Russland und Westeuropa – VI. Die Leibeigenschaft III. Der Hang zu Unehrlichkeiten, kleinen Diebstählen und Unterschlagungen

Aus: Das heutige Russland
Autor: Nötzel, Karl (1870 in Moskau – 1945 in München) Studium der Volkswirtschaft und Chemie. Übersetzer, Schriftsteller, Slawist und Philosoph, Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Tolstoi, Schriftsteller, Künstler, Dichter, Sozialprophet, Volksleiden, soziale Leiden, Ungerechtigkeit, Not, Leibeigenschaft, Prostitution, Alkoholismus,
Überhaupt liegt es mir durchaus fern, in Abrede zu stellen, dass die Leibeigenschaft, auch ganz abgesehen von aller unausdenkbaren, von dem Eingeweihten niemals mehr zu vergessenden Verschwendung, die sie trieb mit Menschenglück, Menschenleben und Menschenanlagen, auch unmittelbar einen sehr verderblichen Einfluss ausgeübt hat auf den russischen Volkscharakter (ich betone das ausdrücklich: Anhänger der Leibeigenschaft, und sie sind noch nicht ausgestorben in Russland, könnten mich sonst für einen Gesinnungsgenossen halten, der in der Leibeigenschaft ein von Gott gesandtes Mittel zur Veredlung der russischen Volksseele preist) . Es bleibt aber ein Wahn, dass Unglück den Menschen besser macht, höchstens vermag es einen guten Menschen nicht schlechter zu machen. Das ist schon sehr viel! Und das ist auch, alles in allem genommen, der Fall gewesen beim russischen Bauern in den furchtbaren Zeiten der Leibeigenschaft. Aber auch er hat natürlich moralisch gelitten und wird lange Zeit brauchen, um sich völlig zu erholen.

Da ist zunächst die immer wieder peinlich überraschende Unehrlichkeit im russischen Volke, jener Hang zu kleinen Diebstählen und Unterschlagungen, der besonders den frisch eingewanderten Westeuropäer oft so schmerzlich berührt (weil er den, den er da als Dieb ertappt, meist schon liebgewonnen hatte — und nun in seiner europäischen Pedanterie einen „Unwürdigen“ verwöhnt zu haben glaubt, was freilich ein großer Irrtum ist) . Dass hier die Leibeigenschaft in hohem Grade die Schuld trägt, steht für mich wenigstens außer allem Zweifel: einmal ward der Leibeigene meist aus drückendster Not zum Diebstahl veranlasst — (Tolstoi, der ganz offenbar seine Erfahrungen an seinen Leibeigenen gemacht hatte, berichtet, um nur ein ganz kleines Beispiel anzuführen, dass oft eine ganze Leibeigenenfamilie nur ein einziges warmes Kleidungsstück besaß, und man denke dabei an die sieben Monate Frost in Russland!) Solchen Diebstahl verzeiht sich der Russe nun immer und tut recht daran. Denn der Herrgott hat ihn nicht geschaffen zum Verhungern und Erfrieren! Hinzu kommt die im russischen Volke tatsächlich lebendige altchristliche Anschauung, dass, wer zwei Röcke hat, einen davon dem geben soll, der keinen besitzt. Das befolgt der einfache Russe meist wörtlich, und ist daher auch seinerseits gegebenen Falles durchaus geneigt, den zweiten Rock des Nächsten für sich zu beanspruchen als etwas, was ihm zukommt, ohne dass er darum zu fragen braucht! Dass überhaupt hinter sehr vielen Diebstählen in Russland ein tief eingewurzelter kommunistischer Hang steht, scheint mir zweifellos. Wie oft ward mir, wenn ich einen kleinen Diebstahl rügte, staunend geantwortet: „Es ist ja soviel davon da!“ (Und darauf ist eigentlich auch gar nichts zu entgegnen. Denn die Güter dieser Welt sind doch zweifellos dazu geschaffen, verwendet zu werden, um die Notdurft zu stillen, nicht aber dazu, aufgespeichert zu werden, um dem, der ihrer bedarf, einen möglichst hohen Preis zu entlocken!) Außerdem konnte aber auch der russische Bauer, gerade wenn er sich seine geistige Unabhängigkeit wahrte in aller Knechtschaft, überhaupt zu keinem richtigen Begriff von persönlichem Eigentum erzogen werden. Musste er es doch hundertfünfzig Jahre lang erleben, dass das, was er erarbeitet hatte im Schweiße seines Angesichts, und das er so nötig hatte, um elementarste Notdurft zu befriedigen, dass das einfach sein Seelenbesitzer sich aneignete — um es zu verschwelgen und zu verprassen! Die Erziehung zum Eigentumsbegriff hat wohl überhaupt durch Generationen hindurch währende wirtschaftliche Selbständigkeit zur Voraussetzung, und wird naturgemäß da am nachhaltigsten sein, wo der hauptsächlichste Besitz durch persönliche Arbeit erworben wurde, und er dabei ein beschränkter ist: nur da erlebt das Volk, dass jedes Besitztum von Hause aus nur dazu da ist, damit der Besitzende sich zu erhalten vermag in voller Leistungsfähigkeit! So finden wir denn auch die höchste Ehrlichkeit in Ländern mit alteingesessenem, freien Bauerntum — und wir haben bereits Hoffnung auf ein solches in Russland!

Auf eine gewisse List und Verschlagenheit, die dem dienenden Russen eignet, sei hier nur im Vorübergehen aufmerksam gemacht. Auch das geht natürlich auf die Leibeigenschaft zurück: was blieb denn dem rechtlosen Hörigen anders als List? Und auch jener offensichtliche Leichtsinn des einfachen Russen, seine an sich glückliche, aber leider meist zum Unglück führende Sorglosigkeit in Hinsicht auf die Bedürfnisse dieser Welt hat wohl auch ihren Ursprung in den finsteren Zeiten der Leibeigenschaft, sie ist wohl entstanden damals, als der Hörige sich jeden Augenblick seines Lebens den überhaupt nicht vorauszusehenden Launen seines Seelenbesitzers wehrlos ausgesetzt sah. Da konnte keinerlei Vorsicht, keinerlei Nachdenken, keinerlei Selbstbeherrschung etwas nützen, und nur ein sorgloser Sinn, ein Nichtdenkenwollen an den morgigen Tag bewahrte vor Verzweiflung.

Das will man heute aus vielen Gründen nicht wahr haben. Auch als ich bereits längere Zeit in Russland lebte, habe ich mich dagegen gesträubt, gewisse Eigenheiten des russischen Volkes aus der Leibeigenschaft heraus zu erklären. Es schien mir das wie ein Unrecht an diesem Volke, das mir vom ersten Augenblicke meines Verweilens in Russland so liebenswert erschien, dass mir Russland als die eigentliche Heimat des Menschenherzens vorkam.

Ich konnte aber schließlich doch nicht umhin, anzuerkennen, dass die Leibeigenschaft über viele Widersprüche im russischen Volkscharakter aufzuklären vermag, und dass es durch ihre Berücksichtigung möglich wird, die treffliche Grundanlage im Russen aufrechtzuerhalten trotz seiner augenfälligen Fehler. Vergegenwärtigen wir uns: der Sklave muss erraten, muss lügen, muss schmeicheln — und das wird leicht zur Gewohnheit, weil es fast immer Vorteil, bisweilen Rettung, und meist eine gewisse innere Befriedigung gewährt. Der Sklave muss leichtsinnig sein, weil seine Lage unerträglich ist, und sein Vorausbedenken doch nichts nützt! Der Sklave, dessen Schicksal von der Laune seines Herrn abhängt — und die Laune ist auch heute noch allmählich in Russland — muss den Zufall über die eigene Tüchtigkeit stellen, und das ist dann schwer sich wieder abzugewöhnen (zumal das moderne Leben mit seinem provozierenden Luxus auf seilen ganz offenbarer Nichtstuer diese Neigung täglich bestärken muss, und das nicht bloß im russischen Bauern). Der Sklave muss sich daran gewöhnen, sein eigenes Geschick zu vergessen, um es überhaupt ertragen zu können. Daher jene Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit und jener Leichtsinn des arbeitenden Russen, über den ausländische Meister, Techniker und Ingenieure so klagen, und denen selbst ein Tolstoi insofern recht gibt, als er — in „Anna Karenina“ — spricht von der Neigung des russischen Arbeiters, „möglichst bequem zu arbeiten, sorglos sich selber zu vergessen und über nichts nachzudenken“.

Bauernhaus in Kieff (Süd Ukraine)

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Bauernhäuser in Lowicz 2 (Polen)

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Bauernhäuser in Urzedow (Polen)

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Im Innern einer Bauernwohnung

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Heuernte in Volhynia

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