Russland und Westeuropa - VII. Das soziale Elend des russischen Volkes
Wenn wir auf das soziale Elend in Russland hinblicken, und man muss längere Zeit dort gelebt haben, um einen Begriff davon zu haben, — so finden wir da die natürliche Erklärung für vieles von dem, was uns am bewussten, freiheitlich gesinnten Russen irrtümlich und fehlerhaft erscheint. Wir begreifen dann vor allem, wie der Typ des eigentlichen russischen Intelligenten zu werten ist — und er ist durchaus nicht identisch mit dem bewussten Russen, er bildet vielmehr nur ein Element und wohl das wertvollste innerhalb der aufgeklärten russischen Gesellschaft. Führen wir uns in Gedanken das in Russland herrschende soziale Elend vor Augen, so scheint es uns wohlfeil, auf die Widersprüche und offenbaren Irrtümer in Anschauungen und Handlungen des Intelligenten hinzuweisen. Denn wir sitzen ja ferne von dieser Volksnot. Denken wir an sie, so müssen wir im Intelligenten trotz allem, was wir an ihm tadeln, einen ehrfurchtgebietenden Menschen ansprechen, schlechthin vorbildlich darin, wie er sein Tun und Denken gerichtet hat lediglich auf Linderung der Not seines Volkes, wie er Glück und Wohlleben von sich weist, wie er sich schämt, nicht zu leiden, wenn sein Volk leiden muss, wie er mit einem Wort seinem Volke dient, so gut wie er es eben versteht, und solange er atmet. Fast erscheint es uns frivol, einen Menschen, der vor solchen selbstgewählten bewussten Hintergründen sein Leben zubringt, daran zu erinnern, dass der Mensch nicht vom Brote allein lebt, dass auch der Satte Not leidet, und dass seine Nöte geistiger Art sind, und dass es auch ein Hungern und Dürsten nach der Wahrheit um ihrer selber willen gibt? Uns fehlt ja das Erlebnis, von dem der Intelligente geleitet wird. Wir können es nur ungefähr ahnen, wie der seines Volkes Not in sich trägt, der selber Not leidet, während des Volkes Not auf seiner Seele lastet.
Denken wir dabei an die äußerste Armut der russischen Studenten, die, den ärmsten Volksklassen entstammend, sich durch Stundengeben erhalten sollten und natürlich nur im Ausnahmefall Stunden finden können. Es sind ja ihrer acht bis zehntausend allein in Moskau. Ich kannte Studenten dort, die zu dritt ein Paar Hosen und ein Paar Stiefel besaßen. Ich kannte Studentinnen, die jahrelang von einer Tasse Tee und etwas Weißbrot am Tage lebten und auch das noch häufig entbehren mussten. Man komme demgegenüber nicht mit Spießbürger-Weisheiten: etwa damit, man solle das Proletariat der Universität fernhalten. Wer einmal das Elend des russischen Volkes mit Augen sah, der würde sich schämen, auch nur den Gedanken in sich aufkommen zu lassen, man müsse es der für ihr Volk leidenden und hoffenden Jugend Russlands unmöglich machen, alle Not, alle Entbehrungen auf sich zu nehmen, in der Hoffnung, dem armen Volke einst helfen zu können. Wenn wir an alle die von Seiten der mittellosen studierenden russischen Jugend ganz in der Stille gebrachten Opfer denken, — wenn wir uns das alles einigermaßen plastisch in die Erinnerung rufen, dann begreifen auch wir ohne weiteres, dass in Russland immer wieder Söhne und Töchter reicher Eltern sich ihres Reichtums schämen und in freiwilliger Armut ihr Leben zubringen mit den darbenden Gefährten. Wissen wir doch von Millionärstöchtern, die als Dorflehrerinnen ausschließlich nur von ihrem dürftigen Gehalte lebten, alle Unterstützungen von Hause zurückwiesen, und früh an Entbehrungen zugrunde gingen.
Die seelische Lage der Intelligenten ist dabei eine weit peinlichere als die des einfachen Mannes. Der leidet selber Not, teilt, solange er atmet, sein letztes Stück Brot mit dem Hungernden. Er ist ein Bruder dem Leidenden. Er ist sich keines Verschuldens bewusst vor ihm, und auch unter der Seinen Not leidet er nur mit seinem Herzen. Sein und aller Schicksale erkennt er ruhend in Gottes Hand. Ganz anders der Intelligente: er leidet selber dieselbe bittere Not — wenn er nicht selber arm ist wie eine Kirchenmaus, teilt er sein Letztes mit den armen Gefährten, deren so viele sind, dass selbst beträchtlicher Reichtum hier nicht ausreichen würde. Nebenbei gesagt ist wahrhaft christlich die Art, wie die Intelligenten einander aushelfen. Die Anspruchslosigkeit in der Lebensführung, die Entbehrungen, die sich der Gebende freiwillig auferlegt, und die selbstverständliche, den Geber so ehrende Art, wie die Gabe angenommen wird, hat etwas tief Beschämendes für uns Westeuropäer, die wir meist in gesicherter wirtschaftlicher Lage unsere Universitätsjahre zubringen. Wenn wir bei alledem dem Intelligenten Gleichgültigkeit dem Straßenelend gegenüber vorwerfen wollten, so wäre das ein beleidigender Irrtum: der Intelligente hat dem Straßenbettler nichts, gar nichts zu geben außer seiner Teilnahme, und dabei gibt es so unendliche viele, die dieser bedürften. Der Intelligente muss selber frierend und schlecht gekleidet durch die Straßen eilen seinem dürftigen Erwerbe nach. Er kann nicht stehenbleiben bei jedem Notleidenden. Das kann niemand in Russland. Und dabei schämt er sich vielleicht mehr wie alle die Satten darüber, dass er vorübergehen muss am Straßenelend, und er vergräbt sich immer tiefer in seine Träume von einem endlichen Heil des Volkes, und darum sind sie ihm auch so überaus teuer, so unentbehrlich diese Träume — er hat ja nichts, dem Volke zu geben gar nichts, als sie! Sein eigenes Elend ist dabei in der Regel so groß, dass er es nicht völlig zu vergessen vermag im Gedanken an des Volkes Not!
Auch der hingebend Liebende fühlt ja Hunger, Kälte und ewiges Entbehrenmüssen. Dadurch aber, dass der Intelligente die Not seines Volkes, die nicht von seinem Geiste weichen darf, und deren Linderung er sein Leben widmet, aus eigenster Erfahrung kennt, dadurch ist seine Liebe zu seinem Volke so frei von jeder Rückstrahlung auf die eigene Person — so ohne jede Verführung zur Eitelkeit. Eines kommt noch hinzu: der Intelligente, armer Leute Kind, der sich die Möglichkeit zum Studium errang in unsagbaren Entbehrungen, in rastlosem Arbeiten und unter Erniedrigungen aller Art, — die allermeisten von ihnen haben bereits als Gymnasiasten durch Stundengeben ihren Unterhalt sich erwerben müssen, — der Intelligente, dem mit einem Worte der Zutritt zum Geistesleben so furchtbar teuer zu stehen kam, er erwartet natürlich auch gleich alle Wunder vom Gedanken. Der Gedanke muss dem Volke Heil geben können und auf einmal und für immer. Und wenn der Gedanke das nicht kann, — so hat er sich eben bis jetzt noch mit anderem beschäftigt, mit Nebensächlichem, und das war Pflichtversäumnis — daher des Intelligenten Abneigung gegen Europas Wissenschaft. Das eigene Denken spannt der Intelligente rastlos an in der Richtung auf das einzige Ziel, dessentwegen er Bildung erstrebte: auf die Möglichkeit eines endlichen Heiles für das Volk. Natürlich ist er machtlos hier, der Gedanke des einzelnen. Der Intelligente will das nicht wahr haben. Er macht sich Vorwürfe über die Fruchtlosigkeit seines Denkens, er glaubt, die Schuld läge an ihm, und so tritt zu seinem Leiden an der Not seines Volkes auch noch persönliches Schuldgefühl, das sich trübend legt über die kargen Freuden seiner Jugend. Was Wunder, wenn er dann mit beiden Händen nach fertigen Heilslehren langt, die ihm geboten werden von solchen, die er an seines Volkes Not eben so leiden sieht, wie er selber leidet an ihr, und was Wunder des weiteren, wenn er in heißem Seelenflehen sich klammernd an diese Heilslehren nur Selbstsucht und Bosheit vermuten kann, in dem, der sie ablehnt. Er selber kennt ja nicht die Geistesruhe, die kühl abzuwägen vermag über den Wahrheitsgehalt einer Behauptung. Damit kommen wir auf den Terrorismus (er scheint übrigens im Absterben begriffen; der Marxismus erweist sich in Russland auf der ganzen Linie siegreich) . Dass der Terrorismus unrecht hat, dass Menschenmord, von welcher Seite er auch immer geschieht, die Sünde des Menschen gegen den Menschen bedeutet, kosmische Beschränktheiten verrät und sich letzten Endes gegen die eigene Seele wendet, das weiß ich nicht nur, das fühle ich mit meinem ganzen Wesen. Ganz ebenso fühle ich aber auch, dass nicht ich der Richter bin über die Terroristen. Denn ich habe nicht das Erlebnis von der Not meines Volkes mit mir herumgetragen, wie er es tat von Jugend an: das durch Erleben eigener Not erst inhaltsreich gewordene Erlebnis. Darum darf ich auch nicht behaupten, dass es unüberwundener Menschenhass ist, der die Tat des Terroristen auslöst. Es kann wenigstens ganz anders sein. Vergegenwärtigen wir uns doch nur: der Terrorist wächst heran inmitten einer furchtbaren Volksnot und im Angesichte namenlosen Unrechtes, das dem Volke geschieht. Das muss eine stumme Wut in ihm heranreifen lassen. Und wenn er dann — einfach aus Selbsterhaltungstrieb: das junge Menschenkind will leben und kann nicht leben, wenn es sein Volk in alle Zukunft hinein zum Leiden bestimmt wüsste — diesen oder jenen Machthaber ermorden zu müssen glaubt, damit der Druck auf dem leidenden Volke nachlasse, muss das dann wirklich aus Hass geschehen? Kann nicht vielleicht der sich zum Morden berufen Glaubende, tiefstes menschliches Mitleid empfinden mit dem, den er morden zu müssen glaubt und doch mordet? Kann er nicht sogar im voraus wissen, dass er nie aufhören wird, den Mord zu bereuen, dass er ihn herumschleppen wird als Zentnerlast auf seiner Seele, und doch überzeugt bleiben werde, dass er so handeln musste. Das alles kann wenigstens so sein. Der Mord als Tat bleibt darum unter allen Umständen unentschuldbar. Wer ihn aber in diesem Sinne verübte, der ging aus von der Liebe, er missverstand nur schließlich sich selber und geriet in Verwirrung in sich vor Verhältnissen, denen sein Geist nicht standzuhalten vermochte, und denen vielleicht bei einer gewissen Tiefe des Einblickes der Menschengeist überhaupt nicht gewachsen ist. (Das ist ja der große Rechenfehler in unserem Forschen nach dem Ursprung der asozialen Tat, des Verbrechens. Es wird da immer gerechnet mit geistiger Unnormalität, niemals aber danach gefragt, ob nicht vielleicht unnormale Verhältnisse eine von Hause aus normale Seele bestimmen können zu einem Handeln, das nur unter normalen Verhältnissen als unnormal gelten müsste.)
Und schließlich überlegen wir doch einmal: das Volk leidet unerträglich, sein Elend schreit zum Himmel, und nichts geschieht dagegen, alles dafür, es immer mehr leidend zu machen. Wer aber darauf hinweist, den macht man mundtot. Jeder Protest dagegen wird niedergetreten. Soll man schweigen dabei, soll man das dulden? Kann man schweigen hier, darf man das dulden? Da sollen sie doch wenigstens wissen da oben, dass nicht alles ihnen ungestraft hingeht, dass das Volk nicht völlig wehrlos preisgegeben ward ihrer Willkür. Das ist der Sinn des Terrorismus. Einen anderen hat er bei seinen überzeugten Anhängern — nicht bei den zahllosen Mitläufern und Nachschwätzern — niemals gehabt. Ich verteidige ihn nicht, ich hasse ihn als Tat von ganzer Seele, und werde das immer betonen. Ich habe mich aber nie als Richter über ihn erlebt, und seine Richter sind auch nicht in Westeuropa.
Ähnlich steht es mit der Expropriation. Als ich zuerst von ihr erfuhr — ich lebte damals noch in Russland — kannte meine Empörung keine Grenzen: harmlose Kassenboten zu ermorden, wenn sie ihre Pflicht erfüllen, das schien mir die denkbar größte Gemeinheit (und mein Urteil über die Expropriation als Tat ist auch hierbei stehengeblieben) . Da belehrte man mich über den Ursprung der Expropriation. (Dass nachgewiesenermaßen auch viel nackte Räuberei damals in Russland die Maske des politischen Verbrechens annahm, ward einwandfrei nachgewiesen. Die unselige Vermengung von politischen und gemeinen Verbrechen ist aber nun einmal tief in Russlands ganz besonderen Verhältnissen begründet. Die furchtbaren Sünden der Regierung tragen hier wohl die Hauptschuld.) Das kam so: Als endlich die Volkserhebung in Moskau begann es war so wenig, und es schien so viel — da waren natürlich alle diese jungen Menschenkinder, die in allen Entbehrungen nur gelitten hatten an der Not ihres Volkes, mit Leib und Seele auf Seiten der Befreier, und keiner dachte mehr an sein eigenes Schicksal und an den kommenden Tag. Dann kam der leichte Sieg der Regierung. Und es begann die Verfolgung. Wer Geld hatte, konnte sich allenfalls verbergen. Wer aber gar nichts hatte, der verlor so nicht nur die letzte Gelegenheit, sein bisschen Brot zu erwerben. Selbst die Schlafstelle ging ihm verloren, wo er abends sein Haupt niederlegen konnte — ein Bett für sich zu haben, war in diesen Kreisen von jeher ein Ausnahmefall: je acht bis zehn hausen sie in einem kleinen Zimmerchen. Jetzt hörte auch das auf. Man fahndete nach ihnen. Wer sie aufnahm, wurde exemplarisch bestraft. Bis dreitausend Rubel für den einzelnen Fall! Gute Menschen halfen trotzdem den Verfolgten nach Kräften. Aber es waren deren so viele, und jeder einzelne wusste, dass er den Gastfreund in höchste Gefahr bringt. Und so ging das monatelang im grimmigsten Winter. Wenn da schließlich der oder jener seiner Gefährten Leiden nicht mehr ertragen kann und auf den Gedanken verfällt, durch organisierten Straßenraub — das und nichts anderes bedeutet die Expropriation — Mittel zu verschaffen, um in höchster Not die Gefährten zu retten, wer wall da einen Stein werfen auf den, der so zum Straßenräuber ward! Wer will staunen darüber, wenn solchem Leiden gegenüber die bürgerliche Moral unterliegt — und sie scheint uns tatsächlich, wenn wir auch niemals an ihrer Richtigkeit zweifelten, doch immer nur wie etwas, was man sich leisten kann, wenn man in einer gewissen Entfernung lebt von der eigenen Not nicht nur — das ist klar wie die Sonne — nein, auch von der Not anderer. Zum Weinen bleibt es, wenn dabei Menschen gemordet werden! Zum Weinen aber über die Menschheit! Das ist der Ursprung der Expropriation.
Und dann das Märtyrertum: Tausende und Abertausende hochgebildeter Menschen, Männer und Frauen, verbringen ihr ganzes Leben irgendwo im dunkelsten russischen Dorf in Not und Entbehrungen, um alles Leid mit den Bauern zu tragen, um Licht zu bringen in ihre Hütten und früh an Entbehrung zugrunde zu gehen. Und das sind noch die Glücklichen, denn sie durften rein bleiben! Tausende und Abertausende anderer lassen sich in Kerker und Banden werfen für ihr Volk — und längst nicht alle mordeten erst, die meisten zeigten nur den Mannesmut des freien Wortes vor des Volkes Bedrückern. — Und wenn auch zahllose unter ihnen Kerker und Banden fast freiwillig aufsuchten, weil sie sich schämten, selber nicht zu leiden, wo das Volk zu leiden gezwungen ist, — wer könnte sie darum tadeln, ohne dabei erröten zu müssen. Was sie dabei erwartete, wussten sie ja ganz genau: zu Hunderten, zu Tausenden sterben sie denn auch in Sibiriens Gefängnissen und Zuchthäusern. — Und darum scheint mir die russische Erde heilig, weil so viel opferbereite Menschenliebe über sie hingewandelt ist. Und darum scheint mir auch das russische Volk glücklich zu preisen, weil es solche Scharen von Helden aufweisen kann, von Nationalhelden, die ihrem Volke dienten treu bis in den Tod! Helden der Menschenliebe — wenn sie dabei auch auf Morden verfielen unter Verhältnissen, denen der Menschengeist vielleicht gar nicht standzuhalten vermag.
Und darum möchte ich auch meinen Landsleuten immer wieder zurufen: Blickt nach Osten, schaut hin auf Sibiriens Eisfelder, lernt dort, wie man alles opfert für sein Volk, lernt dort, wie die Liebe stärker sein kann als der Tod! Seid nur nicht kleinlich dabei, hört nicht darauf, wie sie euch schelten. Und legt auch den Maßstab kleinbürgerlicher Moral beiseite. Das sind dort Verhältnisse, die man erlebt haben muss, um sie begreifen zu können. Freut euch nur als Menschen, dass es solche Menschen gibt! Seid stolz darauf, dass noch so viel Aufopferung, so viel Menschenliebe lebt auf der alten Erde! Sicherlich wird einst die Zeit kommen, wo des Intelligenten eigentliches Wesen offenbar sein wird; da werden dann seine Irrtümer und seine Fehler von ihm abfallen wie die Wassertropfen von der Lotosblume, — und nur die große Liebe wird bleiben, die restlose Hingabe des Menschen an den Menschen!
Was uns heute noch die Freude am Intelligenten verdirbt, ist der Hochmut, der so oft in ihm lebt — nicht immer, und im eigentlichen Intelligenten, in dem, der in Armut leidet, wohl am wenigsten. Aber auch diesen Hochmut sollten wir begreifen. Es ist vielleicht gar nicht der Hochmut der Einzelpersönlichkeit, vielleicht dass der Intelligente in sich den Träger der Heilsgedanken und den Apostel der Hingabe an sein Volk verehrt. Und wenn er auch wirklich hochmütig wäre! Versuchen wir es doch einmal, ob wir an seiner Stelle frei bleiben davon — von instinktivem Hochmut. Wer ja lebt mit dem Blick auf seines Volkes Not, wer sein ganzes Leben einsetzt für sein Volk, dem erscheint bald alles andere im Leben schal und wie Selbstbetrug. Und es ist schwer, das nicht irgendwie merken zu lassen. Und darum will es mir auch scheinen — und es liegt eine ausgleichende Gerechtigkeit in diesem Zusammenhange — , als ob die intelligente russische Jugend — und das ist nur ein Bruchteil der gesamten lernenden Jugend Russlands — in aller ihrer Armut, bei allen ihren Entbehrungen doch ein größeres, volleres, leuchtenderes und glücklicheres Leben führte, wie die lernende Jugend bei uns.
Das Intelligententum ist aber nicht die einzige Antwort auf Russlands soziale Nöte. Tolstoi versuchte eine andere — und sie lässt deutlich erkennen ihren Ursprung aus der Reue des Edelmanns. Um nicht verbluten zu müssen am Leiden des Volkes — als ein Mitschuldiger — (und das ist hier eben der Unterschied: der eigentliche Intelligente ist sozial schuldlos, fühlt sich mitschuldig höchstens insofern er Bildung erlangte und dadurch sich verpflichtet erlebt), muss man einfach wiederum zum Volke werden, zum Bauern, der keine Arbeit anderer beansprucht, mithin nicht mit verantwortlich gemacht werden kann für das in seinem Vaterlande herrschende soziale Elend, der dabei christliche Wohltätigkeit übt — und nur er vermag das, im übrigen aber Gott entscheiden lässt darüber, wie sich die Menschen miteinander abfinden werden. Ich für meine Person finde in dieser Lösung einen Rückschritt gegenüber der Lösung des Intelligenten. Die erscheint mir viel intelligenter. Der Intelligente erkennt die Verpflichtung an, die in erworbener Geistesbildung liegt, und die Pflicht, solche zu erringen, wo immer dazu nur die geringste Möglichkeit ist, und das heißt: er rechnet mit der einfachen Tatsache, dass der Mensch, der von früh bis spät nur zu schaffen hat, um den Unterhalt für sich und die Seinen zu erringen, dass dem Menschen nicht die Möglichkeit bleibt — keine Zeit und auch kein von Sorgen freier Bewusstseinsraum — um nachzudenken darüber, wie er sich zu seinesgleichen zu verhalten habe, und wie seine persönliche Lebensführung einwirkt auf das Leben der anderen. Der Intelligente entzog sich ja der Bauernarbeit keineswegs aus Bequemlichkeit, — Tolstoi hat hier entschieden unrecht — es wäre ihm weit angenehmer, so zu leben, wie der Bauer lebt: denn keine Qual ist größer für den Menschen, als die, sich verpflichtet zu wissen und dabei im Zweifel zu sein, wie und ob man seiner Verpflichtung nachzukommen imstande ist.
Der Intelligente ist dabei Fleisch vom Fleisch des russischen Bauern — nicht wie der Anhänger der Tolstoi-Sekte, ein Mitglied der Klasse, die von jeher von des Bauern Arbeit lebte. Der Intelligente stellt eine gewisse Entwicklungsstufe des russischen Bauern dar. Der seelische Untergrund ist bei beiden der gleiche: natürliche Menschenliebe und echt russische Scham davor, da nicht zu leiden, wo die Masse leiden muss. In das Seeleninventar des Intelligenten kommt im Grunde nur ein Element hinein, das dem Bauern fehlt, und von dem ich nicht recht weiß, ob ich es westeuropäischem Einfluss zuschreiben soll oder elementarer menschlicher Erkenntnis: Der Intelligente glaubt nicht mehr, dass, wenn man niemanden andern für sich arbeiten lässt, dass dann schon Gott das menschliche Zusammenleben und -wirken so einrichten wird, dass das Gute triumphiert in ihm. Vielleicht hat dabei der Intelligente nur die Erkenntnis voraus vor dem Bauern, dass die Menschen nicht alle so leben wie der Bauer, und wohl auch nicht in Zukunft alle so leben werden, und er rechnet mit dieser Tatsache. Oder er hat nur durch seinen vertieften Einblick in die Ungerechtigkeiten des Gesellschaftslebens den Glauben verloren an eine Vorsehung, die vom Menschen nichts verlangt als guten Willen. Wie dem aber auch sei, der Intelligente hat begriffen, was Tolstoi (der den umgekehrten Weg macht: vom Gebildeten zum Bauern) nicht anerkennen will, dass zu den Pflichten des Menschen für den Menschen auch in gewissem Umfange wenigstens die Pflicht gehört, für ihn zu denken. Der Intelligente braucht darum nicht unbedingt aufgefasst zu werden als ein Produkt aus russischer Seele und westeuropäischer Aufklärung. Er kann sehr wohl gedacht werden als die Weiterentwicklung (ich will dies Wort hier verstanden haben frei von jedem Werturteil), die der russische Bauer finden musste bei vertieftem Einblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Mir scheint diese Auffassung die richtige. Mir erscheint der Intelligente als echt russisch im besten Sinne: sein Irrtum nur als normale Antwort auf unnormale Verhältnisse. Ich verstehe freilich unter dem Intelligenten ausschließlich den zur Bildung gelangten Abkömmling des einfachen Volkes, das heißt ich glaube, dass nur von solchen der eigentliche Intelligentengeist geschaffen wurde. Meine Erfahrung bestätigt mir dies. Wo ich persönlich unverfälschtes russisches Intelligententum beobachten konnte, solches, das noch alle Vorzüge seiner Fehler an sich trug, da waren dessen Träger stets aus den untersten Klassen der Bevölkerung hervorgegangen: Söhne von Bauern, Diakonen, Volksschullehrern usw. Vom reuigen Edelmann, mit dem er oft verwechselt wird, unterscheidet sich der Intelligente dadurch, dass ihm das soziale Schuldbewusstsein abgeht: er entstammt ja selber dem duldenden Volk, und er nimmt freiwillig größere Leiden auf sich als es trägt, um ihm zu helfen. Freilich fühlt sich der Intelligente — und darin geht er eben über den russischen Bauern hinaus — auch verpflichtet für sein Volk. Das ist sein Grunderlebnis, und es findet reichliche Nahrung in dem Bewusstsein, vor dem Volke verpflichtet zu sein durch die Bildung, die er vor ihm voraus hat, die er sich, wie er meint, auf des Volkes Kosten errang, und die ihm nur dazu dienen darf, dem Volke wiederum nützlich gemacht zu werden. Dass dabei eine so vage Verantwortungsvorstellung bei der feinen Gewissensbeanlagung des Russen leicht auch zu einem Schuldbewusstsein führt, liegt auf der Hand. Das soziale Schuldbewusstsein des Intelligenten, wenn ein solches vorhanden ist, was ich nicht unbedingt bejahen möchte, unterscheidet sich aber durchaus von dem des reuigen Edelmannes: es ist keine Reue in ihm. Es trägt viel eher den Charakter einer sozialen Trauer, wie sie tatsächlich ausgebreitet liegt über dem intelligenten Russland, und dessen streng asketische, jeder Freude abholde Lebensführung viel weniger grundsätzlich beabsichtigt erscheinen lässt, als man das in der Regel annimmt. Und das ist wohl zu beachten, sonst wäre ja der Widerspruch der persönlichen Lebensführung zu dem erstrebten und ersehnten sozialistischen Endziele ein unüberbrückbarer.
Um es zusammenzufassen: Intelligentengeist ist einfach der Seelenzustand eines Menschen, der leidet unter der Not seines Volkes, und eine auf eigenem Erlebnis beruhende Vorstellung hat von dem, was soziales Leiden bedeutet. Die Anschauung des Intelligenten unterscheidet sich von der des Bauern dadurch, dass der Intelligente die Überzeugung hegt, dass keine persönliche Not, kein persönliches Elend den Menschen der Verpflichtung entbindet, seinen Blick gerichtet zu halten auf das Schicksal seines ganzen Volkes, ja der ganzen leidenden Menschheit. In der gesellschaftlichen Bewegung in Russland hat nun aber, wie bereits erwähnt, außer dem Intelligenten auch der russische Edelmann eine Rolle gespielt, und es ist wohl nicht möglich, beider Rollen scharf voneinander abzugrenzen. Ganz im allgemeinen will es mir so scheinen, als ob vom Intelligenten mehr das Friedliche, durch Überzeugen Wirken-Wollende, sowie das Praktisch-Aufopfernde in der russischen Freiheitsbewegung ausgeht — der Terrorismus ist hier höchstens als Verzweiflungstat zu begreifen, als Unfähigkeit, untätig zu sein, wo dem Volke unsägliches Unrecht geschieht. Alles offenbar Utopistische hingegen, alles die Wirklichkeit auf neue Fundamente Stellen-Wollende, alles nicht Rechnen-Wollende mit den Elementen der Wirklichkeit, die nicht hineinpassen in die vorgefasste Meinung, kurzum alles Bewussten-Geist-Einengende in der freiheitlichen russischen Bewegung scheint mir durchaus vom reuigen Edelmann auszugehen. Wenn wir dabei ganz im allgemeinen die seelische Reaktion des Intelligenten auf das Elend seines Volkes vergleichen mit derjenigen des reuigen Edelmannes, — und wir wüssten nicht, wo die sich deutlicher offenbart als bei Tolstoi — so finden wir hier (beim reuigen Edelmann) peinlich hervortretend das offensichtliche Streben, zunächst einmal der eigenen Schuld und dem eigenen Leiden unter der Not des Volkes zu entrinnen, während der Schwerpunkt im Streben des Intelligenten der Volksnot gegenüber vor allem darauf gerichtet ist, das Übel selber zu beseitigen.
Das sind nun ganz typische Gegensätze im Verhalten gesellschaftlichen Übelständen gegenüber von Seiten der Proletarier, — und der russische Intelligente muss, wenn wir mit westeuropäischen Verhältnissen vergleichen als Proletarier, als eigentlich bewusster russischer Proletarier, gelten — , und der gebildeten Gesellschaft, sofern sie an der sozialen Bewegung tätigen Anteil nimmt. Proletariergeist schuf die Gewerkschaften und die Genossenschaften; bürgerlicher, sozialer Idealismus schuf den Marxismus und den Syndikalismus. Mit anderen Worten: Die Bürgerkreisen entstammenden sozialen Idealisten — und sie entsprechen in Russland dem reuigen Edelmann — wollen zunächst ihr Schuldbewusstsein los sein, dann aber auch hoffen können auf eine Zukunft, die ohne Schuld und Reue für sie wäre. Der Proletarier hingegen will einfach Abhilfe seiner Not und der Not der leidenden Menschheit. Kann er die Abhilfe nicht auf einmal erringen, so gibt er sich zufrieden mit Teilerfolgen, wenn er nur hoffen darf auf endliches soziales Heil für alle.
Was ich nun endlich das bewusste, das freiheitliche, das schreibende und schreiende Russland nannte, das ist wiederum ein noch weiterer Kreis als der reuige Edelmann und der Intelligente zusammengenommen. Darunter verstehe ich alles in allem die großen an der Freiheitsbewegung in Russland mehr oder minder platonisch teilnehmenden Gesellschaftskreise, — das ganze liberale Russland, die ganze aufgeklärte Bourgeoisie gehört dazu — die mit Stolz hinblicken auf den Intelligenten in seiner Reinheit, sich ohne weiteres seine Verdienste zu eigen machen, ohne dabei die Opfer zu bringen, die er bringt, und die sich dieser Opfer überhoben glauben, weil sie des Intelligenten Irrtümer, die bei dem nur die Kehrseite seiner Vorzüge darstellen, zu Grundsätzen erheben und aus ihnen Folgerungen ziehen, die dem Intelligenten zum Teil durchaus fernliegen, bisweilen sogar im Gegensatz stehen zu dessen Grundgesinnung, — ich denke hier vor allem an den fanatischen Links-Chauvinismus des freiheitlichen Russlands.
Dieses bewusste, freiheitlich gesinnte, größere Russland muss ich bekämpfen, weil ich in ihm eine große Gefahr erblicke für die freie Geistesentwicklung in Russland. Den intelligenten Russen hingegen halte ich für eine Europäerhoffnung, wie ich das auch an vielen Stellen ausgesprochen habe.
Das intuitive Russland steht uns freilich vorderhand näher als der russische Intelligente. Es gibt sich ja offen zu erkennen als Geist von unserem Geiste und deutet uns letzte Träume und zeigt letzten Erkenntnissen Verwirklichungsmöglichkeit. Der Intelligente wird als Typ eines Zukunftsbürgers, den er meiner Ansicht nach unbedingt darstellt, erst später zur Würdigung und — hoffen wir — zu weitgehendster Nacheiferung gelangen, wenn wir erst einmal gelernt haben werden, in seinen Irrtümern notwendige Zugeständnisse zu erkennen an Zeitverhältnisse, unter denen sich restloses, bewusstes Aufopfern für das Volksganze nur so durchsetzen konnte.
Alles in allem genommen erblicke ich im Intelligentengeist die Widerspiegelung des über Russland herrschenden sozialen Elends in der russischen Seele, wie sie nun einmal ist, das heißt in einer Seele, die sich schämt, selber nicht zu leiden, wo um sie herum gelitten wird!
Der Intelligente gehört seiner Seelenveranlagung nach durchaus zu dem intuitiven Russland. Er hat sich nur in seiner Weise abgefunden mit einem größeren Weltenausschnitt: all sein Geistiges geht aber nur hervor aus dem Drange, vor der Wirklichkeit zu bestehen in dem, was selbstlos ist in ihm.
Nunmehr wollen wir uns eine Vorstellung zu bilden suchen von der Widerspiegelung, die das Elend des russischen Volkes fand im russischen Gesellschaftsgewissen ganz im Allgemeinen. Vorerst gilt es dabei die Fabel zu zerstören, als habe soziales Elend in Russland nicht bestanden zur Zeit der Leibeigenschaft. Es bestand damals in überreichem Maße. Zunächst bei den Leibeigenen selber. Das erkennen wir aus ganz zahllosen, durchaus einwandfreien Zeugnissen.
Auch müsste die einfachste Besinnung darüber aufklären, dass da, wo einem Menschen das Recht gegeben ward über die Person eines anderen, er selbstverständlich sofort auf dieses Recht zu verzichten bereit ist, sobald der Unterhalt des Hörigen mehr kostet, als seinem Besitzer die Arbeit einbringt, die der Sklave für ihn zu leisten vermag. Das ist uralte Erfahrung. Noch jedesmal sah sich der Staat, dessen Bürger Sklaven hielten, gezwungen, um nicht ein höchst unbequemes, wie Zunder jede soziale Unzufriedenheit auffangendes Menschenmaterial auf den Straßen lagernd zu haben, die Sklavenhalter in gewissem Rahmen zur Erhaltung ihrer arbeitsunfähigen Sklaven anzuhalten (abgesehen von den Fällen, wo den Sklavenhaltern das Recht zustand, ihre arbeitsunfähigen Sklaven einfach zu töten, was indes unter allen Umständen eine staatsgefährdende Maßnahme bedeutete), wobei man sich freilich leicht vorstellen kann, wie es mit dem Unterhalt arbeitsunfähiger Sklaven bestellt gewesen sein mag.
So gab es denn auch in Russland zur Blütezeit der Leibeigenschaft ein furchtbares Großstadtproletariat. Auch dafür haben wir unwiderlegliche Beweise. (Erst ein deutscher Philanthrop, Doktor Haas*), hat vor achtzig Jahren in Moskau ein heute noch bestehendes Krankenhaus für die auf der Straße krank hinfallenden Proletarier eingerichtet.) Eine der Ursachen und eine äußerst bezeichnende für das Vorhandensein eines Großstadtproletariats zur Zeit der Leibeigenschaft finden wir darin, dass damals jeder Aufenthalt in einem russischen Krankenhause bezahlt werden musste, auch von den Allerärmsten, auch von den Gefängnisinsassen die dabei in sehr großer Zahl erkrankten an den wahrhaft entsetzlichen Zuständen in russischen Gefängnissen! Konnte nun ein im russischen Krankenhause Verpflegter seine Heilung nicht bezahlen, so ward er einfach in den Schuldturm eingesperrt, wo er so lange sitzen musste, bis seine Pflegezeit verrechnet war (wobei eine lächerliche Geldeinheit, ich glaube zehn oder fünfzehn Kopeken, für je einen Tag Arrest in Abrechnung gebracht wurde). So wanderten denn zahllose Arrestanten nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis oft noch auf Jahre hinaus in den Schuldturm. Und dabei war der ständig überfüllt von ehemaligen Leibeigenen, deren Herren es vorgezogen hatten, durch Krankheit geschwächten Hörigen die Freiheit zu geben, als nachträglich für ihre Heilung im Krankenhause zu zahlen. Natürlich waren die so gnädig Befreiten dem Lumpenproletariat verfallen.
*) Dr. Friedrich Haas, der Reformator des russischen Gefängniswesens. Leipzig. 1913. Joh. Ambrosius Barth.
Diese Stichprobe in die sozialen Verhältnisse während der russischen Leibeigenschaftszeit mag hier genügen zum Beweise für das Vorhandensein eines Großstadtproletariats auch unter dem „patriarchalischen“ System der Leibeigenschaft. Für die bestialische Grausamkeit aber, mit der damals gegen das städtische Proletariat vorgegangen wurde, diene folgendes zur Illustration: Für sie, die Allerärmsten, war — bis zum guten Doktor Haas — wenn sie erkrankten, überhaupt niemand da, als die Polizei, die zwar über keinerlei Arzneimittel verfügte, dafür aber große Übung besaß in handgreiflichsten Ernüchterungskuren: Todkranke, Sterbende wurden natürlich als sinnlos Betrunkene an den Ohren gerieben (was bei grimmiger Kälte besonders ernüchternd wirken soll), durchgeprügelt, getreten, gestoßen! Aus der Duldsamkeit der damaligen russischen Gesellschaft gegenüber solcher unmenschlichen Behandlung der Allerärmsten muss man aber doch wohl den Schluss ziehen, dass die ,,patriarchalisch“ gesinnte Gesellschaft zur Zeit der Leibeigenschaft ein außerhalb der Hörigenkreise etwa sich offenbarendes Elend wie persönliche Schuld der Leidenden wertete, wie Gottes Strafe, man möchte fast sagen, wie ein schweres Unrecht den Seelenbesitzern gegenüber, denen damals wohl allein das Recht zukommen sollte, Mitmenschen in rettungsloses Elend zu stürzen!
Aus zahllosen, den allerverschiedensten Lagern entstammenden Zeugnissen erkennen wir ja ein ganz unbeschreibliches Elend unter Leibeigenen. Und das entging auch keineswegs den Seelenbesitzern. Es ward nur hingenommen von ihnen als unabänderlicher Ratschluss Gottes, der Arme und Reiche werden ließ. Das nackte persönliche Interesse hatte unüberwindliche Hemmnisse aufgetürmt vor der sozialen Kritik des Seelenbesitzers: er erlebte nicht das Elend seiner Leibeigenen, — wenn er es auch mit leibhaftigen Augen gar nicht nicht zu sehen vermochte. Das soziale Elend war mit einem Worte damals, zur Zeit der Leibeigenschaft, dem Bewusstsein des denkenden Russen — die Seelenbesitzer gaben den Ton an in der damaligen Gesellschaft — gleichsam ferngerückt in eine Sphäre, wo es zwar die Wirklichkeit nicht verlor für das menschliche Bewusstsein, letzteres ihm aber seine Gefühlsund Willensbetonung vorenthielt, es mithin nicht zum vollen Menschenerlebnis werden ließ. Zum vollen Menschenerlebnis ward das soziale Elend damals nur in Persönlichkeiten von überragender geistiger Selbständigkeit. Es gab freilich solche. Sie musste aber zu Größenwahn oder zu verzweifelndem Weltschmerz hinführen vor der russischen Wirklichkeit, wenn sich der mit ihr Begabte nicht im Gestalten großer Kunstwerke zu befreien vermochte; aber auch dann blieb seine geistige Selbständigkeit Tragik für ihn, Kassandraschicksal.
Solches war das Los Tolstois. Er sah nicht nur das Elend seiner Leibeigenen, er erlebte es auch und begriff seine einfache Ursache. So war er — ein Jüngling noch vor die peinliche Wahl gestellt, entweder alle, die ihm lieb und wert waren, und in denen er seine Vorbilder erblickte, als Sklavenhalter abzuurteilen, oder aber sich gewaltsam abzulenken von der Erkenntnis der Ungerechtigkeit, die sein Zeitalter beherrschte. Und das gelang Tolstoi, da er ein großer Künstler war, und eine überreiche Seele ihm innewohnte, in einer Weise, dass hohe, unschätzbare Werte dabei abfielen für die Kulturmenschheit: Tolstoi floh von einem seelischen Festgehaltenwerden bei dem geknechteten Teile seines Volkes zu dem Volksganzen, zum Vaterlande — und schrieb „Krieg und Frieden“. Dabei wich aber das einmal erschaute Unrecht an seinem Volke nicht mehr von seiner Seele und saß bei allem, was er tat und dachte, um es zu vergessen, wie mit unsichtbarer Peitsche hinter ihm und trieb ihn an zu beispielloser Hast und Anstrengung. Und als dann Tolstoi das russische Leben, das dem Künstler so unendlich reizvolle Aufgaben stellt, in unerhört intensivem Schaffen durchgestaltet hatte bis an die Grenze des Fassbaren, — da kehrte er, als Fünfzigjähriger, zu der Reue zurück, vor der er als Zwanzigjähriger geflohen war — und er kehrte zurück zu ihr, als die Leibeigenschaft bereits lange nicht mehr existierte. Er vermochte aber von da an alles Menschenlos nur noch durch das Medium der Leibeigenschaft zu schauen: sie war ihm fortan das Menschenschicksal. Und wenn ihn diese nachträgliche Reue über seine früh erkannte soziale Schuld auch seltsam scharfsichtig machte gegenüber den sozialen Übeln unserer Zeit, so ward er doch so auch veranlasst, das Unbewusste in der sozialen Selbstsucht des Zeitgenossen zu übersehen, und dessen ganz allgemeine soziale Schuld der klar und offen zutage liegenden Schuld des Seelenbesitzers gleichzusetzen, und zwar der Schuld des ausnahmsweisen Seelenbesitzers, wie er selber einer war, der wusste, dass für jeden Rubel, den er unnütz ausgab, ein Leibeigenenkind hungerte und vielleicht starb, ein hilfloses Kind, dessen Vater den Rubel erarbeitet hatte, den er, der Seelenbesitzer, verprasste.
So aber ward das soziale Elend der Leibeigenen nur von einem sittlichen Genius erfasst, — und auch der vermochte sich dreißig Jahre hindurch von ihm abzulenken.
Nur, wenn wir uns besinnen auf die Gewöhnung der russischen Gesellschaft an das soziale Elend ihres Volkes während der Leibeigenschaftsperiode, — und wir übersehen dabei nicht die glühenden Proteste eines Puschkin, Gogol, Turgenjeff und Nekrasoff — begreifen wir es, dass auch das aufgeklärte Russland immer noch das Elend seines Volkes als ein unabänderliches Schicksal hinzunehmen geneigt ist, als eine Fügung, mit der man sich wohl oder übel auseinandersetzen muss, der gegenüber man zudem auch Wohltätigkeit ausübt, in deren Beseitigung man aber an sich, das heißt außerhalb der politischen Freiheitsbewegung, keine unmittelbare gesellschaftliche Aufgabe zu erblicken vermag. Denn das ist doch Tatsache, und der Westeuropäer kann sich gar nicht genug darüber wundern, dass die russische Gesellschaft sich alles in allem genommen so wenig imstande erweist, auch nur mit dem allergröbsten sozialen Elend ihres Volkes fertig zu werden, dass sie ihm gegenüber nur die kleinlichen Mittel einer meist peinlich bureaukratisierten Wohltätigkeit hat, im übrigen aber dahinlebt mit einem Straßenbild vor Augen, an dem der nicht gerade sozialdickhäutige Westeuropäer, wenn er nach Russland verschlagen wird, in tiefe Schwermut verfällt und nie völlig die Lust los wird, solange er in Russland lebt, alles liegen zu lassen und einfach davonzulaufen in seine Heimat. Und solche Fälle erlebte ich zu Dutzenden während meines russischen Aufenthaltes. Und man braucht auch gar kein Mitleidsgenie zu sein wie Tolstoi, um, nachdem man an einem eiskalten Winterabend durch gewisse Moskauer Straßen gegangen war, und dort halberfrorene, vor Hunger und Frost weinende oder völlig apathisch gewordene oder sich immer noch mit entsetzlich wissendem Blick anbietende Kinder in ganzen Scharen gesehen hat, sich nachträglich, aufrichtig und von ganzem Herzen zu schämen, und sich die bange Frage vorzulegen, ob unser warmes, sauberes Zimmer nicht einen Raub an anderen bedeutet, an denen da draußen, die frieren, betteln und sich verkaufen müssen und doch ebenso unschuldig sind an alledem, wie wir an unserer bürgerlichen Ehrbarkeit! Wir fragen uns unwillkürlich an solchem Winterabend, ob wir überhaupt ein Recht haben, uns selber nicht zu verachten, solange wir nicht hinausgestürzt sind auf die Straße und hineinriefen zu uns von den weinenden, frierenden, bettelnden Kindern, so viele nur immer unsere Stube zu fassen vermag! Das tun wir aber nicht! Und wir wissen, dass wir das nie tun werden! Das tut niemand in Russland, das tat auch Tolstoi nicht, auch nicht Dostojewski, auch nicht Solowieff ( — das tat nur vor mehr als fünfzig Jahren ein Ausländer, ein Kölner Apothekerkind, der gute Doktor Haas!). Von solchen Erlebnissen an russischen Winterabenden bleibt aber immer eine Wunde zurück in der Seele des Westeuropäers.
Mit einem Wort: Wir Westeuropäer werden immer wieder von Staunen erfasst gegenüber der scheinbar kühlen Selbstverständlichkeit, mit der auch der aufgeklärte, ja der fortschrittliche Russe das unmittelbare Volkselend hinnimmt. Und wenn wir gar in Tolstois „Was sollen wir tun?“ lesen, wie der Sozialprophet Tolstoi beim Besuche Moskauer Nachtasyle die arme Prostituierte, die ihre halbwüchsige Tochter verkauft, ekelerregend bezeichnete, und keinerlei Mitleid mit ihr empfunden zu haben bekennt, so glauben wir da vor einem Rätsel zu stehen!
Wenn ich nun aber weiter oben Russland das Land des sozialen Anschauungsunterrichtes nannte, so möchte ich das doch nicht durchaus in dem Sinne verstanden wissen, als ob das soziale Elend in Russland dasjenige in Westeuropa so überaus überragte. Hinzu kommt vor allem, dass das soziale Elend in Russland sich nicht zu verstecken braucht — und es könnte sich auch gar nicht verstecken, dafür wäre selbst im weiten Russland kein Raum — dass es sich vielmehr offenbart am hellichten Tage und vor aller Augen. Und das wiederum liegt wohl ebenso in der einfachen Natürlichkeit des Russen begründet, der sich niemals seiner Armut schämt, wie auch in einem noch nicht verbildeten sozialen Schamgefühl innerhalb der russischen Gesellschaft (die nicht wie unsere westeuropäische das Elend zwingt, sich zu verstecken, wodurch denn die heranwachsende Jugend bei uns betrogen wird um das wahre Weltenbild und so später oft ihre besten Kräfte vertändelt in ästhetischen Spielereien). Freilich schuf trotz dieses ihres irregeleiteten, nicht geständigen sozialen Schamgefühls unsere Gesellschaft (die das Elend ihres Volkes nicht vor Augen haben will, um nicht erröten zu müssen vor sich selber) alle die Maßnahmen sozialer Fürsorge, die wir in Russland leider immer noch so vermissen, und die in aller ihrer Unvollkommenheit doch tatsächlich viel Elend beseitigen, und noch mehr sonst unausbleibliches Elend verhindern, und die in allen ihren unbestreitbaren Mängeln doch einwandfrei sind, solange mit ihnen nicht der Begriff der Wohltätigkeit verbunden wird, sie vielmehr geschehen in dem offen eingestandenen, beschämenden Bewusstsein, dass hier eine verschwindend kleine Abzahlung geleistet wird auf übergroße soziale Schulden. Freilich hat in Russland noch bis vor ganz kurzem eine auf ihre absolute Gewalt eifersüchtig wachende Regierung der Gesellschaft überhaupt kaum irgendeine Anteilnahme an der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten gestattet! So fühlt man sich denn auch heute noch in der russischen Gesellschaft — mit einigem Rechte nicht völlig schuldig an dem sozialen Elend des Volkes, man ist vielmehr — und das bedeutet nun einen schweren, verhängnisvollen Irrtum — meist durchaus geneigt, hierin die ausschließliche Schuld der Regierung zu erblicken (und nicht bloß in Russland, überall auch in Westeuropa ist nach Ansicht des aufgeklärten Russen der Staat schuld an der Not des Volkes. Hier vor allem entspringt jene russische Staatsverneinung, die bei Tolstoi so fanatischen Ausdruck fand). Zudem glaubt die russische Gesellschaft nicht — es fehlt ihr hier die Erfahrung — an ihre Fähigkeit der alles erdrückenden Volksnot gegenüber mehr wie Äußerliches wirken zu können, — und sie ist dabei in Erinnerung aller nie endenden Missbräuche der Staatsgewalt viel zu radikal gesinnt, um sich mit Teilerfolgen begnügen zu können.
Die aufgeklärte russische Gesellschaft glaubt überhaupt nicht mehr an die Möglichkeit einer wesentlichen Besserung der sozialen Verhältnisse in Russland, solange dort die heutige Regierungsform beibehalten wird, und sie schließt daraus, — etwas voreilig und man möchte sagen, etwas bequem — dass eine einigermaßen wirksame Abhilfe des sozialen Elendes überhaupt erst einsetzen könne nach dem Sturze des despotischen Regimentes, und das heißt in Russland nie etwas anderes als nach Einführung der sozialistischen Republik, in der auch, wie man dort glaubt, kein soziales Elend mehr möglich sein werde. Dabei übersieht man freilich, dass die, die augenblicklich leiden, nichts mehr haben werden von einem zukünftigen Reiche der Gerechtigkeit, und dass ihnen, die jetzt im Elend sind, doch auch ein Recht zukommt auf Brot und auf Sonnenschein, und dass sie berechtigt sind, beides zu verlangen von denen, die gerade jetzt geschützt sind vor unmittelbarer Not. Einen noch verhängnisvolleren Irrtum begeht die russische Gesellschaft darin, dass sie noch immer nicht die rein körperlichen Ursachen des sozialen Elendes anerkennen will, die freilich zum großen Teile, aber doch längst nicht ausschließlich, in den sozialen Verhältnissen begründet sind: auch die Wohlhabenden missbrauchen ja Alkohol und leben ausschweifend, und erzeugen somit degenerierte Kinder, die unter Umständen Verbrecher werden müssen. (Freilich suchen sich die Wohlhabenden heute durch Rausch in Alkohol und Ausschweifung auch abzulenken von ihrem beunruhigten sozialen Gewissen. Bis zu welchem Grade das aber der Fall ist, das wissen wir nicht. Behaupten zu wollen, die Beunruhigung des sozialen Gewissens sei ausschließlich schuld an Alkoholismus und Ausschweifung, wäre unerlaubter Dogmatismus, ein Kompliment, das man der menschlichen Natur macht, — und wir wissen dabei längst schon durch trübste Erfahrungen, dass solche Komplimente immer nur auf Kosten der wirklichen Menschen geschehen. An ihnen pflegt man niemals mit ruhigerem Gewissen seinen unbezwungenen Menschenhass auszulassen als dann, wenn man sie strafen zu müssen glaubt dafür, dass sie nicht so vollkommen sind, wie sie es als Menschen doch sein müssten!) Und schließlich! Die zu sozialem Elend und zum Verbrechen durch Abstammung von kranken Eltern vorherbestimmten Menschen sind doch selber nicht schuldig, und sind doch da, und leiden doch und haben somit ein Anrecht auf Hilfe!
Es scheint mir mithin die praktische Stellung der heutigen russischen Gesellschaft dem sozialen Elende ihres Volkes gegenüber gekennzeichnet dadurch, dass man dort Abhilfe bloß erwartet vom Umsturz der Staatsordnung. Man will den aber gerade darum, damit dem sozialen Elend abgeholfen werde, denn sein Vorhandensein will man nie und nirgends vergessen.
Denn — und hier beginnt die eigentliche Offenbarung der russischen Seele — alle die, die das greifbare Volkselend scheinbar so kalt hinnehmen, sie alle haben ihrer Seele ein für allemal die Richtung gegeben unmittelbar hin auf die Tatsache dieses Volkselendes. Sei es, dass sie ihr ganzes Dasein einer Heildoktrin unterordneten, für die sie ohne ein Wort der Klage Kerker und Verbannung dulden, ja selbst zu Mördern werden, sei es, dass sie sich dem Volkselend gegenüber persönlichen Verzicht auferlegen auf jedes Vergnügen, auf jede Freude, auf jedes Behagen im Leben. Und das ist im Grunde gar nicht so seltsam, wie es uns Westeuropäern auf den ersten Blick erscheinen will.
Die Not seines Volkes begleitet ja den Russen durch sein ganzes Dasein, sein Gefühlsleben wird von frühester Kindheit an bestimmt durch das Elend der Masse, dessen Anblick er nirgends zu entgehen vermag. Sobald dann der Gedanke erwacht im Russen, steht auch gleich schon das Elend des armen Volkes vor ihm als die Aufgabe seiner Gedanken! Daher ist denn auch sein an sich überaus inhaltsbeschwerter Begriff von menschlichem Elend — und nur in Russland erfährt man, was alles die Lebensnot aus dem Menschen zu machen vermag — derart verwachsen mit dem Gesamtinventar seiner Seele, dass eine gedankliche Unbefangenheit hier vielleicht geradezu als Zeichen unnormaler Gefühlskälte angesehen werden müsste. Denn wenn auch fast alle gesellschaftlichen Doktrinen, die heute über das aufgeklärte Russland herrschen, als zweifellose Krankheiten des Geistes angesehen werden müssen, insofern sie hindeuten auf weitgehende Hemmungen im russischen Denken, so liegt doch auch andererseits hier wiederum die Frage nahe, ob nicht unter sozialen Verhältnissen von einer ganz bestimmten Unnormalität geistig zu erkranken, geradezu als ein Zeichen einer von Hause aus gesunden Seelenveranlagung betrachtet werden muss. Diese Frage ist meines Erachtens nicht nur nicht abzuweisen, sie ist unerlässlich im Interesse der Gerechtigkeit, und — gestehen wir es nur ganz offen — diese Frage ist auch sehr wahrscheinlich durchaus im bejahenden Sinne zu beantworten. Denn wir betonten es bereits — auch der normal empfindliche Westeuropäer erkrankt in Russland fast immer am sozialen Elend der Masse. In der Regel äußert sich das freilich nur in einer alles überschattenden Unlust, die gerade da um so quälender wirkt, wo sie des zureichenden Grundes in den äußeren Verhältnissen ermangelt. Solche, in ihren letzten Ursachen unerkannte seelische Unlust gibt aber, wie wir heute wissen, unter Umständen den Anlass zu späteren Nervenkrankheiten, auch zu solchen bedenklichster Art (vielleicht ist hierauf auch vor allem die so auffallende Degeneration der nach Russland übergesiedelten Deutschen zurückzuführen, die sich oft schon in der zweiten Generation bemerkbar macht). Dabei nimmt bisweilen die seelische Erkrankung des nach Russland übergesiedelten Westeuropäers von vornherein eine akute, bedrohliche Form an. (Wir wollen seine soziale Erkrankung eine sekundäre nennen, weil er ja nicht am eigenen sozialen Elend erkrankt ist, vielmehr an dem der Masse. Ganz im allgemeinen sei dabei bemerkt, dass wir alle heute — und das versteht sich für jeden, der nur einigermaßen unsere sozialen Zusammenhänge kennt, ganz von selber — mehr oder minder sekundär-sozial erkrankt sind, und dass darin zweifellos eine, und vielleicht eine der hauptsächlichsten Ursachen der zunehmenden Neurasthenie unserer Zeit anzusprechen ist.) So sind mir während meiner Anwesenheit in Russland Fälle vorgekommen, dass am Elend der Massen erkrankte, meist eben erst in Russland eingetroffene Westeuropäer, sich schließlich unberechtigt wähnten, ein Leben ohne Alkoholmissbrauch und ohne Laster zu führen, weil doch ringsherum ihre Mitmenschen in so großer Zahl einfach gezwungen seien zu Rausch und zu Ausschweifung, und sie selber sich dabei durchaus mitschuldig fühlten an dem Elend dieser Unglücklichen, da sie ja wie wir alle für sich selber mehr verbrauchten, als zu dauernder Lebenserhaltung genügt, sie mithin auch ihrerseits von der unbezahlten Arbeit anderer lebten. Die Begründung ist hier — sagen wir es nur gleich frei heraus — durchaus einwandfrei, nur die Schlussfolgerung bleibt falsch: denn augenscheinlich ist doch der Erkenntnis einer persönlichen Schuld nicht damit begegnet, dass man sie freiwillig mehrt oder sich wenigstens selber die Möglichkeit nimmt, sie irgendwie auszugleichen! In den Fällen solcher schweren sekundären sozialen Erkrankung, die ich miterlebte in Russland, ist es zwar nicht zum eigentlichen Alkoholismus gekommen, wohl aber ausnahmslos zu tiefster Schwermut. Selbstmord wäre wohl unausbleiblich gewesen, wenn die so Erkrankten nicht schleunigst in ihre Heimat zurückbefördert worden wären, wo sie sich dann langsam erholten.
Wir kommen damit auf den Kernpunkt der ganzen Frage: Die Seele des Menschen (die mitfühlend ist ihrem innersten Wesen nach, und nie und nirgends ihr Eigenleben zu führen vermag, ohne aufs innigste verflochten zu bleiben mit dem Seelenbefinden um sie herum) passt sich ganz augenscheinlich immer nur an eine ganz bestimmte allgemeine soziale Lage an. Darum kann der Mensch auch nicht in eine wesentlich von der gewohnten verschiedene soziale Umgebung verpflanzt werden, ohne nicht wenigstens vorübergehend aus seinem Gleichgewicht zu kommen. Die Russen wachsen nun vor einem Volkselend heran, das allzu gewaltig, zu sehr alles andere überschattend wirken muss, als dass dem vor ihm sich bildenden Menschen eine harmonische Ausbildung seiner Anlagen und Kräfte möglich wäre. Die Erlebnisse seines Fühlens erhalten so durchaus den Vorzug vor allen anderen Erlebnissen, weil sie eben weit mehr Begründung, das heißt Betätigungsmöglichkeit, in der Wirklichkeit finden als zum Beispiel die Erlebnisse des Gedankens, der ja schon bei seinem Erwachen auf Widersprüche stößt: in dem Gegensatz zwischen den überall verkündeten Geboten der Nächstenliebe und — der russischen Wirklichkeit! Und solche Widersprüche machen natürlich misstrauisch.
Nun enden aber durchaus nicht alle Russen im Selbstmord oder — als politische Märtyrer — am Galgen oder in sibirischen Zuchthäusern (wenn auch dort eine sehr große Zahl der Besten zugrunde geht). Augenscheinlich überwindet demnach schließlich auch im Russen der Lebenswille die Weltunlust (die ein allzufrühes Erleben der Volksnot in ihm geradezu heranzüchten musste). Die Überwindung der Lebensunlust ist aber nur dann möglich, wenn man die sie veranlassenden Zusammenhänge der Wirklichkeit zum Mittelpunkt des bewussten Seelenlebens erhebt. Der Notwendigkeit hierzu kommt entgegen die angeborene und durch Russlands Schicksale noch besonders entwickelte Neigung des Russen, außerhalb der Wirklichkeit zu leben. Die Not seines Volkes gibt ihm somit nur noch den letzten Anstoß zu einem Dasein ganz in der Vorstellung, in der Vorstellung von einer Wirklichkeit, in der alle Not des Volkes beseitigt sein wird. Und weil diese Vorstellung vom Russen erlebt wird als etwas, das sein muss, wenn das Leben überhaupt Anreiz haben soll, tritt sie auch von vornherein auf in ihm mit dem unerschütterlichen Glauben an ihre Verwirklichungsmöglichkeit. (Der elementare Lebenswille eines Menschen findet schließlich seinen Anreiz auch in der Vorstellung von einem Nichtvorhandensein der Zusammenhänge des tatsächlichen Lebens, deren Anblick ihn zu erschüttern drohte.) So entstehen die gesellschaftlichen Doktrinen. An ihrer daseinserhaltenden Bedeutung für die gebildete russische Gesellschaft kann der einigermaßen in russische Verhältnisse Eingeweihte keinen Augenblick zweifeln. Auch nicht daran, dass hier, in der gesellschaftlichen Doktrin, sehr wohl Antriebe liegen können zu realem kulturellen Fortschreiten. Es fragt sich nur, ob die Kosten nicht unverhältnismäßig hohe sind, denn der gesellschaftliche Doktrinär (man hört ihn in Russland meistens „Idealist“ nennen, doch bin ich etwas vorsichtiger mit diesem Worte gerade des Missbrauchs wegen, der in Russland mit ihm getrieben wird) erleidet gewisse, nur in äußerst seltenen Fällen restlos zu überwindende Hemmungen in seinem Denken (jede Doktrin schiebt gleichsam dem Denken einen Riegel vor, und jeder Riegel vor dem Kopfe wird mit der Zeit auch zu einer Fessel für das Herz, weil der Mensch ja nur da normal, das heißt mit Liebe zu antworten vermag auf die Äußerungen eines Menschen, wo ihm die Möglichkeit bleibt anzunehmen, er habe ihn nicht verstanden). Des weiteren wird der Doktrinär ganz im allgemeinen, der soziale Doktrinär im besonderen — sehr leicht dazu verführt, den Mitmenschen ausschließlich oder wenigstens vor allem zu werten nach seinem Bekenntnis zur Doktrin und in Hinsicht auf die Rolle, die ihm innerhalb ihrer zukommt (auch hier stehen wir vor gewaltigen Hemmnissen gegen die Liebe und gegen die Gerechtigkeit in Herz und Busen des Doktrinärs). Schließlich aber wird der Doktrinär, und wiederum vor allem der soziale Doktrinär, überhaupt dem Leben in der Wirklichkeit entfremdet (er misst sie ja nach Maßstäben, die er nicht ihr selber entnahm, vielmehr nur einem Traumbilde von ihr, das er nötig hatte, um vor ihr zu bestehen bei sich selber). Diese letzte Gefahr für den Doktrinär scheint mir die naheliegendste — und dabei auch die bedenklichste — und gerade ihr verfällt das freiheitliche Russland immer wieder. Ich meine den — bereits oft erwähnten — politischen Ästhetismus, die Wertung einer Tätigkeit, die der Allgemeinheit gelten soll, vorwiegend nach ihrer Wirkung auf die Seele der Tätigen selber (danach, wieweit sie — diese Tätigkeit — sozialen Missständen gegenüber erlebten Gefühlsbedürfnissen Befriedigung verspricht, nicht aber, wieweit sie einer Beschränkung und endlichen Beseitigung eben dieser sozialen Missstände dient) .
Dieser soziale Ästhetismus herrscht nun immer noch fast allmächtig über das fortschrittliche Russland. Er verurteilt das zu sozialen Opfern bereite Russland — und das ist ein sehr großer Teil des tatsächlichen Russlands — in weitestem Masse zur Unfruchtbarkeit und bedeutet — wir betonen das immer wieder — ein weit mächtigeres Hemmnis für den russischen Gedanken, als je die Polizeizensur es war. Dabei vermag ich heute weder eine Abnahme des politischen Ästhetismus in Russland wahrzunehmen, noch bin ich in der Lage, mir vorzustellen, von welcher Seite hier überhaupt Abhilfe kommen könnte. Der politische Ästhetismus hat immer noch eine äußerst starke Position in der tatsächlich unfassbaren Fülle des dort herrschenden sozialen Elends. Ihm gegenüber gilt aber seinen (des politischen Ästhetismus) Anhängern nur ein Massstab: die Grösse des gebrachten Opfers. Und wenn schon die über das freiheitliche Russland herrschenden sozialen Doktrinen durchaus erfunden zu sein scheinen dazu, einem weit verbreiteten Opferbedürfnis Verwirklichung zu gewähren, so wird zudem noch die Aufrichtigkeit der jedesmaligen Überzeugung in der Regel ausschließlich gewertet nach der mit ihrem Bekenntnisse verbundenen Gefahr! Die soziale Wirklichkeit tritt demgegenüber mehr und mehr in die zweite Reihe, und so stehen denn auch eigentlich die Erfolge des freiheitlichen Russlands in gar keinem Verhältnis zu den gebrachten Opfern. In direktem Verhältnis zu ihnen steht aber das Selbstbewusstsein dessen, der sie brachte, sein sich Überheben über seinesgleichen. Bei diesem ihrem ästhetischen Grundzug geht denn auch die freiheitliche Bewegung dieses elementaren Künstlervolkes immer deutlicher über in eine fast schon offen eingestandene, zielbewusste Tätigkeit zur Befriedigung sozialer Gewissensbedürfnisse: zur Aufrechterhaltung des Selbstbewusstseins im Angesichte schwerster sozialer Missstände, zur persönlichen Selbstbehauptung gegenüber einem alles überschattenden Volkselend. Nun sind das alles ja an sich hohe Lebensziele, und ganz die gleichen, die zu religiösem Zusammenschluss führen. Sie haben hier nur das Bedenkliche, dass so unschätzbare Möglichkeiten zu tatsächlicher Linderung der Volksnot unbenutzt bleiben (eben durch die falsche, unfruchtbare Verwendung der sozial wertvollsten Elemente: der Opferbereiten), und dass zudem noch das an sozialem Opfermut großgezogene Selbstbewusstsein — und es scheint, diese Neigung eignet ihm immer und überall — den, der es erlebt, veranlasst, sich ein ganz bestimmtes Verfügungsrecht über seine Mitmenschen anzumaßen, das dabei hier keineswegs platonisch bleibt, wie bei anderen erträumten Überlegenheiten, vielmehr ohne jedes Bedenken auch Geistesfreiheit und Leben des Mitmenschen aufs Spiel setzt.
Man kann demnach dem russischen Terroristen nur gerecht werden, wenn man sein Ästhetentum anerkennt. Aufrichtig ist er unstreitig. Er täuscht sich nur über seine Endziele. Er glaubt für sein Volk zu wollen und will für sich selber, für das in sich, was unter der Not seines Volkes leidet. Der Terrorist will zunächst sich selber beweisen, dass er der Not seines Volke gegenüber alle Opfer zu bringen vermag, die überhaupt hier möglich sind, — und dabei tritt die Frage, wieweit diese Opfer wirksam sind in Hinsicht auf das Volksheil, naturgemäß in den Hintergrund. Aber nicht nur das! Der Terrorist und jeder andere Sozialästhet sieht, dass die große Masse der Sozialgesicherten die Opfer nicht bringt, zu denen er sich entschlossen hat, und das führt ihn dann zu einem Hochmut, der wie jeder andere Hochmut, und vielleicht mehr wie jeder andere den, der ihn erlebt, blind macht vor den Menschen, weil er sie ja nunmehr einseitig beurteilt nach seiner Überlegenheit über sie, nach ihrer mangelnden Opferwilligkeit — und das, ohne sich die Frage vorzulegen, ob sie, die er verachtet, auch die gleichen Opfer als notwendig und zweckmäßig anerkennen wie er. Kaum irgendwo anders herrscht denn auch peinlichere Menschenverachtung als in sozialästhetischen Kreisen. Wenn aber auch zugegeben werden soll, dass hier, wie überall, in Hochmut nur die verfallen, die das Allzumenschliche in sich nicht überwunden hatten, bevor sie sich noch zum Opfer für ihr Volk entschlossen, so bleibt doch immer etwas auf Befriedigung des persönlichen Gefühlsbedürfnisses Gerichtetes zurück in solchem Tun, und wirkt ablenkend vom praktischen Ziele. Die ruhigsten sozialen Gewissen in Europa finden wir denn wohl auch heute in russischen Kerkern bei den politischen Sträflingen: die haben sich den Beweis erbracht, dass sie gegenüber der Not ihres Volkes zu allen Opfern bereit sind, die sie zu bringen vermögen. Dabei sind sie vorderhand der Qual des Wählenmüssens (hinsichtlich der Mittel zur Beseitigung der Volksnot) überhoben und doch fest entschlossen, sobald sie nur die Freiheit wiedererlangt haben, fortzufahren im Wirken für das Heil ihres Volkes, wie sie es verstehen. Rein formal wird hier freilich das schöne Beispiel gegeben einer restlosen Aufopferung für persönliche Überzeugungen und dazu noch für solche Überzeugungen, die außerpersönlichen Zusammenhängen gelten. Indes wird hier doch, alles in allem genommen, ein großer Aufwand umsonst vertan. Und dann bedeutet auch dieser gesamte, gelegentlich soziale Ästhetismus (ganz abgesehen von allen Gewalttaten, zu denen er greift, und hinter denen sehr wohl unbezwungener Menschenhass stecken kann, der hier eine außerpersönliche Rechtfertigung gefunden zu haben glaubt) eine große Gefahr für die gesunde Selbstkritik. Wir finden denn auch innerhalb der freiheitlichen russischen Gesellschaft die Ehrfurcht vor den politischen Märtyrern in einer Kritiklosigkeit vorherrschend, die zu weitgehendster sittlicher Begriffsverwirrung führen muss, indem es so einfach unmöglich gemacht wird — unter Androhung gesellschaftlicher Ächtung, was hier weit mehr wirkt, als die Aussicht auf Kerker und Verbannung in den Handlungen und Anschauungen politischer Märtyrer Allzumenschliches bei Namen zu nennen.
Und so lange wird sittliche Begriffsverwirrung herrschen im freiheitlichen Russland, als lediglich das Opfer zum Maßstab dient für die Zweckmäßigkeit eines persönlichen Eintretens für das Volk. Solange das aber der Fall ist, wird man dort auch nicht begreifen, dass es für den, der für sein Volk tätig sein will, doch ganz und gar nicht ankommen kann auf die Rolle, die ihm dabei zufällt, vielmehr ausschließlich auf die Wirkung, die von seinem Tun ausgeht auf sein Volk. Wenn uns Westeuropäern das Leiden unseres Volkes zu Taten ruft, so denken wir in der Regel auch gar nicht daran, ob man uns für feige oder für heldenhaft halten wird, für selbstsüchtig oder für aufopfernd. Nur auf das eine sind dann alle unsere Gedanken gerichtet: dass das Leiden unseres Volkes gehoben, zum mindesten gelindert werde! Wir sind freilich kein Künstlervolk wie die Russen. Unser Volk ist darum aber besser daran, es dient uns nicht als Mittel, um auf seine Kosten die Gefühle in uns zu befriedigen, die sein Elend in uns wachrief, wir zählen uns eben selber zum Volk, wir kennen keine Ausnahmestellung ihm gegenüber, auch nicht in dem, was wir für es tun.
Hier, in dem politischen Ästhetismus des freiheitlichen Russlands, der gegründet ist in Denkverboten und endigen muss in Selbstüberhebung, spreche ich das an, was seiner Verständigung mit Westeuropa vor allem im Wege steht, ja weswegen wir so oft an seiner Aufnahmewilligkeit für Westeuropa zweifeln müssen. Und demgegenüber kommen noch immer nicht Verstandesgründe an: wir Westeuropäer lassen uns ja nicht nach Sibirien schicken, wir lassen uns nicht einsperren für unser Volk, wir lassen uns auch nicht für es hängen, und darum können wir ja gar nicht recht haben dem freiheitlichen Russland gegenüber! Das ist ein für
Zar Peter der Grosse
Alexander I. Kaiser von Russland
Garde Tscherkesse
Tarantaß - Russlands Postkutsche
Kaukasische Kinder
Kaukasische Garden
Ossete
Kuban Kosaken
Tiflis
Tscherkesse
Mingerelier
Tschetschenze
Mingerelierin
Pferdeschlitten
Russisches Sittenbild
Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen
Russischer Geistlicher
Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma
Reiterstandbild Peter I.
Volksleben in Petersburg
Mutterliebe
Russischer Dorfmusikant
Kosaken
Drohsky-Fahrer bei der Teepause
An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast
Bauernhochzeit
Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 1821-1881
Turgenew, Iwan Sergejewitsch 1818-1883
Nicola Wassiljewich Gogol (1809-1852), russischer Schriftsteller
Lew Graf Tolstoi (1828-1910), russischer Schrifsteller
Nikolaus Karamsin (1766-1826), russischer Schriftsteller und Historiker
Antiokh Kantemir (1708-1744), russischer Schriftsteller