Ostslawen
Ostslawen: das sind die Russen, die ursprünglich in viele Stämme zerfallen, von denen unter anderem der Name der Wolhynier dem der Insel Wollin, der der Kriwitschen dem der Stadt Kriwitz in Mecklenburg entspricht.
Bevor ich von ihnen spreche, ist ein Ereignis zu nennen, das für die Slawen von großer Bedeutung wurde: im neunten Jahrhundert ward das Christentum zu den Slawen gebracht. In Mähren bestand damals ein großes mährisches Reich unter Rostislaw, mit dem die Deutschen unter Ludwig dem Deutschen viel zu kämpfen hatten. Die Mähren waren schon vorher äußerlich dem Christentum gewonnen. Hierhin gingen von Byzanz aus zwei Brüder, vernehme Griechen, Konstantin und Method, um das Christentum zu befestigen und auszubreiten. Sie brachten eine slawische Bibelübersetzung mit, die sie selbst verfasst hatten, und erhielten vom Papst die Erlaubnis, Liturgie und Bibel slawisch zu predigen: hier zuerst wurde die Liturgie im Westen in nichtrömischer Sprache vorgetragen, ein Ereignis, das bei den Zeitgenossen großen Eindruck hervorrief. Auch eine eigene Schrift erfand Konstantin für die Slaven, die sog. Glagolitische, deren Ursprung z. T. noch dunkel ist.
In Mähren hatte ihr Werk wenig Bestand; Konstantin ging nach Rom, wurde Mönch und nahm kurz vor seinem Tode den Mönchnamen Kyrill an. Vor allem in Bulgarien setzte man sein Werk fort. Soweit die Slaven griechisch-katholisch sind, haben sie diese Bibelübersetzung, deren Sprache wohl einen Dialekt bildet, der dem bulgarischen sehr nahestand: wir nennen sie altbulgarisch oder kirchen-slawisch. Diese Übersetzung gewinnt überall großen Einfluss bei den griechisch-katholischen Slawen wie die Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung bei uns: bei den Süd- und Ostslawen ist sie lange Zeit Literatursprache. Besonders groß ist auch ihr Einfluss grade in Russland, wo die Sprache auf Schritt und Tritt kirchen-slawisches hat. So z.B. ist „Petrograd“ die kirchen-slawische Form für Petersburg, die neben der deutschen Sprachform im kirchlichen Gebrauch bestand und jetzt als allein zulässig erklärt ist. Dagegen würde die Stadt echtrussisch „Petrowgorod“ heißen. Hier ist das Kirchen slawische durch das Russische in der Literatur ersetzt erst durch den russischen Gelehrten Lomonossow, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts.
Die Geschichte Russlands beginnt im neunten Jahrhundert. Im Süden herrschten die Chasaren, die zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meer ansässig waren und von dort ihre Herrschaft im Osten und Süden Russlands weit ausdehnten. Ihre Hauptstadt Itil, in der Nähe des heutigen Astrachan, war für den Handel zwischen Asien und dem östlichen Europa von größter Wichtigkeit, die Karawanenzüge gingen von hier nach Persien und Indien. Früh haben sie feste Formen des staatlichen Lebens ausgebildet, von allen Völkern Europas. im Mittelalter zuerst ein stehendes Heer besessen. Im achten Jahrhundert traten sie, wenigstens ihr Adel, zum Judentum über. Erst in den letzten Jahrzehnten des zehnten Jahrhunderts sind sie von den Russen unterworfen und bleiben seitdem nur in Resten in Krim und Kaukasus; die kaukasischen Bergjuden leiten sich von ihnen her.
Nördlich von den Chasaren am Wolgaknie sitzen die Wolga Bulgaren oder silbernen Bulgaren, ebenfalls ein handeltreibender, kräftiger türkischer Stamm, der damals an Zivilisation die übrigen Völker Ost-Europas überragte. Sie wurden im zehnten Jahrhundert zum Islam bekehrt. Wichtig für die Geschichte Russlands ist noch ein anderer türkischer Volksstamm, die Petschenegen, der erst im achten Jahrhundert aus Zentralasien aufbrach und von Verwandten der Osmanen und den Chasaren nach dem südwestlichen Russland, nach Bessarabien gedrängt wurde und lange Zeit den Verkehr der übrigen Völker Russlands nach der Balkanhalbinsel erschwerte. Die Petschenegen, die im Nibelungenliede dort erwähnt werden, wo die Reise von Etzel und Kriemhild nach Wien geschildert wird, waren ein wilder Volksstamm, die Erzbischof Brun von Querfurt um 1000 besucht hat. Den Bericht, den er über sie Heinrich Il. erstattet hat, besitzen wir. Im Norden und Osten sitzen Finnen.
Konnte also von Südosten aus. durch: die dort wohnenden türkischen Stämme den Slawen einige Zivilisation zufließen, so eröffnete sich andrerseits die Möglichkeit, an den europäischen Norden Anschluss zu finden. Über den Bottnischen Meerbusen, durch die finnischen Stämme hindurch kamen Skandinavier nach dem nördlichen und westlichen Russland als Kaufleute und Krieger. Sie hatten noch wilde Sitten. Ein Bericht des arabischen Chronisten Ibn Fadhlan, der 921 und 922 vom Kalifen Muktadir als Gesandter zu den Wolga Bulgaren geschickt wurde, gibt über sie Auskunft. Dieser erzählt:*)
*) Nach Thomsen, Der Ursprung des russischen Staates (Deutsche Übersetzung) S. 29 ff.
„Ich sah die Skandinavier, wie sie mit ihren Waren angekommen waren und sich am Fluss Itil (Wolga) gelagert hatten. Nie sah ich Leute von ausgewachsenerem Körperbau: sie sind hoch wie Palmbäume, fleischfarben und rot. Sie tragen keine Kamisole, auch keine Kaftans. Bei ihnen trägt der Mann ein grobes Gewand, das er um eine seiner Seiten herumwirft, so dass ihm eine Hand frei bleibt. Jeder führt eine Axt, ein Messer und ein Schwert bei sich. Ohne diese Waffen sieht man sie niemals. Ihre Schwerter sind breit, wellenförmig gestreift und von fränkischer Arbeit. Auf der einen Seite derselben befinden sich, von der Spitze bis zum Halse, Bäume, Figuren und dergleichen mehr dargestellt. Die Weiber haben auf der Brust eine kleine Büchse angebunden, von Eisen, Kupfer, Silber oder Gold, dem Verhältnisse des Vermögens ihres Mannes und seinen Umständen angemessen. An dem Büchschen ist ein Ring und an dem ein Messer, ebenfalls auf der Brust befestigt. Um den Hals tragen sie goldene und silberne Ketten. Wenn der Mann nämlich zehntausend Silberstücke besitzt, lässt er seiner Frau eine Kette machen; hat er zwanzigtausend, so bekommt sie zwei Halsketten; und so erhält seine Frau, so oft er zehntausend Silberstücke reicher wird, eine Kette mehr. Daher befindet sich oft eine ganze Menge Ketten an dem Halse einer skandinavischen Frau. Ihr größter Schmuck besteht in grünen Glasperlen von der Art, wie sie sich auf den Schiffen finden. Sie übertreibens damit, zahlen ein Silberstück für so eine Glasperle und reihen sie für ihre Weiber zum Halsbande. — sie sind die unsaubersten Menschen, die Gott geschaffen hat. .... Sie kommen aus ihrem Lande, legen ihre Schiffe im Itil, welches ein großer Fluss ist, vor Anker und bauen sich an dessen Ufern große Häuser von Holz. In so einem Hause leben ihrer zehn oder zwanzig, auch mehr oder weniger, zusammen. Jeder von ihnen hat eine Ruhebank, worauf er und mit ihm seine Mädchen und die Schönen, die zum Verhandeln bestimmt sind, sitzen. Jeden Tag waschen sie sich regelmäßig mit dem schmutzigsten und unreinlichsten Wasser, das es nur geben kann, Gesicht und Kopf. Alle Morgen nämlich kommt das Mädchen und bringt eine große Schale mit Wasser, die sie vor ihren Herrn stell. Der wäscht sich darin Gesicht und Hände, auch alle seine Haare wäscht er und kämmt sie mit dem Kamm in die Schüssel aus. Darauf schnäuzt er sich und spuckt ins Gefäß und lässt keinen Schmutz zurück, sondern tut ihn in dies Wasser ab. Wenn er, was nötig war, verrichtet, trägt das Mädchen die Schüssel zu dem, der ihm zunächst ist. Der machts wie jener. Sie aber fährt fort, die Schüssel von dem einen weg zu dem andern hin zu tragen, bis sie bei allen, die im Hause sind, herumgewesen ist, von denen jeder sich schnäuzt, in die Schüssel spuckt und Gesicht und Haare in derselben wäscht. — Sobald ihre Schiffe an diesen Ankerplatz gelangt sind, geht jeder von ihnen ans Land, hat Brot, Fleisch, Zwiebeln, Milch und berauschend Getränk bei sich, und begibt sich zu einem aufgerichteten hohen Holze, das wie ein menschlich Gesicht hat und von kleinen Statuen umgeben ist, hinter welchen sich noch andere hohe Hölzer aufgerichtet befinden. Er tritt zu der großen hölzernen Figur, wirft sich vor ihr zur Erde nieder und spricht: „O mein Herr, ich bin aus fernem Lande gekommen, führe so und so viel Mädchen mit mir und von Zobeln so und so viel Felle.“ Und wenn er so alle seine mitgebrachte Handelsware aufgezählt, fährt er fort: „Dir hab ich dies Geschenk gebracht“;. legt dann, was er gebracht, vor die hölzerne Statue, und sagt: „Ich wünsche, Du bescherest mir einen Käufer, der brav Gold- und Silberstücke hat, der mir abkauft alles, was ich möchte, und der mir in keiner meiner Forderungen zuwider ist.“ Dies gesagt, geht er weg. Wenn nun sein Handel schlecht geht, und sein Aufenthalt sich zu sehr verzieht, so kommt er wieder und bringt ein zweites und abermals ein drittes Geschenk. Und hat er noch immer Schwierigkeiten, zu erreichen, was er wünscht: so bringt er einer von jenen kleinen Statuen ein Geschenk dar und bittet sie um Fürsprache, indem er sagt: „Dies sind ja unsers Herrn Frauen und Töchter.“ Und. so fährt er fort, jede Statue, eine nach der andern, besonders anzugehen, sie zu bitten, um Fürsprache anzuflehen, und sich vor ihr in Demut zu verbeugen. Oft geht dann sein Handel leicht und gut, und er verkauft all seine mitgebrachte Ware. Da sagt er: „Mein Herr hat mein Begehr erfüllt: jetzt ist es meine Pflicht ihm zu vergelten.“ Darauf nimmt er eine Anzahl. Rinder und Schafe, schlachtet sie, gibt einen Teil des Fleisches an die Armen, trägt den Rest vor jene große Statue und vor die um sie herumstehenden kleinen und hängt die Köpfe der Rinder und Schafe an jenes Holz auf, das in der Erde aufgerichtet steht. In der Nacht aber kommen die Hunde und verzehren alles. Dann ruft der, der es hinlegte, aus: „Mein Herr hat an mir Wohlgefallen: er hat mein Geschenk verzehrt“ usw. usw.
Über die Festsetzung dieser Skandinavier in Russland haben wir den Bericht in dem ältesten russischen Prosawerk, der in Kiew um 1100: verfassten altrussischen Chronik, die dem Mönche Nestor zugeschrieben wird. Hier heißt es:
„Im Jahre 859. kamen die Waräger von jenseits der See und forderten Tribut von den Tschuden und von den Slawen, den Meren, den Wessen und den Kriwitschen; die Chasaren dagegen erhoben Tribut von den: Polänen, den Seweränen und den Wätitschen“ (alles Namen russischer Stämme).
„Im Jahre 862 trieben sie die Waräger über die See und zahlten ihnen keinen Tribut, und sie begannen sich selbst zu regieren, und es gab kein Recht unter ihnen, und Sippe erhob sich gegen Sippe, und es gab inneren Kampf zwischen ihnen, und sie begannen Krieg zu führen gegen einander. Und sie sagten zu einander: Lasst uns nach einem Fürsten suchen, der uns beherrschen kann und urteilen, was Recht ist. Und sie gingen über die See zu den Warägern, zu den Russen (Rus), denn so hießen diese Waräger: sie hießen Russen, wie andere Swien (Schweden) heißen, andere Nurmanen (Nordmannen, Norweger)... Die Tschuden, die Slaven, die Kriwitschen und die Wessen sagten zu den Russen: unser Land ist groß und reich, aber es ist keine Ordnung drin; kommt ihr und herrscht und gebietet über uns. Und drei Brüder wurden erwählt mit ihrer Sippe, und die nahmen alle Russen mit sich, und sie kamen. Und der Älteste, Rurik, ließ sich nieder in Nowgorod, und der zweite, Sineus, am Bjelo-osero, und der dritte, Truwor, in Isborsk. Und das Russenland, die Nowgoroder, wurde nach diesen Warägern genannt; dies sind die Nowgoroder von warägischem Blute, früher waren die Nowgoroder Slawen. Allein nach Verlauf von zwei Jahren starben die Brüder und Rurik übernahm die Herrschaft und verteilte die Städte unter seine Mannen.“
Diese kindlich einfache Schilderung besagt also: um 860 gründete der Waräger Rurik in Nowgorod (am Ausfluss des Wolchow aus dem Ilmensee) ein Reich, in dem sich Nordmänner, Finnen und Slaven vereinigten. Im selben Jahr sollen zwei seiner Mannen, Askold und Dir, den Dnjepr abwärts gezogen sein und in Kiew, der Hauptstadt der Poljänen, ein unabhängiges Königreich gebildet haben. Zwanzig Jahre später eroberte Ruriks Nachfolger und Verwandter Oleg dies Fürstentum.
Also sind die ostslawischen Stämme zuerst von nord-germanischen Kriegern staatlich geeint. Das Fürstengeschlecht, das zuerst einen russischen Staat schuf, hat germanischen Ursprung: daran ist kein Zweifel. Die Angaben der Nestorschen Chronik werden vor allem bestätigt dadurch; dass diese Waräger skandinavische Namen tragen, wie der genannte Oleg, das ist altnordisch Helge, ein Name, der in der altnordischen Sage eine große Rolle spielt. Ihre Namen weisen nach dem mittleren Schweden, und zwar heißen sie Russen, weil die finnischen Stämme am Bottnischen Meerbusen und der Ostsee die Schweden Ruotsi nennen. Diese Bezeichnung nahmen die Slawen auf und nannten so die Nordmänner, die zu ihnen kamen. Von Nowgorod wandert sie nach Kiew und bleibt hier eigentlich haften und wird von hier über alle Gebiete ausgedehnt, die der russischen Krone untertan werden; ähnlich wie Frankreich, ursprünglich Reich der germanischen Franken, später mit der Nationalität nichts mehr zu tun hat und nur noch politisch-geographische Bedeutung besitzt. Auch Waräger, von denen die Russen eine Unterabteilung bilden sollen, ist ein skandinavischer Name, wohl ursprünglich der Name für Schweden bei den Skandinaviern, die sich östlich der Ostsee angesiedelt hatten. Die Waräger kamen als Kaufleute und Krieger nach Russland und brachten den dortigen Slaven auch eine Reihe von nordgermanischen Wörtern, so z.B. russisch knut „Peitsche“ aus altisländisch knurt „Knorren, Knoten“ (dasselbe Wort wie unser „Knoten“), ursprünglich „Knotenpeitsche“, dass dann wie viele Wörter unseres Fuhrwesens („Kutsche, Droschke“ usw.) von uns aus dem Ostslawischen übernommen wurde.
Wie alle Barbaren zog es auch die skandinavischen Russen nach den Ländern der Kultur, durch Russland nach Byzanz. Diese Züge waren nur ein Teil der Wikingerzüge, die die Skandinavier seit dem neunten Jahrhundert nach Westeuropa und zu den fernsten Küsten Europas unternahmen. Früher als ihre Stammesgenossen, die später um 1100 von Italien aus unter dem berühmten Robert Guiscard und Roger II. Byzanz hart zusetzten, wobei sie die Waräger-Scharen im Dienste des griechischen Kaisers schlugen, kamen die russischen Normannen nach Griechenland. Auch hier zeigen sie sich als kühne Seefahrer, die den Dnjepr hinab ins Schwarze Meer fuhren und von hier aus Konstantinopel mehrfach bedrohten. So 907: Oleg segelte mit 2.000 Seglern gegen die Stadt. Die Griechen hatten den Zugang zur Stadt von der Seeseite gesperrt. Da zogen die Russen ihre Schiffe ans Land, versahen sie mit Rädern und sperrten die Segel auf. Der Wind blies in die Segel und so segelten sie auf trockenem Lande auf die Stadt zu. Das erschreckte die Griechen und sie er kauften schleunigst den Frieden dadurch, dass sie hohen Tribut zahlten. Erst 1043 hörten diese Angriffe auf. Nach Olegs Tod kam Ruriks Sohn Igor bei den Russen zur Regierung (schwedisch Ingvarr). Nach ihm führte die Regierung für seinen minderjährigen Sohn seine Frau, eine vornehme Skandinavierin namens Helga, russisch Olga, die erste Russin dieses Namens, den wir übernahmen. Ihr Sohn Swjatoslaw trägt den ersten slawischen Namen bei den Ruriks, und seitdem finden sich bei den Nachkommen Ruriks fast nur noch slawische Namen: die Normannen wurden vollständig slawisiert. Und zwar geschah dies zuerst in Kiew, wo mit dem Ende der Wikingerzeit 1030 auch Skandinavier in Kiew verschwinden. Weit länger hielten sich Skandinavier in Nowgorod. Dies ist eine der interessantesten Städte des Mittelalters, nicht zu verwechseln mit Nischni-Nowgorod an der Wolga, östlich von Moskau. Unser Nowgorod gelangte vermittels seiner glänzenden Lage zu einem blühenden Handel und entwickelte sich im elften Jahrhundert zu einer Handelsstadt, die an Bedeutung und Größe mit unsern großen Hansestädten, Danzig und Lübeck, zu vergleichen ist. Sie war von den russischen Fürsten fast unabhängig und bildete eine freie, demokratische Verfassung aus. Ihre Beziehungen zu Schweden, besonders auch nach Gotland, sind bedeutend. Aber bald erlangten hier die Hanseaten den größten Einfluss; schon 1184 erbauen sie eine deutsche Kirche, St. Peter, sie schließen sich zum „Deutschen Hof“ zusammen, der seine eignen Ordnungen und Satzungen hat. Zweimal jährlich, im Frühling und im Herbst, trafen die überseeischen Kaufleute in Nowgorod ein und tauschten ihre Waren gegen die Russlands. Allerdings zu weiterer Macht den Deutschen und Schweden gegenüber brachte die Stadt es nicht, da sie keine Kriegsflotte besaß. Die Tatarenstürme hat sie leidlich überstanden, erst Iwan III. hat ihre Macht endgültig gebrochen. Er verpflanzte ihre angesehensten und reichsten Kaufleute nach Moskau und nahm der Stadt jede Möglichkeit eines neuen Aufschwungs.
Die Beziehungen zu Griechenland brachten noch ein anderes sehr folgenschweres Ereignis. Der Sohn von Swjatoslaw, Wladimir der Große, wohl der bedeutendste dieser Fürsten, führte 988 das Christentum offiziell ein, und zwar nachdem er die griechische Kaisertochter Anna geheiratet hatte. Für Byzanz bedeutete das das Ende der russischen Angriffe, das hierdurch erkauft wurde. Wladimir erzwang dann den Übertritt zum Christentum in dem von ihm beherrschten Gebiet mit Gewalt. Zugleich damit kam die slawische Liturgie ins Land, und obwohl die Griechen den Russen noch jahrhundertelang ihre höheren Geistlichen lieferten, war die russische Kirche von Anfang an auch wegen des Gebrauchs der slawischen Sprache recht selbständig: das Christentum erhielt spezifisch nationale Färbung. Die slawische Liturgie bot ferner den Vorzug, dass die Russen so zu einem Alphabet und einer Schriftsprache kamen, die ihnen relativ verständlich war. Sie erhielten durch die griechischen Schriften, die vor allem in Bulgarien zahlreich im zehnten Jahrhundert ins Kirchenslawische übersetzt waren, plötzlich eine eigene Literatur. Wladimir ließ sich die Verbreitung von Kenntnissen in der neuen Lehre angelegen sein: die Kinder aus den vornehmen Familien wurden im Christentum unterwiesen. Das russische Leben entfaltete sich im elften Jahrhundert sehr reich. In Kiew wurden zahlreiche Kirchen und Klöster gebaut, für das Ausland ward es eine Stadt von märchenhafter Pracht. Jaroslaw, der Sohn Wladimirs, mit dem kirchlichen Namen Jurij (das ist Georg), der Gründer von Jurjew-Dorpat, verheiratete seine Töchter an die Könige von Frankreich, Ungarn, Norwegen und an den polnischen Fürsten. Er selbst legte sich ganz auf das Studium und ließ viele fromme Schriften aus dem Griechischen ins Slawische übertragen.
Aber damit hatte auch die geistige Entwicklung Russlands für Jahrhunderte ihren Höhepunkt erreicht, und auf den bescheidenen Höhenstieg folgte bald ein Abfall. Hat es unleugbar seine Nachteile, dass ein Volk seine heiligen Schriften nicht in seiner eigenen Sprache liest, so ist damit doch auch ein sehr wesentlicher Vorteil verbunden besonders bei noch ungebildeten Völkern. Sie werden gezwungen, sich Kenntnisse in der betreffenden fremden Sprache anzueignen, wie Franzosen und Deutsche, zum mindesten die Geistlichen, im Mittelalter Lateinisch erlernen mussten. Dagegen brauchte der russische Pope bei den geringen Unterschieden zwischen Kirchenslawisch und Russisch nur etwas lesen zu können und hat sich meist damit begnügt. Griechisch konnten die wenigsten; die es kannten, lasen doch nur heilige Schriften. Wichtiger aber waren die Beziehungen zu Byzanz dafür, dass die russische Kirche Mitte des elften Jahrhunderts bei der Kirchenspaltung zwischen Rom und Byzanz mit letzterem ging; denn nun war eine Scheidewand zwischen Westen und Osten aufgerichtet, die in den geographischen Verhältnissen nicht begründet ist. Die „Römer“ waren Heiden, auf die man mit Verachtung herabblickte, die man aufs äußerste als Ketzer hasste. Die Russen mussten vor jeder Berührung mit diesen Häretikern geschützt werden. Man warf der römisch-katholischen Kirche unter anderem vor, dass ein Pseudopetrus als Papst den alten heiligen Glauben in Rom vernichtet habe usw. Damit waren die Beziehungen zur Kultur des Westens abgebrochen. Vom Süden her aber konnte bald keine Einwirkung mehr kommen, als die Türken den glaubensgleichen Balkan unterworfen hatten.
Noch heute ist die russisch-katholische Kirche wohl das Haupthindernis für die Verbreitung von Gesittung und Kultur unter den Russen. Man kann sich den Einfluss der Kirche in Russland kaum groß genug denken. Ein Beispiel mag genügen, um ihn äußerlich zu illustrieren: die Vornamen der Russen sind samt und sonders kirchlich, meist griechischen Ursprungs wie Alexander, Nikolaus. Während die andern slawischen Völker viele slawische Namen als Vornamen beibehalten haben, hat das das russische nur soweit getan, als ihre Träger von der Kirche heiliggesprochen sind wie Wladimir. Die russische Kirche steckt voll von niedrigem Aberglauben, den sie mehr im Volke festhält als bekämpft, und so erklärt es sich, dass solche fanatischen Finsterlinge wie Iliodor und Rasputin noch heute ihren Einfluss auf die Kreise vom Zaren bis zum Muschik ausüben können. Andrerseits hat die russische Kirche zweifellos in erster Linie das Verdienst, den Russen ein einheitliches Empfinden gegeben zu haben: „Mütterchen Russland“ ist der Hort des Zarentums und der Kirche. Dem Volke gibt sein Glaube Trost und Stütze in seiner gedrückten, oft jammervollen Lage, und das erklärt zum großen Teil die hohe Schätzung der russisch griechischen Kirche bei manchen der ersten russischen Schriftsteller wie vor allem bei Dostojewski. Das ist freilich etwas, was mehr oder weniger jede Religion, jeder Glaube leistet, und nur Unwissenheit und Überhebung nehmen das allein für die eigene Religion in Anspruch. Und der Hass gegen alles Andere wächst vor allem zweifellos in Russland von der Kirche aus.
Nach der kurzen Blütezeit Russlands unter den ersten Nachkommen Ruriks begann bald der Niedergang. Äußerlich war für den russischen Staat ungünstig, dass nicht Einer das gesamte Reich erbte. Vielmehr ward der älteste Nachkomme Großfürst von Kiew, die übrigen Brüder bekamen Teilfürsten tümer: so war eins in Smolensk, eins in Perejaslawl, eins in Tschernikow, eins in Wladimir. Starb der Großfürst, so erhielt nicht dessen ältester Sohn, sondern der älteste der Teilfürsten, sofern sein Vater Großfürst gewesen war, dessen Würde und so fort. Näher kann das komplizierte Erb system hier nicht geschildert werden. Natürlich brachen nun Zwistigkeiten aus, die Macht Kiews ging zurück, die Teilfürstentümer überflügelten es, so der Fürst von Susdal im Nordosten Russlands. Die Entwicklung Russlands kam unter diesen Kämpfen nicht vorwärts. Im dreizehnten Jahrhundert, aber trat dann ein Ereignis ein, das zu allem Vorhergehenden Mitschuld ist an der Unkultur Russlands, die Herrschaft der Mongolen. Diese, den Türken sprachlich nahestehend, saßen im östlichen Nord- und Zentralasien. Während ein Teil von ihnen früh unter den Einfluss chinesischer und indischer Kultur geriet, blieben andere Stämme unzivilisiert. Von den letzteren brachen Horden unter der Herrschaft Tamudschins um 1200 aus ihren Wohnsitzen in Zentralasien auf. Er legte sich den Namen Dschingis-Khan = großer Khan bei. Er war einer der gewaltigsten Männer und Kriegshelden aller Zeiten, ein meisterhafter Organisator, aber auch einer der blutigsten und gewalttätigsten Menschen der Geschichte. Die große, reiche und blühende Kulturstadt Vorderasiens, die damals durchaus auf gleicher Kulturstufe mit der gleichzeitigen Europas stand, und von der uns Goethe ein anschauliches Bild in seinen Noten zum Westöstlichen Diwan gegeben, ward durch ihn vernichtet. 1224 wurden auch die Russen an der Kalka, einem kleinen Fluss, der sich ins Asowsche Meer ergießt, geschlagen. Damit war das Schicksal Russlands für zwei Jahrhunderte entschieden, diese ganze Zeit über waren die Mongolen Herren im Lande. Die Tataren, wie die Mongolen nach einem ihrer Stämme meist genannt werden, drangen weiter nach Westen, zerstörten Kiew und viele andere Städte, fielen in Ungarn ein, erlitten aber 1241 eine Niederlage bei Liegnitz, und wurden in der Folge von einem weiteren Vor dringen in Europa abgehalten. Erst unter Iwan III. (1462 — 1505) ward ihre Macht vollständig gebrochen. Natürlich blieb diese Oberhoheit für Russland nicht ohne Folgen. Die Barbarei dieser Mongolen musste auf jeden Fortschritt hemmend ein wirken. Aber man soll den Einfluss der Tataren auf die Entwicklung des russischen Charakters auch nicht überschätzen. Es war durchaus nicht so, dass die Tataren überall in Russland saßen. Ihr Reich mit der berühmten Hauptstadt Sarai bei Zarew war an der unteren Wolga gelegen, das Reich der goldnen Horde. In Russland erhoben sie hauptsächlich nur ihre Abgaben. Dazu kommt noch eins: es ist ein Märchen, als ob die Tataren milderen Sitten unzugänglich gewesen wären. Im Osten Asiens erfuhren sie bald den mildernden Einfluss chinesischer Kultur, und heute gelten die vornehmen Tataren in Russland als gebildete Leute, die z. B. in Kasan in der besten Gesellschaft verkehren.
In jener zweihundertjährigen Oberherrschaft der Mongolen erhob sich allmählich Moskau durch Gewalt und kriegerische Tüchtigkeit, durch List und Tücke, zu einer beherrschenden Stellung, die ihm seit Iwan III. unbedingt zukommt. Es erweiterte seine Macht vor allem auch dadurch, dass es der Mittelpunkt der russischen Kirche wurde. Der Oberste der russischen Geistlichkeit war zuerst Metropolit von Kiew. Als dann während der Periode des Mongolenjoches der Schwerpunkt des russisch-politischen Lebens immer mehr in den Nordosten Russlands verlegt ward, siedelte der Metropolit 1299 erst nach Wladimir, dann 1326 nach Moskau über. Die Interessen von Kirche und Staat wurden nun in Moskau solidarisch. Die Metropoliten waren kluge Vertreter in den Beziehungen Moskaus zu den Tataren. Sie hoben das Ansehen der Moskauer Großfürsten und wurden die wesentlichsten Stützen des Zarentums. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken ernannten die Großfürsten Moskaus die Metropoliten selbst; ihre Wahl ward unabhängig vom Patriarchen von Konstantinopel. Jetzt ward der einzige unabhängige griechisch-katholische Staat die Hoffnung aller Rechtgläubigen. Als Iwan der IV. 1542 den Zarentitel annahm, ließ er sich vom Patriarchen von Konstantinopel ausdrücklich seine Verwandtschaft mit dem byzantinischen Kaiserhaus und sein Recht auf die Krone von Byzanz bestätigen. Moskau galt nun als das dritte Rom, und der Zar als Beschützer der vom Islam unterjochten Slawen und Griechen, von dem man die Befreiung von der türkischen Herrschaft erhoffte. Das in Verbindung mit wirtschaftlichen Gründen hat der russischen Politik vor allem die Richtung auf den Erwerb Konstantinopels gegeben und dies Streben so ungeheuer volkstümlich gemacht.
Von europäischem Einfluss ist in dieser ganzen Zeit noch wenig zu merken. Erst Peter der Große aus dem Hause Romanow (seit 1613) 1682—1725 stellte endgültig eine engere Verbindung her. Aber groß ist dieser Einfluss auf Russland überhaupt noch nicht gewesen, und ob dieser Krieg ihn fördern wird, ist die Frage.
Bevor ich von ihnen spreche, ist ein Ereignis zu nennen, das für die Slawen von großer Bedeutung wurde: im neunten Jahrhundert ward das Christentum zu den Slawen gebracht. In Mähren bestand damals ein großes mährisches Reich unter Rostislaw, mit dem die Deutschen unter Ludwig dem Deutschen viel zu kämpfen hatten. Die Mähren waren schon vorher äußerlich dem Christentum gewonnen. Hierhin gingen von Byzanz aus zwei Brüder, vernehme Griechen, Konstantin und Method, um das Christentum zu befestigen und auszubreiten. Sie brachten eine slawische Bibelübersetzung mit, die sie selbst verfasst hatten, und erhielten vom Papst die Erlaubnis, Liturgie und Bibel slawisch zu predigen: hier zuerst wurde die Liturgie im Westen in nichtrömischer Sprache vorgetragen, ein Ereignis, das bei den Zeitgenossen großen Eindruck hervorrief. Auch eine eigene Schrift erfand Konstantin für die Slaven, die sog. Glagolitische, deren Ursprung z. T. noch dunkel ist.
In Mähren hatte ihr Werk wenig Bestand; Konstantin ging nach Rom, wurde Mönch und nahm kurz vor seinem Tode den Mönchnamen Kyrill an. Vor allem in Bulgarien setzte man sein Werk fort. Soweit die Slaven griechisch-katholisch sind, haben sie diese Bibelübersetzung, deren Sprache wohl einen Dialekt bildet, der dem bulgarischen sehr nahestand: wir nennen sie altbulgarisch oder kirchen-slawisch. Diese Übersetzung gewinnt überall großen Einfluss bei den griechisch-katholischen Slawen wie die Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung bei uns: bei den Süd- und Ostslawen ist sie lange Zeit Literatursprache. Besonders groß ist auch ihr Einfluss grade in Russland, wo die Sprache auf Schritt und Tritt kirchen-slawisches hat. So z.B. ist „Petrograd“ die kirchen-slawische Form für Petersburg, die neben der deutschen Sprachform im kirchlichen Gebrauch bestand und jetzt als allein zulässig erklärt ist. Dagegen würde die Stadt echtrussisch „Petrowgorod“ heißen. Hier ist das Kirchen slawische durch das Russische in der Literatur ersetzt erst durch den russischen Gelehrten Lomonossow, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts.
Die Geschichte Russlands beginnt im neunten Jahrhundert. Im Süden herrschten die Chasaren, die zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meer ansässig waren und von dort ihre Herrschaft im Osten und Süden Russlands weit ausdehnten. Ihre Hauptstadt Itil, in der Nähe des heutigen Astrachan, war für den Handel zwischen Asien und dem östlichen Europa von größter Wichtigkeit, die Karawanenzüge gingen von hier nach Persien und Indien. Früh haben sie feste Formen des staatlichen Lebens ausgebildet, von allen Völkern Europas. im Mittelalter zuerst ein stehendes Heer besessen. Im achten Jahrhundert traten sie, wenigstens ihr Adel, zum Judentum über. Erst in den letzten Jahrzehnten des zehnten Jahrhunderts sind sie von den Russen unterworfen und bleiben seitdem nur in Resten in Krim und Kaukasus; die kaukasischen Bergjuden leiten sich von ihnen her.
Nördlich von den Chasaren am Wolgaknie sitzen die Wolga Bulgaren oder silbernen Bulgaren, ebenfalls ein handeltreibender, kräftiger türkischer Stamm, der damals an Zivilisation die übrigen Völker Ost-Europas überragte. Sie wurden im zehnten Jahrhundert zum Islam bekehrt. Wichtig für die Geschichte Russlands ist noch ein anderer türkischer Volksstamm, die Petschenegen, der erst im achten Jahrhundert aus Zentralasien aufbrach und von Verwandten der Osmanen und den Chasaren nach dem südwestlichen Russland, nach Bessarabien gedrängt wurde und lange Zeit den Verkehr der übrigen Völker Russlands nach der Balkanhalbinsel erschwerte. Die Petschenegen, die im Nibelungenliede dort erwähnt werden, wo die Reise von Etzel und Kriemhild nach Wien geschildert wird, waren ein wilder Volksstamm, die Erzbischof Brun von Querfurt um 1000 besucht hat. Den Bericht, den er über sie Heinrich Il. erstattet hat, besitzen wir. Im Norden und Osten sitzen Finnen.
Konnte also von Südosten aus. durch: die dort wohnenden türkischen Stämme den Slawen einige Zivilisation zufließen, so eröffnete sich andrerseits die Möglichkeit, an den europäischen Norden Anschluss zu finden. Über den Bottnischen Meerbusen, durch die finnischen Stämme hindurch kamen Skandinavier nach dem nördlichen und westlichen Russland als Kaufleute und Krieger. Sie hatten noch wilde Sitten. Ein Bericht des arabischen Chronisten Ibn Fadhlan, der 921 und 922 vom Kalifen Muktadir als Gesandter zu den Wolga Bulgaren geschickt wurde, gibt über sie Auskunft. Dieser erzählt:*)
*) Nach Thomsen, Der Ursprung des russischen Staates (Deutsche Übersetzung) S. 29 ff.
„Ich sah die Skandinavier, wie sie mit ihren Waren angekommen waren und sich am Fluss Itil (Wolga) gelagert hatten. Nie sah ich Leute von ausgewachsenerem Körperbau: sie sind hoch wie Palmbäume, fleischfarben und rot. Sie tragen keine Kamisole, auch keine Kaftans. Bei ihnen trägt der Mann ein grobes Gewand, das er um eine seiner Seiten herumwirft, so dass ihm eine Hand frei bleibt. Jeder führt eine Axt, ein Messer und ein Schwert bei sich. Ohne diese Waffen sieht man sie niemals. Ihre Schwerter sind breit, wellenförmig gestreift und von fränkischer Arbeit. Auf der einen Seite derselben befinden sich, von der Spitze bis zum Halse, Bäume, Figuren und dergleichen mehr dargestellt. Die Weiber haben auf der Brust eine kleine Büchse angebunden, von Eisen, Kupfer, Silber oder Gold, dem Verhältnisse des Vermögens ihres Mannes und seinen Umständen angemessen. An dem Büchschen ist ein Ring und an dem ein Messer, ebenfalls auf der Brust befestigt. Um den Hals tragen sie goldene und silberne Ketten. Wenn der Mann nämlich zehntausend Silberstücke besitzt, lässt er seiner Frau eine Kette machen; hat er zwanzigtausend, so bekommt sie zwei Halsketten; und so erhält seine Frau, so oft er zehntausend Silberstücke reicher wird, eine Kette mehr. Daher befindet sich oft eine ganze Menge Ketten an dem Halse einer skandinavischen Frau. Ihr größter Schmuck besteht in grünen Glasperlen von der Art, wie sie sich auf den Schiffen finden. Sie übertreibens damit, zahlen ein Silberstück für so eine Glasperle und reihen sie für ihre Weiber zum Halsbande. — sie sind die unsaubersten Menschen, die Gott geschaffen hat. .... Sie kommen aus ihrem Lande, legen ihre Schiffe im Itil, welches ein großer Fluss ist, vor Anker und bauen sich an dessen Ufern große Häuser von Holz. In so einem Hause leben ihrer zehn oder zwanzig, auch mehr oder weniger, zusammen. Jeder von ihnen hat eine Ruhebank, worauf er und mit ihm seine Mädchen und die Schönen, die zum Verhandeln bestimmt sind, sitzen. Jeden Tag waschen sie sich regelmäßig mit dem schmutzigsten und unreinlichsten Wasser, das es nur geben kann, Gesicht und Kopf. Alle Morgen nämlich kommt das Mädchen und bringt eine große Schale mit Wasser, die sie vor ihren Herrn stell. Der wäscht sich darin Gesicht und Hände, auch alle seine Haare wäscht er und kämmt sie mit dem Kamm in die Schüssel aus. Darauf schnäuzt er sich und spuckt ins Gefäß und lässt keinen Schmutz zurück, sondern tut ihn in dies Wasser ab. Wenn er, was nötig war, verrichtet, trägt das Mädchen die Schüssel zu dem, der ihm zunächst ist. Der machts wie jener. Sie aber fährt fort, die Schüssel von dem einen weg zu dem andern hin zu tragen, bis sie bei allen, die im Hause sind, herumgewesen ist, von denen jeder sich schnäuzt, in die Schüssel spuckt und Gesicht und Haare in derselben wäscht. — Sobald ihre Schiffe an diesen Ankerplatz gelangt sind, geht jeder von ihnen ans Land, hat Brot, Fleisch, Zwiebeln, Milch und berauschend Getränk bei sich, und begibt sich zu einem aufgerichteten hohen Holze, das wie ein menschlich Gesicht hat und von kleinen Statuen umgeben ist, hinter welchen sich noch andere hohe Hölzer aufgerichtet befinden. Er tritt zu der großen hölzernen Figur, wirft sich vor ihr zur Erde nieder und spricht: „O mein Herr, ich bin aus fernem Lande gekommen, führe so und so viel Mädchen mit mir und von Zobeln so und so viel Felle.“ Und wenn er so alle seine mitgebrachte Handelsware aufgezählt, fährt er fort: „Dir hab ich dies Geschenk gebracht“;. legt dann, was er gebracht, vor die hölzerne Statue, und sagt: „Ich wünsche, Du bescherest mir einen Käufer, der brav Gold- und Silberstücke hat, der mir abkauft alles, was ich möchte, und der mir in keiner meiner Forderungen zuwider ist.“ Dies gesagt, geht er weg. Wenn nun sein Handel schlecht geht, und sein Aufenthalt sich zu sehr verzieht, so kommt er wieder und bringt ein zweites und abermals ein drittes Geschenk. Und hat er noch immer Schwierigkeiten, zu erreichen, was er wünscht: so bringt er einer von jenen kleinen Statuen ein Geschenk dar und bittet sie um Fürsprache, indem er sagt: „Dies sind ja unsers Herrn Frauen und Töchter.“ Und. so fährt er fort, jede Statue, eine nach der andern, besonders anzugehen, sie zu bitten, um Fürsprache anzuflehen, und sich vor ihr in Demut zu verbeugen. Oft geht dann sein Handel leicht und gut, und er verkauft all seine mitgebrachte Ware. Da sagt er: „Mein Herr hat mein Begehr erfüllt: jetzt ist es meine Pflicht ihm zu vergelten.“ Darauf nimmt er eine Anzahl. Rinder und Schafe, schlachtet sie, gibt einen Teil des Fleisches an die Armen, trägt den Rest vor jene große Statue und vor die um sie herumstehenden kleinen und hängt die Köpfe der Rinder und Schafe an jenes Holz auf, das in der Erde aufgerichtet steht. In der Nacht aber kommen die Hunde und verzehren alles. Dann ruft der, der es hinlegte, aus: „Mein Herr hat an mir Wohlgefallen: er hat mein Geschenk verzehrt“ usw. usw.
Über die Festsetzung dieser Skandinavier in Russland haben wir den Bericht in dem ältesten russischen Prosawerk, der in Kiew um 1100: verfassten altrussischen Chronik, die dem Mönche Nestor zugeschrieben wird. Hier heißt es:
„Im Jahre 859. kamen die Waräger von jenseits der See und forderten Tribut von den Tschuden und von den Slawen, den Meren, den Wessen und den Kriwitschen; die Chasaren dagegen erhoben Tribut von den: Polänen, den Seweränen und den Wätitschen“ (alles Namen russischer Stämme).
„Im Jahre 862 trieben sie die Waräger über die See und zahlten ihnen keinen Tribut, und sie begannen sich selbst zu regieren, und es gab kein Recht unter ihnen, und Sippe erhob sich gegen Sippe, und es gab inneren Kampf zwischen ihnen, und sie begannen Krieg zu führen gegen einander. Und sie sagten zu einander: Lasst uns nach einem Fürsten suchen, der uns beherrschen kann und urteilen, was Recht ist. Und sie gingen über die See zu den Warägern, zu den Russen (Rus), denn so hießen diese Waräger: sie hießen Russen, wie andere Swien (Schweden) heißen, andere Nurmanen (Nordmannen, Norweger)... Die Tschuden, die Slaven, die Kriwitschen und die Wessen sagten zu den Russen: unser Land ist groß und reich, aber es ist keine Ordnung drin; kommt ihr und herrscht und gebietet über uns. Und drei Brüder wurden erwählt mit ihrer Sippe, und die nahmen alle Russen mit sich, und sie kamen. Und der Älteste, Rurik, ließ sich nieder in Nowgorod, und der zweite, Sineus, am Bjelo-osero, und der dritte, Truwor, in Isborsk. Und das Russenland, die Nowgoroder, wurde nach diesen Warägern genannt; dies sind die Nowgoroder von warägischem Blute, früher waren die Nowgoroder Slawen. Allein nach Verlauf von zwei Jahren starben die Brüder und Rurik übernahm die Herrschaft und verteilte die Städte unter seine Mannen.“
Diese kindlich einfache Schilderung besagt also: um 860 gründete der Waräger Rurik in Nowgorod (am Ausfluss des Wolchow aus dem Ilmensee) ein Reich, in dem sich Nordmänner, Finnen und Slaven vereinigten. Im selben Jahr sollen zwei seiner Mannen, Askold und Dir, den Dnjepr abwärts gezogen sein und in Kiew, der Hauptstadt der Poljänen, ein unabhängiges Königreich gebildet haben. Zwanzig Jahre später eroberte Ruriks Nachfolger und Verwandter Oleg dies Fürstentum.
Also sind die ostslawischen Stämme zuerst von nord-germanischen Kriegern staatlich geeint. Das Fürstengeschlecht, das zuerst einen russischen Staat schuf, hat germanischen Ursprung: daran ist kein Zweifel. Die Angaben der Nestorschen Chronik werden vor allem bestätigt dadurch; dass diese Waräger skandinavische Namen tragen, wie der genannte Oleg, das ist altnordisch Helge, ein Name, der in der altnordischen Sage eine große Rolle spielt. Ihre Namen weisen nach dem mittleren Schweden, und zwar heißen sie Russen, weil die finnischen Stämme am Bottnischen Meerbusen und der Ostsee die Schweden Ruotsi nennen. Diese Bezeichnung nahmen die Slawen auf und nannten so die Nordmänner, die zu ihnen kamen. Von Nowgorod wandert sie nach Kiew und bleibt hier eigentlich haften und wird von hier über alle Gebiete ausgedehnt, die der russischen Krone untertan werden; ähnlich wie Frankreich, ursprünglich Reich der germanischen Franken, später mit der Nationalität nichts mehr zu tun hat und nur noch politisch-geographische Bedeutung besitzt. Auch Waräger, von denen die Russen eine Unterabteilung bilden sollen, ist ein skandinavischer Name, wohl ursprünglich der Name für Schweden bei den Skandinaviern, die sich östlich der Ostsee angesiedelt hatten. Die Waräger kamen als Kaufleute und Krieger nach Russland und brachten den dortigen Slaven auch eine Reihe von nordgermanischen Wörtern, so z.B. russisch knut „Peitsche“ aus altisländisch knurt „Knorren, Knoten“ (dasselbe Wort wie unser „Knoten“), ursprünglich „Knotenpeitsche“, dass dann wie viele Wörter unseres Fuhrwesens („Kutsche, Droschke“ usw.) von uns aus dem Ostslawischen übernommen wurde.
Wie alle Barbaren zog es auch die skandinavischen Russen nach den Ländern der Kultur, durch Russland nach Byzanz. Diese Züge waren nur ein Teil der Wikingerzüge, die die Skandinavier seit dem neunten Jahrhundert nach Westeuropa und zu den fernsten Küsten Europas unternahmen. Früher als ihre Stammesgenossen, die später um 1100 von Italien aus unter dem berühmten Robert Guiscard und Roger II. Byzanz hart zusetzten, wobei sie die Waräger-Scharen im Dienste des griechischen Kaisers schlugen, kamen die russischen Normannen nach Griechenland. Auch hier zeigen sie sich als kühne Seefahrer, die den Dnjepr hinab ins Schwarze Meer fuhren und von hier aus Konstantinopel mehrfach bedrohten. So 907: Oleg segelte mit 2.000 Seglern gegen die Stadt. Die Griechen hatten den Zugang zur Stadt von der Seeseite gesperrt. Da zogen die Russen ihre Schiffe ans Land, versahen sie mit Rädern und sperrten die Segel auf. Der Wind blies in die Segel und so segelten sie auf trockenem Lande auf die Stadt zu. Das erschreckte die Griechen und sie er kauften schleunigst den Frieden dadurch, dass sie hohen Tribut zahlten. Erst 1043 hörten diese Angriffe auf. Nach Olegs Tod kam Ruriks Sohn Igor bei den Russen zur Regierung (schwedisch Ingvarr). Nach ihm führte die Regierung für seinen minderjährigen Sohn seine Frau, eine vornehme Skandinavierin namens Helga, russisch Olga, die erste Russin dieses Namens, den wir übernahmen. Ihr Sohn Swjatoslaw trägt den ersten slawischen Namen bei den Ruriks, und seitdem finden sich bei den Nachkommen Ruriks fast nur noch slawische Namen: die Normannen wurden vollständig slawisiert. Und zwar geschah dies zuerst in Kiew, wo mit dem Ende der Wikingerzeit 1030 auch Skandinavier in Kiew verschwinden. Weit länger hielten sich Skandinavier in Nowgorod. Dies ist eine der interessantesten Städte des Mittelalters, nicht zu verwechseln mit Nischni-Nowgorod an der Wolga, östlich von Moskau. Unser Nowgorod gelangte vermittels seiner glänzenden Lage zu einem blühenden Handel und entwickelte sich im elften Jahrhundert zu einer Handelsstadt, die an Bedeutung und Größe mit unsern großen Hansestädten, Danzig und Lübeck, zu vergleichen ist. Sie war von den russischen Fürsten fast unabhängig und bildete eine freie, demokratische Verfassung aus. Ihre Beziehungen zu Schweden, besonders auch nach Gotland, sind bedeutend. Aber bald erlangten hier die Hanseaten den größten Einfluss; schon 1184 erbauen sie eine deutsche Kirche, St. Peter, sie schließen sich zum „Deutschen Hof“ zusammen, der seine eignen Ordnungen und Satzungen hat. Zweimal jährlich, im Frühling und im Herbst, trafen die überseeischen Kaufleute in Nowgorod ein und tauschten ihre Waren gegen die Russlands. Allerdings zu weiterer Macht den Deutschen und Schweden gegenüber brachte die Stadt es nicht, da sie keine Kriegsflotte besaß. Die Tatarenstürme hat sie leidlich überstanden, erst Iwan III. hat ihre Macht endgültig gebrochen. Er verpflanzte ihre angesehensten und reichsten Kaufleute nach Moskau und nahm der Stadt jede Möglichkeit eines neuen Aufschwungs.
Die Beziehungen zu Griechenland brachten noch ein anderes sehr folgenschweres Ereignis. Der Sohn von Swjatoslaw, Wladimir der Große, wohl der bedeutendste dieser Fürsten, führte 988 das Christentum offiziell ein, und zwar nachdem er die griechische Kaisertochter Anna geheiratet hatte. Für Byzanz bedeutete das das Ende der russischen Angriffe, das hierdurch erkauft wurde. Wladimir erzwang dann den Übertritt zum Christentum in dem von ihm beherrschten Gebiet mit Gewalt. Zugleich damit kam die slawische Liturgie ins Land, und obwohl die Griechen den Russen noch jahrhundertelang ihre höheren Geistlichen lieferten, war die russische Kirche von Anfang an auch wegen des Gebrauchs der slawischen Sprache recht selbständig: das Christentum erhielt spezifisch nationale Färbung. Die slawische Liturgie bot ferner den Vorzug, dass die Russen so zu einem Alphabet und einer Schriftsprache kamen, die ihnen relativ verständlich war. Sie erhielten durch die griechischen Schriften, die vor allem in Bulgarien zahlreich im zehnten Jahrhundert ins Kirchenslawische übersetzt waren, plötzlich eine eigene Literatur. Wladimir ließ sich die Verbreitung von Kenntnissen in der neuen Lehre angelegen sein: die Kinder aus den vornehmen Familien wurden im Christentum unterwiesen. Das russische Leben entfaltete sich im elften Jahrhundert sehr reich. In Kiew wurden zahlreiche Kirchen und Klöster gebaut, für das Ausland ward es eine Stadt von märchenhafter Pracht. Jaroslaw, der Sohn Wladimirs, mit dem kirchlichen Namen Jurij (das ist Georg), der Gründer von Jurjew-Dorpat, verheiratete seine Töchter an die Könige von Frankreich, Ungarn, Norwegen und an den polnischen Fürsten. Er selbst legte sich ganz auf das Studium und ließ viele fromme Schriften aus dem Griechischen ins Slawische übertragen.
Aber damit hatte auch die geistige Entwicklung Russlands für Jahrhunderte ihren Höhepunkt erreicht, und auf den bescheidenen Höhenstieg folgte bald ein Abfall. Hat es unleugbar seine Nachteile, dass ein Volk seine heiligen Schriften nicht in seiner eigenen Sprache liest, so ist damit doch auch ein sehr wesentlicher Vorteil verbunden besonders bei noch ungebildeten Völkern. Sie werden gezwungen, sich Kenntnisse in der betreffenden fremden Sprache anzueignen, wie Franzosen und Deutsche, zum mindesten die Geistlichen, im Mittelalter Lateinisch erlernen mussten. Dagegen brauchte der russische Pope bei den geringen Unterschieden zwischen Kirchenslawisch und Russisch nur etwas lesen zu können und hat sich meist damit begnügt. Griechisch konnten die wenigsten; die es kannten, lasen doch nur heilige Schriften. Wichtiger aber waren die Beziehungen zu Byzanz dafür, dass die russische Kirche Mitte des elften Jahrhunderts bei der Kirchenspaltung zwischen Rom und Byzanz mit letzterem ging; denn nun war eine Scheidewand zwischen Westen und Osten aufgerichtet, die in den geographischen Verhältnissen nicht begründet ist. Die „Römer“ waren Heiden, auf die man mit Verachtung herabblickte, die man aufs äußerste als Ketzer hasste. Die Russen mussten vor jeder Berührung mit diesen Häretikern geschützt werden. Man warf der römisch-katholischen Kirche unter anderem vor, dass ein Pseudopetrus als Papst den alten heiligen Glauben in Rom vernichtet habe usw. Damit waren die Beziehungen zur Kultur des Westens abgebrochen. Vom Süden her aber konnte bald keine Einwirkung mehr kommen, als die Türken den glaubensgleichen Balkan unterworfen hatten.
Noch heute ist die russisch-katholische Kirche wohl das Haupthindernis für die Verbreitung von Gesittung und Kultur unter den Russen. Man kann sich den Einfluss der Kirche in Russland kaum groß genug denken. Ein Beispiel mag genügen, um ihn äußerlich zu illustrieren: die Vornamen der Russen sind samt und sonders kirchlich, meist griechischen Ursprungs wie Alexander, Nikolaus. Während die andern slawischen Völker viele slawische Namen als Vornamen beibehalten haben, hat das das russische nur soweit getan, als ihre Träger von der Kirche heiliggesprochen sind wie Wladimir. Die russische Kirche steckt voll von niedrigem Aberglauben, den sie mehr im Volke festhält als bekämpft, und so erklärt es sich, dass solche fanatischen Finsterlinge wie Iliodor und Rasputin noch heute ihren Einfluss auf die Kreise vom Zaren bis zum Muschik ausüben können. Andrerseits hat die russische Kirche zweifellos in erster Linie das Verdienst, den Russen ein einheitliches Empfinden gegeben zu haben: „Mütterchen Russland“ ist der Hort des Zarentums und der Kirche. Dem Volke gibt sein Glaube Trost und Stütze in seiner gedrückten, oft jammervollen Lage, und das erklärt zum großen Teil die hohe Schätzung der russisch griechischen Kirche bei manchen der ersten russischen Schriftsteller wie vor allem bei Dostojewski. Das ist freilich etwas, was mehr oder weniger jede Religion, jeder Glaube leistet, und nur Unwissenheit und Überhebung nehmen das allein für die eigene Religion in Anspruch. Und der Hass gegen alles Andere wächst vor allem zweifellos in Russland von der Kirche aus.
Nach der kurzen Blütezeit Russlands unter den ersten Nachkommen Ruriks begann bald der Niedergang. Äußerlich war für den russischen Staat ungünstig, dass nicht Einer das gesamte Reich erbte. Vielmehr ward der älteste Nachkomme Großfürst von Kiew, die übrigen Brüder bekamen Teilfürsten tümer: so war eins in Smolensk, eins in Perejaslawl, eins in Tschernikow, eins in Wladimir. Starb der Großfürst, so erhielt nicht dessen ältester Sohn, sondern der älteste der Teilfürsten, sofern sein Vater Großfürst gewesen war, dessen Würde und so fort. Näher kann das komplizierte Erb system hier nicht geschildert werden. Natürlich brachen nun Zwistigkeiten aus, die Macht Kiews ging zurück, die Teilfürstentümer überflügelten es, so der Fürst von Susdal im Nordosten Russlands. Die Entwicklung Russlands kam unter diesen Kämpfen nicht vorwärts. Im dreizehnten Jahrhundert, aber trat dann ein Ereignis ein, das zu allem Vorhergehenden Mitschuld ist an der Unkultur Russlands, die Herrschaft der Mongolen. Diese, den Türken sprachlich nahestehend, saßen im östlichen Nord- und Zentralasien. Während ein Teil von ihnen früh unter den Einfluss chinesischer und indischer Kultur geriet, blieben andere Stämme unzivilisiert. Von den letzteren brachen Horden unter der Herrschaft Tamudschins um 1200 aus ihren Wohnsitzen in Zentralasien auf. Er legte sich den Namen Dschingis-Khan = großer Khan bei. Er war einer der gewaltigsten Männer und Kriegshelden aller Zeiten, ein meisterhafter Organisator, aber auch einer der blutigsten und gewalttätigsten Menschen der Geschichte. Die große, reiche und blühende Kulturstadt Vorderasiens, die damals durchaus auf gleicher Kulturstufe mit der gleichzeitigen Europas stand, und von der uns Goethe ein anschauliches Bild in seinen Noten zum Westöstlichen Diwan gegeben, ward durch ihn vernichtet. 1224 wurden auch die Russen an der Kalka, einem kleinen Fluss, der sich ins Asowsche Meer ergießt, geschlagen. Damit war das Schicksal Russlands für zwei Jahrhunderte entschieden, diese ganze Zeit über waren die Mongolen Herren im Lande. Die Tataren, wie die Mongolen nach einem ihrer Stämme meist genannt werden, drangen weiter nach Westen, zerstörten Kiew und viele andere Städte, fielen in Ungarn ein, erlitten aber 1241 eine Niederlage bei Liegnitz, und wurden in der Folge von einem weiteren Vor dringen in Europa abgehalten. Erst unter Iwan III. (1462 — 1505) ward ihre Macht vollständig gebrochen. Natürlich blieb diese Oberhoheit für Russland nicht ohne Folgen. Die Barbarei dieser Mongolen musste auf jeden Fortschritt hemmend ein wirken. Aber man soll den Einfluss der Tataren auf die Entwicklung des russischen Charakters auch nicht überschätzen. Es war durchaus nicht so, dass die Tataren überall in Russland saßen. Ihr Reich mit der berühmten Hauptstadt Sarai bei Zarew war an der unteren Wolga gelegen, das Reich der goldnen Horde. In Russland erhoben sie hauptsächlich nur ihre Abgaben. Dazu kommt noch eins: es ist ein Märchen, als ob die Tataren milderen Sitten unzugänglich gewesen wären. Im Osten Asiens erfuhren sie bald den mildernden Einfluss chinesischer Kultur, und heute gelten die vornehmen Tataren in Russland als gebildete Leute, die z. B. in Kasan in der besten Gesellschaft verkehren.
In jener zweihundertjährigen Oberherrschaft der Mongolen erhob sich allmählich Moskau durch Gewalt und kriegerische Tüchtigkeit, durch List und Tücke, zu einer beherrschenden Stellung, die ihm seit Iwan III. unbedingt zukommt. Es erweiterte seine Macht vor allem auch dadurch, dass es der Mittelpunkt der russischen Kirche wurde. Der Oberste der russischen Geistlichkeit war zuerst Metropolit von Kiew. Als dann während der Periode des Mongolenjoches der Schwerpunkt des russisch-politischen Lebens immer mehr in den Nordosten Russlands verlegt ward, siedelte der Metropolit 1299 erst nach Wladimir, dann 1326 nach Moskau über. Die Interessen von Kirche und Staat wurden nun in Moskau solidarisch. Die Metropoliten waren kluge Vertreter in den Beziehungen Moskaus zu den Tataren. Sie hoben das Ansehen der Moskauer Großfürsten und wurden die wesentlichsten Stützen des Zarentums. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken ernannten die Großfürsten Moskaus die Metropoliten selbst; ihre Wahl ward unabhängig vom Patriarchen von Konstantinopel. Jetzt ward der einzige unabhängige griechisch-katholische Staat die Hoffnung aller Rechtgläubigen. Als Iwan der IV. 1542 den Zarentitel annahm, ließ er sich vom Patriarchen von Konstantinopel ausdrücklich seine Verwandtschaft mit dem byzantinischen Kaiserhaus und sein Recht auf die Krone von Byzanz bestätigen. Moskau galt nun als das dritte Rom, und der Zar als Beschützer der vom Islam unterjochten Slawen und Griechen, von dem man die Befreiung von der türkischen Herrschaft erhoffte. Das in Verbindung mit wirtschaftlichen Gründen hat der russischen Politik vor allem die Richtung auf den Erwerb Konstantinopels gegeben und dies Streben so ungeheuer volkstümlich gemacht.
Von europäischem Einfluss ist in dieser ganzen Zeit noch wenig zu merken. Erst Peter der Große aus dem Hause Romanow (seit 1613) 1682—1725 stellte endgültig eine engere Verbindung her. Aber groß ist dieser Einfluss auf Russland überhaupt noch nicht gewesen, und ob dieser Krieg ihn fördern wird, ist die Frage.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russlands Entwicklung und die Ukrainische Frage