Eid der Treue schwören. Es ward eine Art von Personalunion zwischen Moskau und Kleinrussland geschaffen, letzteres erhielt volle Selbstverwaltung, eine selbständige Kirche unter dem Metropoliten von Kiew usw. Eine Zeit lang gingen dann die Kämpfe um die Ukraine mit den Polen noch hin und her, erst seit 1681 ward sie mitsamt dem Gebiet der saporogischen Kosaken für immer mit Russland vereinigt.

Für Polen war das der Anfang des Verfalls, gleichsam ein Vorläufer der Teilung. Der Verlust eines so wichtigen Gebietes hat es für die Dauer geschädigt. Einen umso größeren Erfolg bedeutete es für Russland. Und für Russlands Kultur war es wichtig, dass nun westliche Bildung und Kultur durch die Vermittlung der Kleinrussen nach Moskau kam. In dieser Zeit, als in Großrussland das Schulwesen noch ganz im Argen lag, bestanden in Kleinrussland eine Reihe von Schulen, die auch von den Kosaken eifrig beschickt wurden. Zum zweiten Mal wurde von Kiew, dem Mittelpunkte der kleinrussischen Bildungsbestrebungen, den Russen höhere Kultur vermittelt. Freilich allzu hoch darf man diesen Einfluss nicht einschätzen, und die mittelalterlich-scholastische Denkweise, die hier vorherrschte, ward bald bedeutungslos, als Peter der Große den Anschluss an moderne westeuropäische Bildung herbeizuführen sich bemühte.

Noch in einer andern Hinsicht war aber dieses Jahr hundert für Kleinrussland wichtig: als Chmjelnitzki nach seinem anfänglichen Siege über die Polen wiederum geschlagen war, und die Polen die im Vertrag von 1649 den Kosaken zuerkannten Rechte für nichtig erklärten, vor dem Anschluss der Kosaken an Russland, wanderte ein Teil von ihnen, über den furchtbaren Druck der Polen erbittert, in die an Kleinrussland angrenzenden östlichen Gebiete, vor allem in das heutige Gouvernement Charkow aus und gründete hier Freidörfer. Das ist der Anfang der neuzeitlichen klein russischen Kolonisation, die sich seitdem nach Süden und Osten, in Cherson, Bessarabien, Jekaterinoslaw, dem Don gebiet usw. mächtig ausgebreitet hat und an der Besiedlung Südrusslands hervorragend beteiligt ist.

Die folgende Geschichte der Ukraine ist schnell erzählt. Die Ukraine war durch den Anschluss an Russland vom Regen in die Traufe gekommen. Die den Kosaken gewährte Autonomie war dem Zarenregiment ein Dorn im Auge, ein Fremdkörper in dem auf Zentralisation beruhenden Regierungssystem. Sie allmählich einzuschränken, fiel umso leichter, als die Kosaken es nicht verstanden, unter einander und mit der übrigen Bevölkerung des Landes auszukommen. Unter Peter dem Großen führten die Gegensätze gegen Großrussland dazu, dass der Kosakenhetmann Maseppa sich dem Schwedenkönige Karl XII. anschloss. Aber die große Masse der Kleinrussen machte diesen Abfall vom Zaren nicht mit. Das Land war erschöpft, und der Gegensatz zum Zarenreich ward von der Bevölkerung doch lange nicht so stark empfunden wie gegen Polen. Der Sieg Peters des Großen 1709 in der Schlacht bei Poltawa hatte dann zur Folge, dass die Privilegien der Ukraine eins nach dem andern abgetragen wurden. Auch die Unabhängigkeit der saporogischen Kosaken, die noch nach der Niederwerfung Maseppas trotzten, ward beseitigt. Wenn in der Zeit nach Peter dem Großen den Kosaken wieder manche Freiheiten eingeräumt wurden, so machte Katharina II. allen Sonderrechten ein Ende. Die Hetmanswürde wurde 1764 abgeschafft, die Ukraine in die unter Peter dem Großen begonnene Einteilung Russlands in Gouvernements einbezogen. Durch den Ukas von 1783 wurde die Leibeigenschaft in der drückenden Form, wie sie sich seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts im Staate Moskau in immer steigendem Maße herausgebildet hatte, auf die kleinrussischen Bauern ausgedehnt, u BB a die vorher denn doch ganz anders gestanden hatten. Das Heer der saporogischen Kosaken wurde aufgelöst, ihre Zufluchtsstätte, die Sjetsch (das bedeutet „das ausgerodete Waldland“), 1775 zerstört. Sie wanderten zum Teil an den Kuban aus und gründeten hier die Genossenschaften der Kubankosaken. Von Russland aus wurde nun in der Ukraine die Union gewaltsam unterdrückt, wie im neunzehnten Jahr hundert auch in den erst später zu Russland gekommenen Teilen des polnischen Reichs.

Auch die Selbständigkeit der kleinrussischen orthodoxen Kirche ward vernichtet. Die Erkenntnis ging in Moskau früh auf, dass es für die Verschmelzung von Groß- und Kleinrussen bei der großen Bedeutung der Religion für die Kleinrussen außerordentlich wesentlich sei, das kirchliche Leben der Ukraine an Moskau anzugliedern. Während früher der erste Geistliche der Ukraine, der Metropolit von Kiew, vom Patriarchen von Konstantinopel ernannt wurde, übernahm seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts der Moskauer Patriarch dieses Recht. Von ihm ging die kirchliche Leitung unter Peter dem Großen auf die von ihm eingesetzte heilige Synode über.

Das ist die Geschichte der Ukraine. Man sieht, dass eigentlich niemals ein unabhängiges kleinrussisches Staatswesen bestanden hat. Erst seit dem Anschluss der Ukraine an Polen, seit dem Hervortreten der Kosaken, entsteht das Bestreben, eine gewisse Selbstständigkeit zu behaupten. Die Träger dieser Gedanken sind die ukrainischen Kosaken, ihrer Herkunft nach durchaus nicht alle Kleinrussen. Gegensätze zwischen diesen, ihrer Sonderorganisation, und dem Volke sind fast ständig vorhanden, wenn sich die Kosaken auch vielfach aus den besseren Elementen der ukrainischen Bauern ergänzten. Was beide eint, das ist vor allem der Widerstand, den sie der religiösen Unduldsamkeit der Polen entgegensetzen. Und eben das, die Gemeinschaft des kirchlichen Bekenntnisses, macht ihnen den freiwilligen Anschluss an Russland leicht, da sie überwiegend griechisch-orthodox, nicht uniert waren. Und man; soll das nicht unterschätzen: die Moskowiter haben die Kleinrussen nicht unterworfen, diese sind freiwillig zu ihnen gekommen, weil sie sich aus eigner Kraft nicht zu halten vermochten. Wenn die russische Regierung die den Kleinrussen versprochenen Rechte eins nach dem andern abschaffte, so betraf das in erster Linie die Privilegien der Kosaken. Die Kämpfe mit den Polen haben gewiss das gemeinsame Empfinden gestärkt und sich tief in die Gemüter eingeprägt. Die kleinrussischen Volkslieder singen von ihnen. Aber der Verlauf der Entwicklung konnte daraus ein gemeinsames Staatsgefühl nicht entstehen lassen. Dabei verdient noch hervorgehoben zu werden, was oft übergangen wird, dass die geschilderte Entwicklung sich nur auf die eigentliche Ukraine bezieht. Wolhynien und Podolien, die doch ebenfalls überwiegend kleinrussisch sind, haben an deren Schicksalen nicht teilgenommen. Erst die zweite Teilung Polens 1793 brachte diese. Provinzen an Russland. Grade hier aber und in Ostgalizien hatte das Reich von Halicz seinen Schwerpunkt gehabt. Es ist dann aber auch bei der Erwerbung dieser Provinzen doch wieder so, dass Katharina II. als Grund zur Einmischung in die Verhältnisse Polens ihre Pflicht angibt, die Rechtgläubigen gegen die Unterdrückung zu schützen, hier wie auch in Weißrussland, das damals ebenfalls an Russland kam. Und zu den religiösen Gegensätzen gegen Polen, die zu Russland hinführten, trat auch hier der Hass der kleinrussischen Bauern gegen den polnischen Adel, der 1768 zu einem blutigen Aufstand führte. Obwohl also die Verhältnisse vor dem endgültigen Anschluss an Russland hier sehr ähnlich liegen wie in der Ukraine vor 1654, so bleibt doch bestehen, dass die Geschicke der Kleinrussen grade in den Zeitläuften nicht einheitlich gewesen sind, in denen in der Ukraine ein wirklich starkes Streben nach Unabhängigkeit sich geltend machte. Andere slawische Völker wie Tschechen, Polen, Serben, Bulgaren — um nur von diesen zu reden — haben eine viel reichere Geschichte hinter sich und daher einen viel, viel stärkeren Drang zu einem selbständigen Staatswesen, als er sich in Kleinrussland herausbilden konnte.

Aber freilich wenn die Zaren Stück für Stück die versprochenen Rechte abtrugen, weil sie die Sonderstellung der Ukraine für gefährlich hielten, so erzeugte das in den führenden Schichten der Ukraine ständige Gährungen. Die Bestrebungen, die alten Rechte wieder zu erlangen, haben nie ganz aufgehört und hier und da zu einem extremen nationalen Radikalismus geführt. In neuester Zeit sind sie dann wieder mit größerer Energie aufgenommen. Der allgemeine Zug der Zeit, der in jeder nationalen Sondergemeinschaft den Willen zu selbständiger Pflege und Entwicklung ihrer Eigenart wachruft, ist hier vornehmlich durch zwei Dinge verstärkt worden. Erstens ist es die brutale Politik, die Russland gegenüber jeder Regung, auch nur die Eigenart des kleinrussischen Stammes und der kleinrussischen Sprache aufrecht zu erhalten, angewandt hat. Durch den Erlass vom 30. Mai 1876 war der Gebrauch der kleinrussischen Sprache so gut wie ganz verboten, weder in Schulen noch auf dem Theater noch in Vorträgen sollte sie weiterhin geduldet werden, ihre Anwendung in Druckschriften wurde nur bei historischen Dokumenten und bei schöner Literatur unter allerlei Beschränkungen gestattet. Die Folge ist, dass die Zahl der Analphabeten in Kleinrussland erschreckend groß ist. Aber dieser Druck, der auf dem Lande lastete, hat auch den Widerstand gegen die Unterdrückung heimischen Wesens und heimischer Sprache stark gefördert — wie er das immer tut. Zweitens gibt es eine Gruppe von intelligenten Kleinrussen (Ruthenen), in Galizien, die außerordentlich tätig für ihr Volkstum sind. Hier haben die Kleinrussen einen scharfen Kampf mit den Herren Galiziens, den Polen, zu führen, die das ganze Land polonisieren möchten. Der Gegensatz ist umso größer, als die Ruthenen in Galizien meistens griechisch-uniert sind und deshalb zu den römisch-katholischen Polen auch einen religiösen Gegensatz empfinden. In Galizien ist der eigentliche Sitz der kleinrussischen Propaganda, die in Lemberg ihren Mittelpunkt hat. Denn selbstverständlich können in Österreich einer nationalen Bewegung nirgends die Fesseln angelegt werden wie in Russland. Von hier aus aber gehen die Einwirkungen ständig nach Russland hinüber.

1905 wurden im Gefolge der Revolution wenigstens in der Praxis vorübergehend die Gesetze außer Kraft gesetzt, die den Gebrauch der kleinrussischen Sprache im öffentlichen Leben unmöglich machten. Die Wahlen zur ersten Duma im selben Jahre zeigten, wie stark im russischen Kleinrussland die nationale Bewegung geworden war: 40 Abgeordnete schlossen sich in ihr zu einem eignen ukrainischen Klub zusammen. Zwar verschwanden die ukrainischen Abgeordneten infolge Änderung des Wahlgesetzes bei den Wahlen zur dritten Duma gänzlich aus dieser, zwar wurden alle Errungenschaften der Revolution wieder vernichtet, und die Regierung steht der kleinrussischen Bewegung heute genauso gegen über wie vor 1905. Aber was einmal kraftvoll in der Wirklichkeit in die Erscheinung getreten ist, lässt sich nicht mehr so leicht unterdrücken. Umso wichtiger ist es, und grade jetzt für uns, sich über die Voraussetzungen, Ziele und Aussichten dieser Bewegung klar zu werden. Hier aber werden in unsrer Zeit von den grade erwähnten österreichischen Ruthenen, teilweise von sehr tüchtigen und hochverdienten Leuten, Ansichten im deutschen Volke verbreitet, die meines Erachtens nur verwirrend wirken können. Für uns aber ist es Pflicht, diese Bewegung nicht mit der unbewussten Absicht zu betrachten, die Dinge so zusehen, wie sie für uns am günstigsten wären, sondern mit aller Nüchternheit und Klarheit zu prüfen.

Es wird jetzt sehr eifrig dafür agitiert, als Frucht des Krieges einen selbständigen kleinrussischen Staat zu errichten. Für uns an diesem Orte ist die Frage selbstverständlich nicht die, ob es ratsam oder möglich ist, einen solchen zu schaffen. Das ist etwas, worüber lediglich die leitenden Heerführer und Staatsmänner zu entscheiden haben. Was wir zu erwägen haben, ist weit bescheidener: sind im russischen Kleinrussland die Voraussetzungen gegeben, die von innen heraus zur Aufrichtung eines solchen Staates drängen? Wenn an maßgebenden Stellen die Absicht dazu besteht, eine Absicht, die man versuchen müsste, unter allen Umständen, gegen alle Hindernisse durchzuführen, falls sie sich diesen als notwendig ergibt, haben wir dann das Recht, darauf zu zählen, dass die Kleinrussen selbst diesen Plan mit allen Kräften fördern würden?

Sind die Bedingungen in Kleinrussland vorhanden, die etwa einen Aufstand gegen das russische Reich herbeiführen könnten? Dass die Geschichte ein Staatsgefühl, das etwa jetzt noch fortwirkt, nicht erzeugen konnte, ist oben ausgeführt worden. Ein Gemeinschaftsgefühl gibt entschieden die Sprache. Aber es fragt sich nun, ob der Kleinrusse von da aus sich von andern slawischen Stämmen, besonders von den Großrussen so unterschieden fühlt, dass in ihm das Streben nach einem eignen nationalen Staate hervorgerufen wird. Und da ist nun zu sagen, dass die Unterschiede zwischen Groß- und Kleinrussisch doch so groß nicht sind. Man streitet sich lebhaft darüber, ob das Kleinrussische als selbständige Sprache oder als ein Dialekt innerhalb der russischen Sprachengruppe zu betrachten sei. Aber ein solcher Streit ist ganz müßig. Wo zwei Sprachen sich ziemlich nahestehen, kann man überhaupt nicht entscheiden, ob wir sie als verschiedene Dialekte oder Sprachen aufzufassen haben. Denn feste Grenzen zwischen beiden Begriffen gibt es nicht. Für unsre Frage ist aber vor allem wichtig, dass sich Groß- und Kleinrussen untereinander verständigen können, wozu Polen und Großrussen nicht oder jedenfalls schwerer imstande sind. So sehr es die Bildung in Kleinrussland hemmt, dass die Kinder ihren Unterricht lediglich in großrussischer Sprache empfangen, so ist doch andrerseits ein mündlicher Verkehr herüber und hinüber möglich. Erst recht aber kann der Kleinrusse, wenn er lesen gelernt hat, das Großrussische lesen, da dies in einer älteren, historischen Orthographie eine Sprachstufe festhält, auf der die beiden Dialekte sich noch näherstanden. Gewiss ist es vor allem der Unterschied in der Sprache, durch den der Großrusse zuerst in einem kleinrussischen Dorfe als fremdartig erscheint. Aber dieser Unterschied reicht doch nicht aus, eine unübersteigliche Schranke zwischen beiden Teilen aufzurichten.

Auch die Art der beiden Stämme weist Verschiedenheiten auf. Selbst wenn solche noch zur Zeit des Reiches von Kiew nicht vorhanden gewesen wären, hätten sie doch entstehen müssen infolge der verschiedenen Schicksale, die beide Stämme durchlebten. Dabei mag nur flüchtig daran erinnert werden, dass die Kleinrussen sich mit andern Völkern mischten als ihre großrussischen Stammesbrüder, dass ferner grob gesprochen der Großrusse im Waldland, der Kleinrusse in der Steppe lebt. Ganz erklären können wir doch nie, wie solche Unterschiede sich herausbilden. Man sagt dem Kleinrussen nach, dass er beweglicher, poetischer und individualistischer sei als der Großrusse. Brünetter, schlanker Typus wiegt bei ihm vor, der Großrusse ist schwerfälliger und vielfach blond. Die Abneigung des Kleinrussen regen den Großrussen ist besonders in den Grenzstrichen nicht gering, wenn auch nicht unüberwindlich. Heiraten mit Großrussen werden auf dem Lande ungern gesehen. Aber dieser Gegensatz hat doch auch seine Grenzen. Wenn z.B. in sehr bekannter und verdienter deutscher Publizist behauptet hat, der Name Chochol („Haarschopf“), mit dem der Großrusse den Kleinrussen bezeichne, sei ein grobes, beleidigendes Schimpfwort, in dem der ganze Hass des Großrussen gegen den Kleinrussen läge, so beruht das auf völliger Unkenntnis. „Chochol ist vielmehr ein Spitzwort, das gewiss oft höhnend gebraucht wird, ebenso oft aber nichts als eine harmlose Neckerei bedeute. Man lese nur Gorkis Roman „Mutter“, ?m das bestätigt zu finden.

Neben dem Trennenden aber steht noch immer der gemeinsame Glaube als mächtiges Bindemittel, das die gläubigen Groß- und Kleinrussen gegen die Nichtgläubigen zu jammenschließt. Zar und Kirche bedeuten dem kleinrussischen Bauern dasselbe wie dem großrussischen. Dann aber soll man doch nicht vergessen, wie eng der kleinrussische Intellektuelle durch die Literatur mit dem Großrussentum verknüpft ist. Aber auch über die Gebildeten hinaus trifft das zu: die ungeheure Bedeutung, die Tolstoi als Erwecker des russischen Volkes und speziell des Bauern, soweit er lesen kann, besitzt, hat er auch für Kleinrussland. Man kann getrost behaupten, dass er dem geistig Regeren aus den breiten Massen Kleinrusslands mehr ist als die eignen kleinrussischen Schriftsteller. Gewiss ist auch die kleinrussische Literatur nicht arm, ganz abgesehen von der älteren Periode. Aus der Zeit der Kämpfe gegen Polen und Tataren stammen die Volksepen, die diese Kämpfe besingen, die sog. Dumy. In die Literatur hat Kotljarewski Ende des achtzehnten Jahrhunderts das Kleinrussische mit einer Travestie der Vergilschen Aeneide ein geführt. Der bedeutendste Vertreter der kleinrussischen Dichtung ist der Lyriker Schewtschenko (1814 bis 1861). Aber sie kann sich selbstverständlich an Bedeutung nicht entfernt mit der russischen Literatur messen so wenig wie irgend eine andere der slawischen Völker. Die russische Literatur ist nun einmal in ihrer Art eine der reichsten der ganzen Welt und wird so die geistige Heimat der kleinrussischen Intellektuellen bleiben. Literaturen lassen sich nicht aus dem Boden stampfen trotz aller heißen nationalistischen Bemühungen.

Auch das Wirtschaftliche muss wenigstens in Erwägung gezogen werden. Wie oben erwähnt, ist Kleinrussland eins der reichsten Gebiete Russlands. Augenblicklich ist es sicherlich an das übrige Reich, das das Hauptabsatzgebiet für seine Produkte bildet, stark gefesselt. Das ließe sich bei einer Umgruppierung der staatlichen Verhältnisse natürlich ändern, wenn diesen Dingen auch ein sehr zur Beharrung stimmendes Moment innewohnt. Man soll in dieser Hinsicht die öfter zitierten Worte Moltkes beherzigen: „Man hat gesagt, dass bei zunehmender Bevölkerung das unermessliche Reich in sich zerfallen müsste. Aber kein Teil kann ohne den andern bestehen, der waldreiche Norden nicht ohne den kornreichen Süden, die industrielle Mitte nicht ohne beide, das Binnenland nicht ohne die Küste, nicht ohne die große gemeinsame Wasserstraße der 400 Meilen schiffbaren Wolga.“

Wie gesagt, über die Errichtung eines kleinrussischen Reiches, nach dessen Zurückeroberung natürlich Russland mit allen Kräften streben würde, steht die Entscheidung lediglich den leitenden Männern zu, die allein die Gestaltung der Verhältnisse auch für die Zukunft übersehen und dafür die Verantwortlichkeit übernehmen. Zweierlei aber soll man festhalten: wird ein eigner kleinrussischer Staat geschaffen, so muss man damit rechnen, dass sich in diesem eine starke Partei bilden wird, die zurück zu Russland will, und diese wird nicht nur aus den großrussischen Großgrundbesitzern bestehen. Es ist ganz zweifellos, dass sie unter den eigentlichen Kleinrussen zahlreiche Anhänger finden wird, auch ohne dass eine starke russische Agitation hier ständig wühlen würde. In dieser Hinsicht sind die „Russophilen“ unter den Ruthenen, unter den griechisch-unierten Galiziern und ihre russenfreundliche Haltung in diesem Kriege ein mahnendes Beispiel. Noch sicherer aber kann man das sagen, dass es zu einem Aufstand der Kleinrussen in diesem Kriege nicht kommen wird. Denn die Schar derjenigen, die im Sinne der Ruthenen Galiziens sich von Russland losreißen wollen, ist hier sehr klein, beschränkt im Wesentlichen auf Intellektuelle. Man bedenke, dass die Agrarunruhen, die hier vor der Revolution stattfanden, und die sich doch meist gegen die stammfremden, russischen und polnischen Großgrundbesitzer richteten, noch keinen nationalen Einschlag hatten. Erst die Revolution hat hier Wandel geschaffen und nationales Empfinden auch in gewisser Weise zu den Bauern getragen. Aber man soll nicht vergessen, dass grade während der Revolution sich Kleinrussland ziemlich ruhig verhielt, dass damals nationale Bewegungen, wie sie in Polen, in den Ostseeprovinzen, in Finnland und im Kaukasus mit großer Stärke auftraten, hier nicht stattgefunden haben. Und vor allem: in dieser ganzen Periode ist der Gedanke eines Abfalls vom Reiche im russischen Kleinrussland kaum geäußert. Es wäre ganz töricht, zu glauben, dass man es nicht gewagt habe, in Russland mit so weitgehenden Plänen in die Öffentlichkeit zu treten.

Wenn man sich hüten muss, die ukrainische Bewegung in Russland in ihrer Bedeutung für die äußere Politik Russlands zu überschätzen, so kann sie umso wichtiger einmal für die innere Politik werden. Jetzt ist in Kleinrussland die Erbitterung darüber, wie brutal Russland seine Eigenart unterdrücken, seine Sprache ausrotten will, doch recht stark vorhanden. Der Wille, diese zu erhalten, ist sehr lebendig und lenkt die Unzufriedenheit über die Reaktion in Russland in nationale Bahnen. Daher haben sich nach der Revolution eine Fülle ukrainischer Sonderorganisationen politischer und wirtschaftlicher Art gebildet, die sich alle für das Kleinrussentum einsetzen. Was sie wollen, zeigen die Wahlprogramme der ukrainischen Parteien. Diese fordern in nationaler Hinsicht volle Selbstverwaltung und Autonomie der Kirche für Kleinrussland. Ferner soll das Kleinrussische in Kleinrussland auf allen Schulen als Sprache im Unterricht gelten und in den kleinrussischen Landesteilen dem Großrussischen vollkommen gleichberechtigt sein. Von großrussischer Seite widersetzt man sich aber nicht nur diesen weitgehenden Forderungen, viele möchten im Bunde mit der Regierung ein selbständiges Kleinrussentum überhaupt leugnen. Das hat nun seinen guten Grund in dem Aufbau der russischen Politik. Diese geht davon aus, dass Russland im Wesentlichen national einheitlich zu regieren ist, dass in diesem Lande, dem eine so große Zahl verschiedener Völker angehört, den Russen die Vorherrschaft zukommt. Die geschichtlich begründete Vormachtstellung der Russen als desjenigen Volks, das das Reich geschaffen hat, finde nun ihren natürlichen Rückhalt darin, dass die Russen auch an Zahl, den andern Völkern zusammen weit überlegen wären. Man wird ohne weiteres zu geben, dass für ein aus verschiedenen Nationen bestehendes Reich viele Schwierigkeiten der inneren Politik fortfallen, wenn ein Volk die absolute Mehrheit besitzt, also schon durch die Zahl herrschend ist. Die ganzen Probleme, die durch das Zusammenleben verschiedener Völker in einem Staatswesen diesem aufgegeben sind, sind dort bedeutend schwerer zu lösen, wo, wie in Österreich, und Ungarn keine dieser Nationen die absolute Mehrheit hat. In Russland beträgt nun die Zahl der Großrussen nach der Statistik der Nationalitäten von 1897 etwa 55 Millionen, die der Kleinrussen 22,4 Mill., die der Weißrussen 5,9 Mill, zusammen fast 84 Millionen. Nehmen wir an, dass bei dem seitdem eingetretenen ziemlich beträchtlichen Bevölkerungszuwachs das Verhältnis der Nationalitäten sich ziemlich gleichgeblieben ist, dass das Trachten der russischen Regierung, die Statistik möglichst zugunsten der Großrussen anzulegen, nicht allzu große Fehler ergeben hat, so würden auch heute. noch — ohne Finnland — diese drei russischen Völker zusammen 66,8%, der Bevölkerung ausmachen. Diesen stehen 33,2%, anderssprachige gegenüber (1897 etwa 42.300.000). Die ziffernmäßige Überlegenheit der Russen beruht nun nur darauf, dass die drei russischen Stämme zusammengerechnet werden. Zählt man die Kleinrussen ab, so befinden sich die geeinten Groß- und Weißrussen in einer kleinen Minderheit. Denn die Weißrussen kann man trotz gegenteiliger Meinung heute noch ungehindert den Großrussen zurechnen. Man begreift, wie wichtig es für die Großrussen und für eine zentralistische Regierungsweise ist, die gesonderte Nationalität der Kleinrussen zu leugnen, bez. zu vernichten. Man sieht auch, woher es kommt, dass die Regierung sich gegen das Kleinrussentum unduldsamer gestellt hat als gegen irgendeine andere Nation. Würde wirklich einmal bei fortschreitender Demokratisierung Russlands die Zahl in der inneren Politik der entscheidende Faktor werden, so könnten die Kleinrussen die ausschlaggebende Stellung wischen ihren ostslawischen Stammesbrüdern und den übrigen Nationen erhalten. Eine kluge Politik könnte ihnen dadurch manche Rechte verschaffen. Voraussetzung dafür wäre, dass es den nationalbewussten Ukrainern gelänge, die größte Zahl der Kleinrussen in Russland auf ihre Seite zu bringen, und dass andrerseits die Großrussen nicht von den anderen Völkerschaften einige dauernd oder eine Zeit lang zu sich herüberzögen. Auch hier wären gewiss den Kleinrussen Schranken und dadurch gesetzt, dass sie das den Ostslaven gemeinsame, vor ne allem die Religion, nicht allzu sehr vernachlässigen dürften. Aber auch wenn die reine Zahl nicht die Politik bestimmen würde, wird das Übergewicht der Russen in dem Augenblick sehr geschwächt, wo die Kleinrussen in ihrer großen Mehrheit sich zusammenschlössen, um ihre eignen Wege zu gehen. Das könnte eintreten, ob es nun bei der jetzigen zentralistischen Verwaltung bleibt oder sie ihre Autonomie bekämen. Nehmen wir an, dass infolge dieses Krieges Polen, das alte Litauen und Kurland Russland genommen werden, so würden sich die Verhältnisse etwas zu Gunsten der Großrussen verschieben. Diese Länder hatten 1897 etwa 11.700.000 Einwohner. Da es in ihnen nur sehr wenig Großrussen gibt — nur im Gouvernement Suwalki erreichen sie 9%, in Kurland und Kowno bilden sie 4% der Gesamtbevölkerung, in Polen keine 3% — so braucht man diese nicht weiter zu berücksichtigen. Wir hätten in einem solchen Falle in Russland gegen 61,5 Mill. Groß- und Weißrussen, 22,4 Mill. Kleinrussen, und 30.600.000 andere Völker. Diese Amputation hätte also für Russland das Ergebnis, dass sie den großrussischen Zentralismus stärken würde. Würde man Russland auch die Gouvernements Wilna und Grodno nehmen, so würde sich das Verhältnis wieder etwas zu Ungunsten der Russen ändern, da hier die Weißrussen etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, diese aber von der Gesamtzahl der dem Reiche verbleibenden Russen abzuziehen wären.

Die kleinrussische Bewegung trifft also dies zentralistisch großrussische Regierungssystem sehr empfindlich, mag dies absolut oder freiheitlich sein. Die russische Regierung hat offenbar geglaubt, dass die große Masse der Kleinrussen in Russland gegenüber dem Nationalen gleichgültig sei. Nur so kann man verstehen, dass sie solche drakonische Maßregeln in Anwendung gebracht hat. Deshalb auch war ihr das Streben nach dem Erwerb des ruthenischen Ostgaliziens so wichtig, weil sie hoffte, dann die von hier ausgehende leidenschaftliche ukrainische Propaganda mundtot machen zu können. Erreicht hat sie ihren Zweck durch ihre Unterdrückungspolitik in Kleinrussland nicht, im Gegenteil, der ungeheure Druck hat viele Ukrainer erst m Bewusstsein der eigenen Volksgüter gebracht. Auch die Kleinrussen, wenn sie bei Russland bleiben, werden dermaleinst die Sprache und Kultur pflegen können, und es gibt genug umsichtige Großrussen, die ihnen dies zubilligen. Ob das Verhältnis dann ähnlich dem von Nord- und Süddeutschen innerhalb des Deutschen Reiches wird, ob die Unterschiede nicht wesentlich stärker sich entwickeln, darüber vermag heut noch niemand zu urteilen. Aber anzunehmen ist, dass die Gegensätze desto größer werden, je stärkeren Druck die Großrussen gegen ihre Stammesbrüder anwenden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Entwicklung und die Ukrainische Frage