Vorrede

... In der Tat waren für mich alle anderen Fragen dieser einen untergeordnet; und wenn ich, trotz der Arbeiten, womit ich teils im Staatsrate, teils im Finanzministerium überhäuft wurde, noch Willenskraft genug fand, um in verschiedenen Schriften rechtswissenschaftliche, administrative, finanzielle Fragen abzuhandeln, so lag im Hintergrunde aller meiner Gedanken die Emanzipation; vorzugsweise für die Leibeigenen wünschte ich die Wohltaten der Zivilisation, weil, sie derselben am meisten bedurften, und mich deren am würdigsten zu sein schienen. Die Klasse der russischen Bauern ist stets und vor allen anderen der Gegenstand meiner Zuneigung gewesen - einer Neigung, die um so lebhafter ist, da ich Niemanden gesehen habe, der diesen Leuten die schuldige Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen. Ihrem Wohle widmete ich damals fast alle meine Nächte, und die Zeit hat diese brüderliche Zuneigung nur gesteigert. Das vorliegende Werk wird ein neuer Beweis dafür sein. Ja, ich liebe sie, diese braven russischen Leibeigenen, und bis zu dem geheiligten Barte, der sie noch auszeichnet, ist Alles an ihnen für mich ein Gegenstand der Achtung.

Ich verhehle es mir nicht, dass ich durch den Angriff auf einen Übelstand, der so vielen hohen und mächtigen Personen von Vorteil ist, furchtbare Feindschaften auf mein Haupt herabbeschwor. Noch heute wird mir die Wärme, womit ich die Verteidigung des Schwachen gegen den Starken, des Unterdrückten gegen den Unterdrücker übernehme, unstreitig von Seiten gewisser Menschen Spöttereien und Verhöhnung zuziehen. Aber was kümmerte mich, und was kümmert mich noch jetzt die Meinung der Dummheit oder der Rohheit? Nur Verachtung habe ich für jene Menschen, die sich in die Lumpen einer erkünstelten Zivilisation hüllen, und nicht erröten, ihres Gleichen auf eine so nichtswürdige Weise auszubeuten, nur Mitleid habe ich für diejenigen, die bei so vielen Ungerechtigkeiten stumm und gefühllos bleiben. Nur eine Beifallsbezeigung könnte mir schmeicheln, nämlich die der Leibeigenen, wenn sie jemals zu erkennen vermöchten welch lebhaftes Mitgefühl ich für sie empfinde.


Meine durch so viele Anstrengungen zerstörte Gesundheit nötigte mich endlich, unter milderen Himmelsstrichen die Genesung zu suchen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass die Zeit, die ich fern vom Vaterlande verbringen sollte, für meine Arbeiten nicht verloren sein würde. Ich wollte den mir bewilligten Urlaub dazu benutzen, vorzugsweise einige auf die meinem Lande so nötigen Reformen bezügliche Fragen genauer zu studieren. Allein das Schicksal hatte es anders beschlossen.

Friedlich verfolgte ich den Lauf meiner Wanderungen und meiner Studien, als ich fast Schlag auf Schlag erfuhr; ich sei in einen Kriminalprozess verwickelt, und zwar als Mitschuldiger einer aufrührerischen Bewegung, welche zu St. Petersburg bei dem Tode des Kaisers Alexander, zwanzig Monate nach meiner Abreise von dort, ausgebrochen war - ich sei zum Tode verurteilt worden.

Eine so grausam ungerechte Verurteilung konnte ich nicht stillchweigend hinnehmen. Auf die erste Nachricht von meiner Versetzung in Anklagestand hatte ich eiligst eine rechtfertigende Denkschrift abgefasst und nach St. Petersburg geschickt. Aber vergebens waren alle meine, wie meiner Freunde Anstrengungen, die Zurücknahme eines Beschlusses auszuwirken, der mehr die Ideen, als den Menschen traf. Und was war mein Verbrechen? Dass ich die Zivilisation so sehr geliebt - jene Zivilisation, welche die Menschen durch die Aufklärung besser macht.

Ich ergab mich darein. Später, nachdem ich alle Teile des Prozesses kennen gelernt, verfasste ich eine neue, vollständigere Denkschrift. Sie war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; meine Absicht war nur, in dieser Schrift die Wahrheit über jene Ereignisse aufzuzeichnen, die in den Jahren 1825 und 1826 vorgingen. Erst lange nachher entschloss ich mich, diese meine Rechtfertigung zu veröffentlichen, und das ist der Ursprung des Werkes, das ich hiermit der Presse übergebe.

Es kam zunächst nur darauf an, mich gegen die verleumderischen Anschuldigungen zu rechtfertigen, und zugleich eine durch den Servilismus schändlich entstellte Tatache ins rechte Licht zu stellen. Um jedoch dies zu erreichen, musste ich notwendiger Weise an die begleitenden Umstände erinnern, mein öffentliches Leben erzählen, und die Geschichte der geheimen Gesellschaften in Russland liefern. Im Fortschreiten dieser Arbeit fühlte ich immer mehr die Notwendigkeit, ein Bild der politischen Ordnung zu geben, welche ein solches Verfahren möglich machte. Unmerklich wurde ich weiter und weiter geführt; die Erinnerungen vergangener Zeiten traten immer lebhafter vor meine Seele, und das Werk schwoll an, ohne dass ich es selbst gewahr wurde.

Jetzt kam ich auf den Gedanken, meine einfache Rechtfertigungsschrift zu dem Umfange eines Werkes über das ganze Russland zu erheben, von meiner Privatsache zu der Sache eines ganzen Volkes überzugehen. So wurde ich veranlasst, das politische und soziale Gemälde Russlands zu skizzieren; dabei musste ich dem ersten Teile meines Werkes einen größeren Umfang geben, weil dasjenige, was ich über meine eigene Angelegenheit zu sagen hatte, das Bild erhellte und mit neuen Zügen bereicherte.

So entstanden die beiden ersten Teile des Werkes. Konnte ich aber hierbei stehen bleiben? Konnte ich im Grunde meines Herzens die Gefühle ersticken, die es so lange durchbebt hatten? Durfte ich mich darauf beschränken, das Übel zu bezeichnen, ohne die Bezeichnung des Heilmittels wenigstens zu versuchen? Vergebens hatte ich mich von Russland losreißen wollen, das Vaterland behält seine unwiderstehliche Macht über uns. Und durfte ich das Vaterland mit jenen beschränkten Individualitäten, jener rohen Gewalt, die mich verurteilt hatte, identifizieren? - Nein! Ich durfte es nicht! Nach langem Zaudern griff ich also wieder zur Feder und entwickelte meine Ansichten über die Notwendigkeit und die Mittel für Russland, an den Fortschritten der europäischen Zivilisation Teil zu nehmen. Es ist nicht sowohl ein Reformplan, als vielmehr Wünsche für meines Vaterlandes Zukunft - pia desideria, wie ein Teil dieses Abschnittes überschrieben ist. Wenigstens wird dieser schwache Versuch die Neigung, die Hingebung beweisen, die mich unablässig an mein Geburtsland knüpft, es wird mein letztes Lebewohl an dasselbe, meine letzte Antwort auf die über mich verhängte Verurteilung sein.

So zerfällt, Russland und die Russen, in drei wohl gesonderte Abteilungen, von denen die erste mein öffentliches Leben, meine persönlichen Denkwürdigkeiten enthält, die zweite das moralische, politische -und soziale Gemälde Russlands bietet, die dritte meine Ansichten über die Zukunft dieses Reiches, über die anwendbaren Einrichtungen und Reformen ausspricht.

Noch einige Worte über die Art, wie ich meinen Gegenstand behandelt habe. Meine Sprache ist, wie sich's gebührte, stets die eines Russen. So habe ich auch über die lächerlichsten, die abgeschmacktesten Dinge, z. B. die Rangklassen, in ernster Weise geredet - solche Einrichtungen fügen bei all' ihrer Lächerlichkeit dem Volke nicht minderen Nachteil zu. Von andern Ländern, als dem meinigen, rede ich stets mit der Mäßigung, die einem Manne aus einem Sklavenlande gebührt, sobald er von einem Lande spricht, wo die Sklaverei in die Acht erklärt ist. Ich konnte dies um so leichter, je inniger mich wahrhaft brüderliche Bande an die Völker, in deren Mitte ich lebe, geknüpft haben, und je aufrichtiger ich das Wohlergehen derselben wünsche.

Wie aus dem Obigen erhellt, habe ich mein Buch vor langen Jahren begonnen, vollendet wurde es - ausgenommen den Abschnitt Pia desideria - im Jahre 1842. Einige nötig gewordene Zusätze stehen als Anmerkungen unter dem Texte.

Einzelheiten über gewisse Personen, so wie Entwickelungen, die mit dem Gegenstande in minder wesentlichem Zusammenhange stehen, habe ich als Anmerkungen an das Ende jedes Bandes verwiesen, um weder den Faden der Erzählung, noch die logische Ordnung der Ideen zu stören.

Meine früheren Werke habe ich in russischer Sprache abgefasst. Dass ich das vorliegende in einer andern Sprache geschrieben, wird wohl keiner Rechtfertigung bedürfen. Wohl aber muss ich die Nachsicht des Lesers in Anspruch nehmen, der meine gute Absicht würdigen, und mir deshalb die Schwächen des Buches verzeihen wird. Warum aber mit der Überzeugung von den letzteren überhaupt das Buch veröffentlichen? könnte man fragen. Weil mein Bewusstsein mich dazu drängt, lautet die Antwort; nicht um meinetwillen hab' ich es geschrieben, sondern damit ich meinem Vaterlande von der Verbannung aus einigen Nutzen bringen könne, den ich ihm während meines dortigen Aufenthaltes, trotz aller Anstrengungen, zu gewähren nicht im Stande war.

Möge namentlich mein Los keinen meiner Landsleute abschrecken, sein Leben der Herbeiführung eines besseren Zustandes in jenem Reiche zu widmen. Besser, in so heiligem Kampfe unterliegen, als sich feig in dem ausgefahrenen Gleise des Egoismus hinschleppen. Auch ist jener Kampf kein hoffnungsloser, kein verzweifelter: die Sache der Gerechtigkeit und Wahrheit muss zuletzt das Übergewicht erlangen - an Euch, meine Landsleute, liegt es, ihren Triumph zu beschleunigen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und die Russen Bd1