Russland und Westeuropa – VI. Die Leibeigenschaft IV. Prostitution und Alkoholismus

Aus: Das heutige Russland
Autor: Nötzel, Karl (1870 in Moskau – 1945 in München) Studium der Volkswirtschaft und Chemie. Übersetzer, Schriftsteller, Slawist und Philosoph, Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Tolstoi, Schriftsteller, Künstler, Dichter, Sozialprophet, Volksleiden, soziale Leiden, Ungerechtigkeit, Not, Leibeigenschaft, Prostitution, Alkoholismus,
Schließlich wäre es ein schweres Unrecht am russischen Volke, wenn man nicht auch auf das Konto der Leibeigenschaft jene unselige soziale Haltlosigkeit setzen würde, die den Westeuropäer immer wieder in Staunen setzt, wenn wir zum Beispiel erleben, dass ein bisher durchaus anständiger Arbeiter oder Hausdiener plötzlich, wenn er einmal anfängt zu trinken, fast ohne jeden Übergang in ganz wenigen Tagen auf die Stufe des Bettlers und Nachtasylkunden herabsinkt und dabei einer Verwahrlosung verfällt, von der wir in Westeuropa kaum eine Vorstellung haben. Sicherlich kommt hier ein Teil der Schuld auch dem Alkoholismus an sich zu, indes muss die Schuld an ihm in weitem Masse wiederum der Leibeigenschaft zugeschrieben werden. Unsere Abstinenten — ich selber zähle mich seit Jahren zu ihnen und darf darum mitreden — sind leider wenig geneigt, den sozialen Einflüssen die ihnen in Hinsicht auf die Verführung zum Alkohol tatsächlich zukommende Rolle zuzuerkennen. Das mag aus taktischen Gründen geboten sein. Man vergisst dabei aber allzu leicht, dass der Alkoholismus in sehr hohem Masse die direkte Folge sozialen Elends ist. Darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen: darauf weist auch schon ganz unmittelbar hin die spezifische Eigenschaft des Alkohols, dem Menschen eine grundlose Zufriedenheit mit sich selber zu gewähren, ihm zudem die Hemmnisse wegzutäuschen, die das Leben ihm entgegenstellt, und ihm so Selbstbewusstsein und Unabhängigkeitsgefühl wenigstens auf Augenblicke erleben zu lassen. Und die Sehnsucht nach diesem Erlebnisse drückt dem Alkoholiker immer wieder das Glas in die Hände. Demnach hätte der Alkohol für die Leibeigenen erfunden werden müssen, wenn er nicht schon gewartet hätte auf sie. Man vergegenwärtige sich doch nur einmal, welchen Anreiz ein, wenn auch nur momentanes. Vergessen der Wirklichkeit haben muss für einen Menschen, der nicht nur persönlich ununterbrochenen Demütigungen und Entwürdigungen ausgesetzt ist, nein, dem nicht einmal die Möglichkeit zukommt, für die Seinen, die er liebt, und die auf ihn angewiesen sind, eintreten zu können. Wer hat das Recht, einen Stein zu werfen auf diesen Menschen, wenn der dann zur Flasche greift? Und wer darf den armen Hörigen verachten deswegen, dass er es vorzieht, zu trinken, statt seinen Peiniger totzuschlagen oder dem eigenen Sklavenleben ein Ende zu machen? Ganz abgesehen davon, dass letzteres in sehr vielen Fällen tatsächlich geschehen ist, war es immer gegen die Pflicht: denn auch so noch, in der ganzen Unsicherheit seiner Lage, in aller seiner Machtlosigkeit vor der Willkür seines Herrn, der über ihn verfügte wie es ihm gerade einfiel, auch so noch war der leibeigene Familienvater ein Schutz für Frau und Kinder, wenigstens ein lebendiger Vorwurf dem brutalen Herrn, wenn der sich vergriff an ihnen! Und dann, wenn der leibeigene Familienvater — sein Seelenbesitzer brauchte dazu bloß das Transportgeld bis Tobolsk zu zahlen — von seinem Herrn in Fesseln nach Sibirien geschickt ward — (und der gab meist der Behörde als Grund „unerhörte Frechheit“ an, das heißt, der Leibeigene hatte sich nicht hündisch demütig erwiesen!) — so mussten ihm dem Gesetze nach wenigstens die Söhne bis zu fünf Jahren, die Töchter bis zu zehn Jahren mitgegeben werden! Und das war doch wenigstens etwas! Immerhin besser, als die völlige Verlassenheit von Frau und Kindern, die damals ja immer nur sittliche Verderbnis, Vergewaltigtwerden und frühen Untergang zur Folge hatte!

Da alles dieses Elend hundertfünfzig Jahre lang herrschte und unvermeidlich war für jeden russischen Bauern, so muss man sich viel mehr darüber wundern, dass nicht ganz Russland im Alkohol verkommen ist, als darüber, dass die Neigung zum Alkohol in weiten Kreisen des russischen Volkes durch Generationen hindurch tatsächlich vererbt wird. Und damit sind denn auch dort — wir wissen das heute ganz genau — jene oft kaum wahrnehmbaren seelisch-geistigen Minderwertigkeiten mit vererbt, die den mit ihnen behafteten Menschen bei nur ganz geringen Schwankungen in seinem Erwerbsleben den — heute noch meist unheilbaren — sozialen Krankheiten der Prostitution, des Verbrechens und des Vagabundentums in die Arme treiben. Dabei bleibt es wohl in weit höherem Grade zurückzuführen auf den jahrhundertelang während der Leibeigenschaftszeit erlittenen Zwang, als auf das heutige soziale Elend, dass es auch im Russland unserer Tage noch tatsächlich seelisch unschuldige Prostituierte gibt, und dass die allermeisten von ihnen sich selber ihr Gewerbe durchaus verzeihen. Und mit Recht! Einmal hat man die Kinder der Hörigen jahrhundertelang zur Prostitution einfach gezwungen. Sie mussten sich fügen, schon um ihrer Eltern und Geschwister wegen, die unter ihrem Trotze sehr zu leiden gehabt hätten — auch das ist vorgekommen — außerdem aber wurde ein solcher Trotz meist sehr rasch gebrochen und auf das brutalste. Mir ist ein Dokument vor Augen gekommen, in dem ein Seelenbesitzer sich rühmt, er habe jedesmal das Bauernmädchen, das er missbraucht habe, nachträglich durchprügeln lassen, damit sie sich nicht zu viel einbilde! — Und solcher Brauch soll nicht vereinzelt gewiesen sein, ganz abgesehen davon, dass es immer für eine Gnade galt, dem Herrn zu gefallen! Derartige Gewohnheiten gehen aber schließlich in Fleisch und Blut über, und so lebt denn auch heute noch auf Moskaus Straßen eine Prostitution, die man sicher entschuldigen muss, wenn man überhaupt ein Recht hätte, hier zu urteilen. Arme, vergewaltigte Menschenkinder sind das, die nur leben wollen und wissen, dass dem, der um sein Leben kämpft, vieles erlaubt ist! Man braucht bloß die meist unschuldigen, kindlichen Gesichter anzusehen! Und wenn man sich in Gespräche einlässt, wobei man kein zynisches Wort riskiert wie bei uns, so bekommt man Aussprüche, wie folgenden, zu hören: ,,Ich lebe wie ein kleines Kätzchen. Ich bin froh, wenn ich abends einen Winkel zum Schlafen habe!“

Jedenfalls ist diese Erscheinung — und wir wissen nicht, ob wir sie, die Unschuld im Laster, als eine beklagenswerte bezeichnen sollen: es liegt viel Zukunftshoffnung in ihr — der Leibeigenschaft zuzuschreiben. Dabei würde aber wohl die Prostitution in Russland keinen so überaus großen Umfang angenommen haben, würde ein alleinstehendes, halbwüchsiges Mädchen — die allermeisten Prostituierten sind Waisenkinder, die acht bis zehnjährig vom Lande in die Stadt zur Lehre abgegeben, dort irgendwie mit zwölf bis vierzehn Jahren verführt wurden — nicht so bald auf den Gedanken kommen, sich zu verkaufen, wenn nicht dem einfachen russischen Volke die geschlechtliche Demut tief im Blute läge. Die Vorstellung davon, dass der Arme sich keine Geschlechtsehre gestatten darf, dass solche vielmehr nur einen Luxus der Reichen bedeutet. Und ganz augenscheinlich würden auch wiederum die minderjährigen Prostituierten in Russland gar keinen Erwerb finden, wenn nicht die Abkömmlinge der Seelenbesitzer sich durch Generationen hindurch an einen so zügellosen Geschlechtsgenuss gewöhnt hätten, dass in ihnen gar keine Vorstellung mehr aufzukommen vermag davon, dass sie doch ein gar nicht wieder gut zu machendes Unrecht antun der Prostituierten, die sie missbrauchen: dass sie ihre Seele missgestalten für immer!

Noch niederschlagender aber und noch empörender als der Anblick der scharenweise Moskaus Boulevards überflutenden jugendlichen Prostituierten (von zwölf bis fünfzehn Jahren, vor den Badeanstalten trifft man solche von acht bis zehn Jahren) wirkt der Anblick jener unsäglich elenden Frauenspersonen, die man in der Gegend der Moskauer Nachtasyle, vor allem auf dem „Menschenmarkt“, den ganzen Tag über beobachten kann. Wer aber da überhaupt Augen hat, zu sehen, der sieht, dass diese unseligen Geschöpfe nicht schuldig sind an ihrem Los, diese noch so jungen Mädchen und Frauen, die da halb nackt, mit zerzausten Haaren, wie besinnungslos umherschwanken, hier gestoßen, dort geschlagen, hier heulend in der Gosse hockend, dort mit namenlosem Jammer im Blick an einer Mauer gelehnt vor sich hinstarrend. In den meist regelmäßigen ehrlichen Zügen der aufgedunsenen, vielfach zerschlagenen Gesichter dieser Unglücklichen kann man deutlich lesen, dass sie von ihren Müttern nicht geboren wurden zu solchem Lose, dass sie wohl alle unter normalen Verhältnissen brave Hausfrauen und treffliche Mütter ihrer Kinder geworden wären. Sie waren nur zu schwach — eine ganz kleine, ererbte Minderwertigkeit genügt da, bei dem ganz Armen — um den Kampf mit der Not aufzunehmen und mit der Gewalt, die auf die Ungeschützten überall lauert auf der weiten russischen Erde. (Überall da, wo der Mensch seine niedrigen, sinnlichen Triebe nicht im Zaume zu halten gelernt hat, da ist auch der Schwache das selbstverständliche Beutetier viehischer Appetite!) Natürlich sind an solchem Seelen-Massenselbstmord, wie man ihn in Russlands Städten ständig vor Augen hat, — und darum erfordert es auch eine so furchtbare moralische Anstrengung, in Russland zu leben, — auch die immer noch entsetzlichen sozialen Verhältnisse dort schuld, und die Hilflosigkeit ihnen gegenüber auf Seiten einer Gesellschaft, die jahrhundertelang in Vormundschaft gehalten war, und die nun der Volksnot entgegentritt mit den kleinlichen Mitteln einer oft kritiklosen und fast immer peinlich bureaukratischen Wohltätigkeit oder mit den Gedankengeschenken utopistischer Doktrinen! Wir haben dabei aber auch in der augenblicklichen russischen Volksnot ganz unzweideutig immer noch die Folgen jener systematischen Entwöhnung des arbeitenden Volkes von selbständigem Wirtschaften vor uns, die das eigentliche Wesen der Leibeigenschaft ausmachte. Die Eltern und Ureltern aller dieser hilflos verkommenen Alkoholiker, die heute als sozial Unheilbare vor den Türen der Nachtasyle herumtaumeln, sie alle hat man mit Gewalt entwöhnt, für sich selber zu sorgen, indem man ihnen einfach alles das, was sie selber erarbeiteten, mit Gewalt wegnahm, und ihnen willkürlich bemessene, zu der geleisteten Arbeit in gar keinem Verhältnis stehende und meist nicht einmal zur Befriedigung der nacktesten Notdurft ausreichende Lebensmittel zuerteilte. Die Eltern und Vorfahren aller dieser Unseligen, die heute im Halbdusel die zahllosen Kronsbranntweinbuden in Russlands Städten und Dörfern belagern vom frühen Morgen an bis in die Nacht hinein, sie alle hat man um jedes Vertrauen zu sich selber gebracht, um jeden Begriff ihrer persönlichen Würde betrogen dadurch, dass man sie unter Todesdrohungen zwang, unbeherrschte Launen ihrer Seelenbesitzer zu befriedigen! — Wir könnten hier Dinge erzählen, die das Blut in den Adern stocken lassen. Es sind Fälle beglaubigt, dass widerspenstige Leibeigene bei zwanzig Gad Frost draußen auf dem Hofe nackt ausgezogen und mit Wasser übergossen wurden, so dass sie augenblicklich zu Eisklumpen erstarrten! Jener Leibeigene, der in ein Bärenfell eingenäht, sich bekreuzigte, als der bei seinem Seelenbesitzer zur Jagd weilende Kaiser Nikolai I. auf ihn anlegte, ist eigentlich noch eine harmlose Erscheinung!

Des Menschen Seele ist aber nun einmal ein weiches, jedem Eindrucke nachgebendes Material. Nur darum sind wir ja zum Guten fähig, zum Mitleid mit des Nächsten Not — aber darum hinterlassen auch alle Vergewaltigungen Spuren in unserer Seele, und darum können auch Menschen so missgeformt werden vom Menschen, dass sie niemals mehr, solange sie am Lichte sind, zum Bewusstsein ihrer eigenen Seele gelangen, die dann irgendwo abseits für sich ihr Leben führt und leise singt ihr ewiges Lied, wenn der Mensch sich weinend im Kote windet! Und die an sich bei aller Schmiegsamkeit unendlich widerstandsfähige russische Volksseele ist missgeformt worden durch die unausdenkbaren Gräuel der jahrhundertelang währenden Leibeigenschaft. Alle jene entsetzlichen Scharen sozialer Leichen — ich sah einst, als vor der Krönung des jetzigen Zaren die Moskauer Nachtasyle geräumt werden mussten, einen polizeilich eskortierten Haufen von einigen Tausenden derartiger Menschenruinen, dass die Scham darüber heute noch lebt in meiner Seele — sie alle sind nachträgliche furchtbare Anklagen gegen die Leibeigenschaft!

Die Seelenbesitzer, die Herren der Leibeigenschaft, haben dies prachtvolle Volk zwar nicht völlig missgestalten können zu fügsamen Werkzeugen ihrer Seelenblindheit, sie haben aber jene einseitig duldenden Tugenden großgezogen im russischen Volke, und sein Selbstbewusstsein in einer Weise gebrochen, und es dem Begriff der persönlichen Würde in einem Masse entfremdet, dass heute noch tausende und abertausende einfache russische Menschen — wenn sie nur ein ganz klein wenig stolperten auf dem steilen Pfade des täglichen Broterwerbs — in rettungslosem Alkoholismus und unausdenkbarem Jammer zugrunde gehen müssen, sie, die ein frohes, tätiges, nützliches Dasein hätten führen können und der einfache Russe braucht ja zu seinem Glücke bloß Nüchternheit, (betrunken ist er immer todunglücklich) ein Stückchen Brot und einen Sonnenstrahl!

Soweit sei hier nur andeutend hingewiesen auf die unermessliche, wohl weit in die Jahrhunderte hinein nachwirkende Schuld der Leibeigenschaft, die das russische Volk so furchtbar schwächte in seiner Widerstandskraft gegen die Versuchungen der Sinne dadurch, dass es unter Todesdrohungen zu hündischem Gehorsam gezwungen, alles Selbstbewusstsein verlieren musste.

Freilich ist auch für den Seelenbesitzer selber die anderthalb Jahrhunderte währende Leibeigenschaftsperiode nicht ohne schädigende Folgen geblieben. Niemand maßt sich ja persönliche Gewalt an über seinesgleichen, ohne auf die Dauer Schaden zu nehmen an der eigenen Seele. Die seelische Schädigung aber, die der Seelenbesitzer im Laufe von Generationen erlitt, ist heute noch außerordentlich deutlich bemerkbar innerhalb des fortschrittlichen Russlands (von dem aristokratischen Russland gar nicht zu reden, das spielt aber kulturell eigentlich keine Rolle mehr). Und das versteht sich eigentlich ganz von selber. Zunächst muss ja ein Mensch, dem unumschränkte Gewalt gegeben ward über seinesgleichen, mit Naturnotwendigkeit einen falschen Begriff erhalten von der eigenen Person. Denn selbstverständlich werden ihm die, denen er Böses tun kann, oder die Vorteil von ihm erwarten, auf jede Weise schmeicheln. Er aber wird ihrer Schmeichelei gegenüber schließlich die Kritik einbüßen, weil er ja tatsächlich unverstellte Dankbarkeit dort wahrnimmt, wo er nur einmal keinen Gebrauch machte von seiner Macht, Wehrlosen unrecht zu tun.

So musste der Seelenbesitzer, auch wenn er sich nicht den leisesten Zwang auferlegte, wenn er nur nicht ohne Lust und ohne Zweck brutal war, sich selber für einen Ausbund von Großmut halten. Er musste sich aber auch vorkommen wie ein Muster an Geist. Denn keine seiner Entscheidungen ward ja anders, denn als höchste Weisheit hingenommen, und da er verfügen konnte über das Schicksal von Hunderten, oft von Tausenden seiner Mitmenschen, musste er leicht zu der Überzeugung gelangen, er sei auch imstande, zu wissen, was ihnen frommt. Da es ferner in der Macht des Seelenbesitzers lag, seine Sklaven erzittern oder jubeln zu machen, und da er zudem über ihr Geschick entschied, ohne sie selber zu fragen und ohne jemals zu erfahren, wie viel Unheil er anrichtete, und welche Torheiten er beging, so musste der Seelenbesitzer ganz von selber dazu kommen, sich die Fähigkeit zuzutrauen, in den Seelen der Menschen zu lesen. Seine Selbstkritik musste aber bei alledem schon dadurch, und dadurch vor allem für immer Schaden erleiden, dass er sich selbstverständlich seinen Hörigen gegenüber überlegen vorkam, ohne tatsächlich andere Vorzüge vor ihnen zu besitzen als die der Geburt. Damit aber ward der Seelenbesitzer vor unüberwindliche Hindernisse gestellt gegenüber der Erkenntnis von der seelischen Gleichheit aller Menschen — und die ist und bleibt das einzige Fundament einer normalen menschlichen Selbstkritik!

Darin beruht denn auch die freilich unbewusste Rache der Hörigen an ihrem Herrn, der ihnen die freie Verfügung genommen hatte über ihren Körper und ihrer Hände Werk, dass sie ihm auf die Dauer die freie Verfügung nahmen über seinen Geist und über seine Seele: er hielt sie körperlich in Knechtschaft, sie ihn geistig. Hier liegt ein sittlicher Ausgleich: niemand kann Sklavenbesitzer sein, ohne geistige Einbuße zu erleiden, ohne sich beschränkt stellen zu müssen und es auf die Dauer auch zu werden. Daran ist gar nicht zu zweifeln. Alle diese Herrenmenschen aus der Leibeigenschaft, wie sie uns zum Beispiel Tolstoi in seinen Meisterromanen vorführt, und deren eiserne Energie und bedeutende praktische Veranlagung er selber ganz offensichtlich bewundert, sie alle erscheinen dem nicht aus Pietät befangenen Blicke des Nicht-Abkömmlings von ganzen Generationen von Sklavenhaltern nur wie seltsam unheimliche, kaum noch Mitleid erregende Menschen-Maschinen, wie Automaten, die ihre, ihnen durch Vererbung aufgezwungene, menschlich unwürdige Rolle spielen müssen, ohne jemals des ungeheuren Selbstbetruges inne zu werden, in dem befangen sie sich und anderen das Schauspiel geistiger Freiheit und Selbstverfügung vorspielen!

Die Erziehung, welche die russische Volksseele erfuhr in den Herren der Leibeigenschaftsperiode, musste hinführen zu einem kritiklos hingenommenen Überlegenheitsgefühl, das nach keinem zureichenden Grunde mehr sucht, ferner zu der Neigung, die Gedanken, die man selber denkt, schon deshalb für wahr zu halten, weil man sie eben denkt, und endlich zu der naiven Anschauung, man sei nicht bloß imstande, in den Seelen der Mitmenschen zu lesen, man wisse auch durchaus, was allen Menschen frommt!

Von allen diesen Neigungen finden wir immer noch deutliche Spuren sowohl im persönlichen Auftreten des aufgeklärten Russen, wie in der russischen Publizistik und der russischen Wissenschaft. Denn mehr wie in jedem anderen Lande geht in Russland die Aufklärung von den besitzenden Kreisen aus, also meist von den Nachkommen von Seelenbesitzern.

Es wäre dabei aber auch wirklich erstaunlich und unbegreiflich, wenn das Selbstbewusstsein eines Abkömmlings von ganzen Geschlechtern von Seelenbesitzern sich völlig frei hielte von kritikloser Überspannung. Wir finden die denn auch selbst bei den erleuchtetsten Geistern in Russland, sofern sie altadeliger Wiege entstammen. Man vergegenwärtige sich nur Tolstois maßlose Wut über alle, die es wagen, anders zu denken als er!

Wir begreifen übrigens auch in diesem Zusammenhange, warum das bewusste, das freiheitliche Russland sich immer noch nicht zum wahren Begriff der menschlichen Freiheit aufzuschwingen vermag!

Alle heutigen Russen sind ja so oder so Abkömmlinge von Sklaven oder von Sklavenhaltern, Ersteren ward List und Schicksalsglaube angezüchtet, letzteren Hochmut und rücksichtslose Launenhaftigkeit! Freiheit unter Menschen kann aber nur darin bestehen, dass ein jeder einverstanden zu sein vermag mit dem, was er tun muss, dass er selber mitbestimmte den Zwang über die eigene Person, der ihm im Interesse aller Mitbürger geboten erscheint.

Hinweisen möchte ich schließlich noch darauf, dass auch bei den Herren der Leibeigenschaftsperiode die allen Russen wohl angeborene ästhetische Anlage noch eine ganz besondere Ausbildung und Kräftigung erfahren musste. Wo ja immer der Seelenbesitzer in die Zusammenhänge des Menschendaseins und des Weltenalls hineindachte, war er gezwungen, in weitem Masse von der Tatsächlichkeit des Lebens abzusehen, um nicht schon gleich beim ersten Schritte auf höchst unangenehme Dinge zu stoßen. Der denkende Seelenbesitzer musste sich in allen seinen außerpersönlichen Gedanken in einer Sphäre der Abstraktion, des gleichsam nur im Skelett dem Geiste vorschwebenden Lebens bewegen, um nur ja nicht auf die Erkenntnis der Unmoral seiner eigenen Lebensführung gebracht zu werden (gegen die er zudem schwer überwindliche Widerstände erlebte, vor allem wohl in Pietätsempfindungen). In diesem, demnach ganz natürlichen Hinwegsehen über die Tatsachen des Lebens bei allen Gedanken an Menschen und Menschheitsgeschick erlangte der denkende Seelenbesitzer eine solche Virtuosität, dass er imstande blieb, die allerfreiheitlichsten Gedanken rein sachlich zu beurteilen, ja, sozialistischen Ideen eine offensichtliche Sympathie entgegenzubringen, ohne dass das Bewusstsein, selber Sklaven zu halten, ihn irgendwie geniert hätte. Tatsächlich ist denn auch der freiheitliche Gedanke vor allem durch die denkenden Seelenbesitzer nach Russland hineingeflutet.

Eigenartig ist dabei der Zusammenhang, dass der Widerstand, den das Denken des Seelenbesitzers erlebte, sobald es sich um die Kritik seiner wirtschaftlichen Lage handelte, nicht nur hinführte zu jenem abstrakten ästhetischen Behandeln sozialer Fragen, das heute noch im freiheitlichen Russland so vorherrscht. Nicht nur das! Der hier erlebte Denkwiderstand lenkte zudem auch noch den forschenden Blick des Russen am Sozialen vorüber auf jenseits allen gesellschaftlichen Bedingtseins gegründete Menschenbedürfnisse und Menschenbeweggründe, wie sie ihren Urgrund nur haben können im religiösen Erlebnis! Wir sehen das namentlich bei Tolstoi. (Er ist überhaupt als Denker — vor und nach seiner Bekehrung — geradezu typisch für den denkenden Seelenbesitzer.) Wo er kritisiert, wird er — aus instinktivem Nichtsehenwollen der eigenen Lebensführung — so kindlich abstrakt, dass er zum Beispiel als Pädagoge tatsächlich glaubt, eine neue Grundlage der Erziehung und dem Unterricht geben zu können, ohne das Sozial-Wirtschaftliche — dessen Fesseln doch vor allem die Volksschule trägt — überhaupt nur zu berühren. Der Pädagoge Tolstoi schilt für die Missstände der russischen Schule den armen Schulmeister — statt an die Privilegien der eigenen Kaste zu denken, derentwegen das Volk doch wohl hauptsächlich in peinlicher Notdurft und Unbildung verharren muss! Andererseits gab aber auch wiederum dieselbe instinktive Abscheu davor, die eigene soziale Lage zu bedenken, Tolstoi früh schon jenen unerhörten Scharfblick für den religiösen Untergrund der russischen Seele. Augenscheinlich macht ja Ästhetentum (das heißt das Absehen von der Wirklichkeit als solcher und sofern sie auch für andere da ist, oder besser gesagt, die Hinnahme der Dinge lediglich um ihrer Wirkung willen auf Vorstellung und Gefühl), augenscheinlich macht Ästhetentum uns oft erst hellseherisch für die tieferen Zusammenhänge der Wirklichkeit, die sonst wohl überhaupt nicht von uns zu erfahren wären!

Russischer Gutsherr und Bauern

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Russischer Adel

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Russischer Muschik

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Russische Bäuerin

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Moskau - Armenküche

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Moskau - Bettler und Obdachlose wärmen sich am Feuer

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Moskau - Bettler vor der Kirche

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Moskau - Droschkenkutscher

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Moskau - Ein reicher Händler mit seiner Frau

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