Russland und Westeuropa – VI. Die Leibeigenschaft II. Die Sittlichkeit

Aus: Das heutige Russland
Autor: Nötzel, Karl (1870 in Moskau – 1945 in München) Studium der Volkswirtschaft und Chemie. Übersetzer, Schriftsteller, Slawist und Philosoph, Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Tolstoi, Schriftsteller, Künstler, Dichter, Sozialprophet, Volksleiden, soziale Leiden, Ungerechtigkeit, Not, Leibeigenschaft, Sittlichkeit
Dabei muss der tief religiöse Sinn dieses hochbegnadeten Volkes durch die fünf Generationen hindurch währende Gewohnheit an ein Leben, das jeder äußeren Sicherheit und jeglicher menschlichen Würde entbehrte, eine zwar fast übermenschliche Prüfung, aber auch eine gar nicht abzuschätzende Kräftigung und Vertiefung erfahren haben! Freilich ward so der Schwerpunkt des russischen Sich-Auslebens in die Verwirklichung der einfachen christlichen Tugenden verlegt. Und es eignet wohl aus dieser Zeit her dem einfachen Russen jenes geradezu instinktive Sichselber-Gleichachten jedem Menschen, auch dem Ärmsten der Armen, wovon zahllose Beispiele im russischen Alltagsleben uns immer wieder mit ergriffenem Staunen erfüllen, und was wir nicht anders, denn als rein christlich bezeichnen können. (Zum Beispiel der würdige Kaufmann in langem Barte und bis über die Knie reichendem Tuchrocke reicht seine Zigarette einem unaussprechlich verwahrlosten Bettler, lässt ihn einige Züge tun, nimmt die Zigarette wieder in Empfang, steckt sie in seinen Mund und geht weiter, als ob nichts geschehen wäre. — Der Augenzeuge einer Hinrichtung berichtet: Da an dem Galgen etwas nicht ganz in Ordnung ist — es fehlt die Seife zum Einschmieren des Stranges — und so eine kleine Verzögerung eintritt, setzt sich der Henker zu dem Verurteilten auf den unter dem Galgen stehenden Schemel, gibt ihm eine Zigarette und unterhält sich aufs unbefangenste mit ihm, bis das Zeichen zur Exekution gegeben wird. Nunmehr waltet der Henker seines Amtes, legt dem Verurteilten den Strick um den Hals und führt seinen Tod herbei, indem er denselben Schemel unter ihm wegzieht, auf dem er eben noch mit ihm zusammen saß.)

Dadurch aber, dass sie passiver Art sind, diese Tugenden des russischen Volkes, ist ihnen durchaus nicht die seelenheilende Wirkung genommen, die jeder Tugend eignet, und die wohl darin beruht, dass Tugendübung im Menschen die Selbstachtung erhält. Das vermag die Tugend aber wohl nur darum, weil sie eine tatsächliche Leistung darstellt: die Überwindung des instinktiven, des sinnlichen Ichs zur Voraussetzung hat. Und diese Überwindung muss in der Tugend des Leibeigenen eine sehr schwerwiegende sein. Man stelle sich doch nur einmal die Willkür des durch das ständige Vorbild des despotischen Regimentes zu schrankenloser Gewissenlosigkeit geradezu erzogenen russischen Seelenbesitzers vor! Und doch hat sich ganz zweifellos das einfache russische Volk die Achtung vor sich selber erhalten; wir sehen es ja seelisch ungeschwächt aus allen diesen furchtbaren Prüfungen hervorgehen und mit ungebrochener Kraft zur Nächstenliebe. Wenn somit überhaupt ein Volk in Europa den Beweis erbracht hat von einer schier unbesiegbaren sittlichen Kraft, so ist es eben das russische Volk gewesen. Das heißt nicht etwa, dass es sittlich höher steht als andere Völker, seine Sittlichkeit ist nur erprobter dadurch, dass sie sich jahrhundertelang dem Tode gegenüber behauptete.

Nun bedeutet aber jedes sittliche Tun, ob es sich handelnd oder leidend äußert, zugleich immer auch seinem innersten Wesen nach ein Unabhängigsein der Seele, ein Über-dem-Schicksal-stehen. Man hätte schon daraus folgern müssen, dass auch der leibeigene Russe sich eine gewisse geistige Unabhängigkeit bewahrt haben müsse. Leider hat man sich diese Frage kaum jemals vorgelegt, (Und das hängt wohl mit jener so bedauerlichen Lücke innerhalb unserer sozialen Erkenntnis zusammen, die dadurch entstand, dass von jeher den Sklavenbesitzer eine für ihn wohl notwendige Befangenheit im Klassengeiste nicht dazu kommen ließ, sich nach dem Seelenzustande seiner Sklaven zu fragen; die selber aber waren wohl nicht imstande, sich auszusprechen über ihr Erlebnis, sie hätten auch kein williges Ohr gefunden, oder, wenn sie sich auszudrücken vermochten — wie Epiktet — so standen sie eben bereits jenseits ihres Sklaventums.) Diese Frage aber, die Frage nach dem Geistesleben der Leibeigenen, wenigstens nachträglich als eine zu erhebende geahnt zu haben, blieb Tolstoi vorbehalten und beweist vielleicht mehr wie alles andere seine überragende Genialität. Tolstoi zeigt uns — und das zu einer Zeit, wo er noch gar nicht daran dachte, seine Leibeigenen freizulassen — in den überlegenen Kritiken, die er in seinen Dichtungen seine Leibeigenen üben lässt an dem Verhalten ihrer Seelenbesitzer (wir finden das vor allem in dem als menschliches Dokument wohl unschätzbarsten aller Tolstoischen Werke: „Dem Morgen eines Gutsbesitzers“), dass der russische Leibeigene, wenn er sich nur selber treu blieb (das heißt wenn er nicht in Trunksucht verfiel, was ihm niemand übelnehmen darf), völlig unbestechlich urteilte nach dem Maßstabe der christlichen Sittlichkeit und der gesunden Vernunft, und er sich hierbei auch gar nicht dreinreden ließ von anderen. Diese geistige Unabhängigkeit des Leibeigenen blieb unbemerkt — weil sie ungefragt die Aussprache vermied, was (wenn es auch wohl vor allem aus Klugheit geschah) doch ganz im allgemeinen ein Zeichen wahrhaft geistiger Überlegenheit darstellt: denn die verzichtet auf Beifall und Anerkennung. Und ganz augenscheinlich stehen wir auch heute noch beim einfachen russischen Volke vor einer gewissen wohl geringerer Interessiertheit entspringenden Überlegenheit. Wer wie zum Beispiel ich, jahrzehntelang mit einfachen russischen Leuten zu tun hatte, der wird durch jenen Hinweis Tolstois auf die geistige Unabhängigkeit der Leibeigenen nachträglich mancherlei verstanden haben von dem, was ihm bisher rätselhaft erschien: so bei aller äußerlichen — und uns Westeuropäern übertrieben anmutenden — Unterwürfigkeit des ganz einfachen Russen seine bisweilen blitzartig aufleuchtenden spöttischen Blicke. Und dann, so oft ich auch einen von den ganz einfachen Russen, mochte er auch die bescheidenste Tätigkeit ausüben, in irgendeiner Sache um seine Meinung frug, so musste ich jedesmal staunen über sein unerschütterliches, durch keinerlei sonst willig anerkannte Autorität seines Dienstherrn zu beeinflussendes und meist tatsächlich unanfechtbares Urteil — und das sowohl in Dingen des Gewissens, wie in Dingen des einfachen gesunden Menschenverstandes.

Man kann vielleicht zusammenfassend behaupten, dass der sittliche Selbsterhaltungstrieb so mächtig lebte im russischen Volke, dass es ungebrochen an Geist und Seele aus der Leibeigenschaft hervorging, und dabei einzig und allein der Schwerpunkt der russischen Sittlichkeit auf mehr leidende Tugenden verschoben ward, wozu übrigens schon von Hause aus der Hang vorhanden gewesen zu sein scheint im Russen, und wodurch jene passive Widerstandskraft zur Ausprägung gelangte in ihm, gegenüber allen möglichen Beeinflussungsversuchen, die heute noch von rechts und links ohne Unterlass herumreißen am russischen Bauern.

Ein offensichtlicher Mangel im Urteile des einfachen Russen scheint mir freilich auch auf die Leibeigenschaft zurückzugehen: jene bereits erwähnte, seltsame Sorglosigkeit hinsichtlich der Folgen seiner sittlich gebilligten, aus selbstlosen Motiven hervorgegangenen Taten. Was blieb dem Leibeigenen anders übrig? Wohl konnte er persönlich erlittenes Unrecht verzeihen, wohl vermochte er Leid und Not in heldenhafter Geduld zu ertragen und sich, was die eigene Person anbetrifft, auch die letzten Opfer aufzuerlegen für die Seinen — er konnte aber nicht seine halberwachsenen Töchter davor schützen, dass sie sein Seelenbesitzer zu Dirnen machte, noch konnte er seine halberwachsenen Söhne davor bewahren, dass sie dem Vaterhause entrissen, in irgendeiner Lehre zu Krüppeln geschlagen, oder dass sie gleichalterigen Herrensöhnchen als persönliche Diener zuerteilt, von diesen verdorben und brutalisiert wurden. Dem Hörigen blieb für seine Person nichts übrig, als sich selber so weit zu überwinden, als das möglich ist. Alles andere stand in Gottes Hand. Durch solche, jahrhundertelang währende Gewöhnung des Russen an die Machtlosigkeit des selbstlosen Willens fast allem anderen außer der eigenen Person gegenüber, ist wohl auch jenes seltsame, teils ästhetisch, teils fatalistisch anmutende Moment in die russische Sittlichkeit gelangt, auf das wir bereits mehrmals hingewiesen haben: der Russe ist durchaus geneigt, anzunehmen, dass Sittlichkeit eine Sache ist, die ausschließlich für den Menschen da ist, der den Willen zu ihr erlebt. (Als innere Schönheit oder als absolutes, nach den Zusammenhängen dieser Welt überhaupt gar nicht mehr fragendes Gottesgebot? Wer weiß das?) Das Moment der Verantwortung für andere, das in unserer westeuropäischen Auffassung ein Wesentliches im sittlichen Erlebnis ausmacht, kommt für den Russen nur so nebenbei in Betracht, nur insofern sein unmittelbares Gefühl gerade erregt wird. Natürlich liegt hier die sehr große Gefahr nahe, dass das sittliche Erlebnis die Neigung beibehält, in eine Sache für die eigene Person auszuarten, in fruchtlose Askese oder kaum minder fruchtlosen Ästhetismus. Und das sehen wir ja bereits im modernen Russland auf Schritt und Tritt: die gute, das heißt die selbstlose Absicht wird hier derartig ausschließlich bewertet in jedem Tun, dass sie endlich allen Inhalt verliert und sich verflüchtet zum bloßen Schwur auf ein Parteidogma, der dann dem so „Erprobten“ erlaubt, all sein unüberwundenes Allzumenschliches auszulassen an seinem ,,nicht überzeugten“ Mitmenschen. Es liegt überhaupt die Gefahr nahe für den sittlich Strebenden in Russland, dass er unbewusst seine Tätigkeit mehr richtet auf Befriedigung seelischer Bedürfnisse, als auf Beseitigung tatsächlicher Übelstände. Den Höhepunkt dieser Gefahr stellt Tolstoi dar. Seine Hauptlehre (dass man nicht Widerstand leisten solle gegenüber jeglicher Gewalt) entstammt zweifellos der Anschauungsweise des Leibeigenen. Es war dies überhaupt die dem Leibeigenen einzig mögliche Sittlichkeit. Tolstoi übernimmt sie aus Ehrfurcht vor dem russischen Bauern, in dem er sein menschliches Vorbild erblickt, weil er sich an ihm zumeist versündigt zu haben bewusst ist. Damit aber, mit dieser Lehre vom Nichtwiderstandleisten gegen das Übel, wälzt Tolstoi die Verantwortung für andere von sich, auch da, wo er sie noch sehr wohl zu tragen vermag. Denn Tolstoi ist nicht Leibeigener gewesen, und wir, denen er solche Weisheit predigt, sind das heute auch nicht!

Dass aber überhaupt ein starker ästhetischer Einschlag in der russischen Sittlichkeit enthalten ist, scheint mir schon daraus hervorzugehen, dass dem Russen da, wo er sich mit sich selber in Einklang fühlt, vor allem da, wo er die eigene Tat bewundert, die Neigung eignet, überhaupt nicht zu bemerken, ob und wie Außenstehende, völlig Unbeteiligte, hier betroffen werden. Die sieht er gar nicht, und wenn er sie sähe, würde er sie übersehen. So ist es zum Beispiel dem „idealistischen Studenten“ durchaus erlaubt, wenn er durch Universitätsstreik seiner Empörung über die russische Regierung Ausdruck verleihen will, alle anderen Studenten aufs brutalste am Hören der Vorlesungen zu verhindern! (Hierbei werden denn auch bisweilen durchaus liberale Professoren nicht bloß beschimpft, sie sind auch geohrfeigt worden, was aber später als „aus leicht begreiflicher Erregbarkeit geschehen“, willig verziehen wird von der liberalen Gesellschaft und von den Betroffenen selber.) Beim einfachen russischen Volke vermochte ich freilich diesen Ästhetismus im Sittlichen kaum je zu bemerken, um so mehr fiel mir gerade hier der Fatalismus auf im sittlichen Tun. Man teilt zwar ohne weiteres auch das letzte Stück Brot mit dem zufällig angetroffenen Bettler, man gibt ihm auch gelegentlich eine altchristliche Lehre, im allgemeinen aber lässt man einen jeden für sich selber sorgen, und das, nicht aus Gleichgültigkeit, vielmehr aus uralter Erfahrung, dass man im Grunde dem Nächsten doch nicht zu helfen vermag — und diese Erfahrung entstammt sicherlich vor allem der Leibeigenschaft!

Volksleben in Petersburg

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Eine Großrussin

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Russischer Dorfmusikant

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Auf dem Weg zur Hinrichtung

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Personentransport im Winter

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Bauernhochzeit

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