Zweite Fortsetzung
Das Buch zerfällt in zwei Teile, davon behandelt der erste das Geistesleben Russlands, dessen Kunst, Philosophie und Literatur, der zweite den politischen Bau, die sozialen Bewegungen und das Gesellschaftsleben Russlands. Folgende Abhandlungen finden voraussichtlich im ersten Teil ihre Aufnahme:
Die russische Kunst. Die russische Musik. Die Philosophie. Die russische Volksdichtung (2 Aufsätze). Die schöne Literatur (3 bis 4 Aufsätze). Das Theater. Die Ideologie der russisch-orthodoxen Religion.
Die Wahl der meisten Themata braucht nicht weiter begründet zu werden; nur einige Geleitworte sollen daher hier beigefügt werden.
Die russische bildende Kunst, vor allem die russische Architektur, ist in Westeuropa fast völlig unbekannt, und doch weist sie manche urwüchsige Züge auf, die weit über den Rahmen des bloß geographisch-historischen Interesses hinausragen. So hat z. B. die russische Architektur, ausgehend von der in Russland bodenständigen durch die allgemeinen klimatischen und geographischen Verhältnisse Russlands bedingten Holzarchitektur, eine ganz eigentümliche Entwicklung genommen.
Die drei für die allgemeine Geschichte Russlands wesentlichsten Momente: die innigen Beziehungen zu Byzanz, die tatarische Invasion und die Reformen Peters des Großen — finden auch im Schicksal der russischen Kunst ihren Ausdruck. Im parallel mit dem ersten Teil erscheinenden zweiten Teil unseres Werkes wird auch der Leser einen kurzen Umriss der Geschichte Russlands finden.
Die geographische Lage Russlands ist von allen übrigen Ländern Europas durch seine Mittelstellung zwischen dem aufstrebenden, zivilisierten Westen und dem zum Teil schon dem Verfall entgegengehenden, zum Teil noch ganz barbarischen Osten ausgezeichnet. Zwischen dem Westen, dessen Einfluss auf das russische Leben erst mit der Reform Peters des Großen ein entschiedenes Übergewicht erhält, und dem asiatischen, zum Teil von Nomadenvölkern bewohnten Osten lag im äußersten Süden, an der Ausgangspforte des Schwarzen Meeres, ein Kulturzentrum, dessen Einfluss in den Anfängen der russischen Kultur für Russland in mancher Beziehung entscheidend wurde: Byzanz-Zargrad, die Kaiserstadt. Besonders die religiösen und künstlerischen Formen des russischen Lebens wurden, zum Teil dauernd, beeinflusst von der fortgeschritteneren byzantinischen Kultur. In dieser Zeit scheint sich Südrussland relativ rasch und segensreich zu entwickeln. Seine politische Verfassung, die sich dem byzantinischen Einfluss entzieht, ist freiheitlich und human ausgestattet. — Doch erfährt diese reiche Entwicklung eine jähe Unterbrechung durch den nomadisierenden östlichen Volksstamm — die Tataren. Südrussland wird zerstört und geknechtet, ein Volk, dessen Kultur weit hinter der damals so zukunftsfroh aufstrebenden Kultur Südrusslands stand, wird zum unumschränkten Herrn über das eroberte Land. Die Bevölkerung Südrusslands flüchtet, soweit sie nicht in fremde Abhängigkeit gerät, in die fernen nördlichen Gegenden Russlands. Erst nach zweihundertfünfzig Jahren schüttelte Russland das fremde Joch ab. Aber es war nicht mehr das gleiche Land, nicht das gleiche Volk wie vor der großen Invasion. Jahrhunderte waren nötig, um die Spuren der Fremdherrschaft, soweit dies überhaupt noch möglich war, zu tilgen, die inzwischen verloren gegangenen eigenen Kulturwege wieder zu finden. — Nach einer weiteren Periode von etwa zwei Jahrhunderten wurde die innere Entwicklung Russlands wieder durch die gewaltsame Reform Peters des Großen in ihren Grundfesten erschüttert. Über den Wert der großen Reform sind die russischen Historiker geteilter Meinung; eines aber steht fest: es war ein gewaltsamer Eingriff in den Bau und den Entwicklungsgang Russlands, der neben mancher an sich wertvollen Neuerung, die er brachte, dem künstlerischen und religiösen Leben Russlands tiefe Wunden schlug. Der organische Entwicklungsprozess wurde unterbrochen, das Volk sah sich vor ganz neue, unbekannte Formen und Inhalte gestellt, die dank der unumschränkten Gewalt des Herrschers bis tief ins Leben des gesamten Volkes hineingetragen wurden. Es war wie ein gewaltsames Brechen eines lebendigen Astes: manche Faser riss und ging zugrunde, andere bogen sich, veränderten ihre Richtung und trieben ihre Säfte kümmerlich weiter, während der gewalttätige Gärtner dem organischen Wachstum des Volksbaumes eine bestimmte von ihm vorgezeichnete Form zu geben bemüht war. Durch die Reform Peters des Großen verlor Russland vieles von seiner Eigenart, und erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts scheint das russische Volk begonnen zu haben, das eigene Wesen, die eigenen Wege tastend wieder zu erkennen.
Wie oben gesagt, spiegeln sich die gewichtigsten geschichtlichen Ereignisse wie im allgemeinen Kulturleben Russlands, so im besonderen auch in seiner Kunst wieder. Die Malerei weist, wie die Architektur, in ihren Anfängen den Einfluss der Kunst von Byzanz, den vernichtenden Einfluss der Tatareninvasion, den gewaltsamen Eingriff der Petrowschen Reformen auf. Daher ist die Entwicklung der russischen Kunst kaum mit derjenigen Irgendeines anderen Volkes unmittelbar zu vergleichen, und kann auch der gegenwärtige Stand der künstlerischen Entwicklung Russlands nur richtig verstanden werden, wenn der leidensvolle Weg, den Russland hinter sich hat, erkannt und mitberücksichtigt wird.
Die russische Musik ist in Westeuropa teilweise schon eingedrungen. Sie weist relativ wenig fremde Einflüsse auf und entspringt bei ihren bedeutendsten Repräsentanten aus dem Herzen des Volkes, aus dem reichen Schatz der Volksmelodien, die vom russischen Landmann geschaffen und gesungen werden. Die russische Kunstmusik ist noch außerordentlich jung, sie ist erst in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom ersten großen nationalen Komponisten Russlands, Glinka, begründet worden. Gerade ihre Eigenart setzt ihrer rascheren Verbreitung in Westeuropa gewisse Schwierigkeiten in den Weg; sie ist es aber, die den inneren Wert der russischen Musik ausmacht und ihre allgemeinere Anerkennung mit der Zeit erkämpfen wird.
Die schöne Literatur Russlands nimmt ihren Ausgangspunkt von der Volksdichtung: Volksmärchen waren es, die den ersten und bis heutzutage größten russischen Dichter, den Schöpfer der russischen literarischen Sprache, des russischen Versbaues und der russischen Prosa, A. S. Puschkin, in seiner Jugend anregten und zur Bearbeitung ihres poetischen Stoffes veranlassten. Im Volksepos kommen bestimmte nationale Züge zur Geltung, die wir anderswo vergebens in gleicher Anschaulichkeit anzutreffen suchen würden. Wir schließen daher der Besprechung der russischen schönen Literatur einen Aufsatz über das Volksepos an. Aus mehr als einem Grunde musste dem Begründer der russischen schönen Literatur, A. S. Puschkin, eine besondere Abhandlung gewidmet werden: seine großen Nachfolger, Dostojewskij, Turgenjew, Tolstoj und andere, sind dem westeuropäischen Leser nicht nur dem Namen nach bekannt, dagegen ist selbst der Name Puschkins vielleicht dem größten Teil des gebildeten Publikums Westeuropas unbekannt geblieben. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass keine einzige sich der Schönheit des Originals einigermaßen annähernde Übersetzung der Werke Puschkins existiert. Um so notwendiger erschien es uns, unseren Leser wenigstens auf diesem indirekten Weg mit dem größten russischen Dichter bekannt zu machen.
Die russische Philosophie ist ihre eigenen, von der westeuropäischen modernen Philosophie gänzlich abweichende Wege gegangen. Der Mystiker des Mittelalters würde in der russischen Philosophie viele verwandte Züge entdecken, die in großartig hingeworfenen kosmischen Gestaltungen russischer Geistesseher ihren Ausdruck finden; dagegen wird der westeuropäische systematische Philosoph geneigt sein, fast die ganze Entwicklung der russischen urwüchsigen Philosophie ins Bereich der Religion und der Mythenbildung zu verweisen. In der Tat ist es ein Grundzug der russischen Philosophie, dass sie in nächster Berührung zur Religion steht und wechselseitig eine Bereicherung des religiös-philosophischen Lebens der russischen „Gottessucher“ bedingt. So fremd ihr die neuere Philosophie Westeuropas gegenwärtig auch gegenüberstehen wird, so erscheint eine Bereicherung derselben durch religiös-mystische Anregungen von selten der russischen Philosophie keineswegs ausgeschlossen.
Die russische Kunst. Die russische Musik. Die Philosophie. Die russische Volksdichtung (2 Aufsätze). Die schöne Literatur (3 bis 4 Aufsätze). Das Theater. Die Ideologie der russisch-orthodoxen Religion.
Die Wahl der meisten Themata braucht nicht weiter begründet zu werden; nur einige Geleitworte sollen daher hier beigefügt werden.
Die russische bildende Kunst, vor allem die russische Architektur, ist in Westeuropa fast völlig unbekannt, und doch weist sie manche urwüchsige Züge auf, die weit über den Rahmen des bloß geographisch-historischen Interesses hinausragen. So hat z. B. die russische Architektur, ausgehend von der in Russland bodenständigen durch die allgemeinen klimatischen und geographischen Verhältnisse Russlands bedingten Holzarchitektur, eine ganz eigentümliche Entwicklung genommen.
Die drei für die allgemeine Geschichte Russlands wesentlichsten Momente: die innigen Beziehungen zu Byzanz, die tatarische Invasion und die Reformen Peters des Großen — finden auch im Schicksal der russischen Kunst ihren Ausdruck. Im parallel mit dem ersten Teil erscheinenden zweiten Teil unseres Werkes wird auch der Leser einen kurzen Umriss der Geschichte Russlands finden.
Die geographische Lage Russlands ist von allen übrigen Ländern Europas durch seine Mittelstellung zwischen dem aufstrebenden, zivilisierten Westen und dem zum Teil schon dem Verfall entgegengehenden, zum Teil noch ganz barbarischen Osten ausgezeichnet. Zwischen dem Westen, dessen Einfluss auf das russische Leben erst mit der Reform Peters des Großen ein entschiedenes Übergewicht erhält, und dem asiatischen, zum Teil von Nomadenvölkern bewohnten Osten lag im äußersten Süden, an der Ausgangspforte des Schwarzen Meeres, ein Kulturzentrum, dessen Einfluss in den Anfängen der russischen Kultur für Russland in mancher Beziehung entscheidend wurde: Byzanz-Zargrad, die Kaiserstadt. Besonders die religiösen und künstlerischen Formen des russischen Lebens wurden, zum Teil dauernd, beeinflusst von der fortgeschritteneren byzantinischen Kultur. In dieser Zeit scheint sich Südrussland relativ rasch und segensreich zu entwickeln. Seine politische Verfassung, die sich dem byzantinischen Einfluss entzieht, ist freiheitlich und human ausgestattet. — Doch erfährt diese reiche Entwicklung eine jähe Unterbrechung durch den nomadisierenden östlichen Volksstamm — die Tataren. Südrussland wird zerstört und geknechtet, ein Volk, dessen Kultur weit hinter der damals so zukunftsfroh aufstrebenden Kultur Südrusslands stand, wird zum unumschränkten Herrn über das eroberte Land. Die Bevölkerung Südrusslands flüchtet, soweit sie nicht in fremde Abhängigkeit gerät, in die fernen nördlichen Gegenden Russlands. Erst nach zweihundertfünfzig Jahren schüttelte Russland das fremde Joch ab. Aber es war nicht mehr das gleiche Land, nicht das gleiche Volk wie vor der großen Invasion. Jahrhunderte waren nötig, um die Spuren der Fremdherrschaft, soweit dies überhaupt noch möglich war, zu tilgen, die inzwischen verloren gegangenen eigenen Kulturwege wieder zu finden. — Nach einer weiteren Periode von etwa zwei Jahrhunderten wurde die innere Entwicklung Russlands wieder durch die gewaltsame Reform Peters des Großen in ihren Grundfesten erschüttert. Über den Wert der großen Reform sind die russischen Historiker geteilter Meinung; eines aber steht fest: es war ein gewaltsamer Eingriff in den Bau und den Entwicklungsgang Russlands, der neben mancher an sich wertvollen Neuerung, die er brachte, dem künstlerischen und religiösen Leben Russlands tiefe Wunden schlug. Der organische Entwicklungsprozess wurde unterbrochen, das Volk sah sich vor ganz neue, unbekannte Formen und Inhalte gestellt, die dank der unumschränkten Gewalt des Herrschers bis tief ins Leben des gesamten Volkes hineingetragen wurden. Es war wie ein gewaltsames Brechen eines lebendigen Astes: manche Faser riss und ging zugrunde, andere bogen sich, veränderten ihre Richtung und trieben ihre Säfte kümmerlich weiter, während der gewalttätige Gärtner dem organischen Wachstum des Volksbaumes eine bestimmte von ihm vorgezeichnete Form zu geben bemüht war. Durch die Reform Peters des Großen verlor Russland vieles von seiner Eigenart, und erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts scheint das russische Volk begonnen zu haben, das eigene Wesen, die eigenen Wege tastend wieder zu erkennen.
Wie oben gesagt, spiegeln sich die gewichtigsten geschichtlichen Ereignisse wie im allgemeinen Kulturleben Russlands, so im besonderen auch in seiner Kunst wieder. Die Malerei weist, wie die Architektur, in ihren Anfängen den Einfluss der Kunst von Byzanz, den vernichtenden Einfluss der Tatareninvasion, den gewaltsamen Eingriff der Petrowschen Reformen auf. Daher ist die Entwicklung der russischen Kunst kaum mit derjenigen Irgendeines anderen Volkes unmittelbar zu vergleichen, und kann auch der gegenwärtige Stand der künstlerischen Entwicklung Russlands nur richtig verstanden werden, wenn der leidensvolle Weg, den Russland hinter sich hat, erkannt und mitberücksichtigt wird.
Die russische Musik ist in Westeuropa teilweise schon eingedrungen. Sie weist relativ wenig fremde Einflüsse auf und entspringt bei ihren bedeutendsten Repräsentanten aus dem Herzen des Volkes, aus dem reichen Schatz der Volksmelodien, die vom russischen Landmann geschaffen und gesungen werden. Die russische Kunstmusik ist noch außerordentlich jung, sie ist erst in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom ersten großen nationalen Komponisten Russlands, Glinka, begründet worden. Gerade ihre Eigenart setzt ihrer rascheren Verbreitung in Westeuropa gewisse Schwierigkeiten in den Weg; sie ist es aber, die den inneren Wert der russischen Musik ausmacht und ihre allgemeinere Anerkennung mit der Zeit erkämpfen wird.
Die schöne Literatur Russlands nimmt ihren Ausgangspunkt von der Volksdichtung: Volksmärchen waren es, die den ersten und bis heutzutage größten russischen Dichter, den Schöpfer der russischen literarischen Sprache, des russischen Versbaues und der russischen Prosa, A. S. Puschkin, in seiner Jugend anregten und zur Bearbeitung ihres poetischen Stoffes veranlassten. Im Volksepos kommen bestimmte nationale Züge zur Geltung, die wir anderswo vergebens in gleicher Anschaulichkeit anzutreffen suchen würden. Wir schließen daher der Besprechung der russischen schönen Literatur einen Aufsatz über das Volksepos an. Aus mehr als einem Grunde musste dem Begründer der russischen schönen Literatur, A. S. Puschkin, eine besondere Abhandlung gewidmet werden: seine großen Nachfolger, Dostojewskij, Turgenjew, Tolstoj und andere, sind dem westeuropäischen Leser nicht nur dem Namen nach bekannt, dagegen ist selbst der Name Puschkins vielleicht dem größten Teil des gebildeten Publikums Westeuropas unbekannt geblieben. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass keine einzige sich der Schönheit des Originals einigermaßen annähernde Übersetzung der Werke Puschkins existiert. Um so notwendiger erschien es uns, unseren Leser wenigstens auf diesem indirekten Weg mit dem größten russischen Dichter bekannt zu machen.
Die russische Philosophie ist ihre eigenen, von der westeuropäischen modernen Philosophie gänzlich abweichende Wege gegangen. Der Mystiker des Mittelalters würde in der russischen Philosophie viele verwandte Züge entdecken, die in großartig hingeworfenen kosmischen Gestaltungen russischer Geistesseher ihren Ausdruck finden; dagegen wird der westeuropäische systematische Philosoph geneigt sein, fast die ganze Entwicklung der russischen urwüchsigen Philosophie ins Bereich der Religion und der Mythenbildung zu verweisen. In der Tat ist es ein Grundzug der russischen Philosophie, dass sie in nächster Berührung zur Religion steht und wechselseitig eine Bereicherung des religiös-philosophischen Lebens der russischen „Gottessucher“ bedingt. So fremd ihr die neuere Philosophie Westeuropas gegenwärtig auch gegenüberstehen wird, so erscheint eine Bereicherung derselben durch religiös-mystische Anregungen von selten der russischen Philosophie keineswegs ausgeschlossen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland