Russland und Westeuropa – VI. Die Leibeigenschaft I.

Aus: Das heutige Russland
Autor: Nötzel, Karl (1870 in Moskau – 1945 in München) Studium der Volkswirtschaft und Chemie. Übersetzer, Schriftsteller, Slawist und Philosoph, Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Tolstoi, Schriftsteller, Künstler, Dichter, Sozialprophet, Volksleiden, soziale Leiden, Ungerechtigkeit, Not, Leibeigenschaft,
Die bisher betrachteten Schicksale des russischen Volkes betrafen es mehr oder minder gleichmäßig in seiner Gesamtheit. Nicht so die Leibeigenschaft. Sie teilte das russische Volk in Herrschende und Geknechtete, in Befehlende und Gehorchende.

Jene seltsame Widerspruchs fülle, die das gesamte geistige Leben in Russland durchzieht, und es unmöglich macht, den russischen Geist irgendwo einheitlich zu fassen, wurzelt meines Erachtens letzten Endes darin, dass eben durch die Leibeigenschaft hundertfünfzig Jahre hindurch das russische Volk geteilt war in Leidende und Genießende, in Entrechtete und in schrankenlose Gewalt Ausübende, dass demnach jede Einwirkung, die das russische Volksganze seit Beginn der Leibeigenschaft traf, stets eine doppelte Gegenwirkung auslösen musste, und beide Gegenwirkungen dann wiederum aufeinander einzuwirken bestimmt waren. So entstand denn jene unenträtselbare Fülle der allerverschiedensten sozialen Gesichter in Russland. Die Leibeigenschaft erklärt es wohl vor allem, dass der Künstler auf Russland hinblickt in restlosem Entzücken, der Kulturforscher in ratloser Enttäuschung, und der Menschenfreund in verzweifelndem Entsetzen! Wohl konnte man die Leibeigenschaft abschaffen, und das geschah auch vor nunmehr fünfzig Jahren, man konnte aber weder dem Abkömmling ganzer Generationen von Seelenbesitzern Ehrfurcht beibringen vor dem Menschen an sich, noch vermochte man es, die Nachkommen ganzer Geschlechter von Hörigen Ehrfurcht zu lehren vor der eigenen Person! Hier liegen vielleicht die tiefsten Wurzeln von Russlands sozialen Übelständen: das freiheitliche Russland kann noch nicht durchdringen bis zur Ehrfurcht vor dem Menschen (man hat dort noch nicht die Menschenquälerei an sich selber überwunden), und es endet immer und überall wieder in peinlichen Umgehungen um den Menschen als solchen: in der Doktrin, derentwegen die tatsächlichen Menschen gequält werden wie vordem — und die Lust daran verlernt sich nicht so leicht, auch vergisst sich nicht so rasch ein anderthalb Jahrhunderte währendes Beispiel! Das einfache, schwer arbeitende russische Volk aber vermag sich noch immer nicht daran zu gewöhnen, dass es heute für sich selber zu sorgen hat, dass es nicht mehr schafft nur in Rücksicht auf einen launischen, unberechenbaren, kleinlich-selbstsüchtigen Herrn, vor dem es sich bloß durch List und Betrug zu schützen vermag.

Das Schicksal, despotisch regiert zu werden, ward durch die Leibeigenschaft gleichsam noch einmal und in unendlicher Vervielfältigung der russischen Volksseele aufgezwungen — und musste hier alle ursprünglichen Einwirkungen des despotischen Regiments noch einmal festigen und immer tiefer Wurzel fassen lassen. Noch einmal, und diesmal durch Geschlechter hindurch, und Tag für Tag, ward ein Teil des russischen Volkes vor die Frage gestellt: ,,Willst du leben, auch wenn dir jede Verfügung über dich selber genommen ist? Willst du leben, auch wenn du außerstande bleibst, deine Söhne vor Misshandlungen, deine Töchter vor Schande, und Söhne, Töchter und Gattin vor Hunger und Not zu schützen?“ Und auch hier wissen wir nicht, wie viel freie Männer den Tod der Knechtschaft vorzogen. Freilich wissen wir, dass mit Ermordung von Gutsbesitzern verbundene Hörigenaufstände niemals völlig aufhörten, solange die Leibeigenschaft bestand in Russland, und dass in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens solche Aufstände einen derartigen Umfang annahmen, dass man wohl schon dadurch zur Aufhebung der Leibeigenschaft gezwungen ward! In der Tat, es gehört die ganze, nicht auszudenkende Güte, Geduld und Dankbarkeit des russischen Bauern dazu, dass er in allem seinem Elend nicht auf den einfachen Gedanken verfiel: da es nun doch einmal für ihn keine Sicherheit im Leben gibt, so wenigstens mit seinem Untergange auch den verhassten Sklavenhalter zu vernichten. Überhaupt bleibt es eines jener großen Rätsel der russischen Volksseele — die wir uns keineswegs anmaßen, lösen zu können, vor denen wir nur in Ehrfurcht verharren — dass überhaupt die Leibeigenschaft anderthalb Jahrhunderte in Russland bestehen konnte: auf den einzelnen Seelenbesitzer kamen ja im Durchschnitt wenigstens ein halbes Hundert Hörige. Polizei und Militär war auf dem flachen Lande so gut wie gar nicht vorhanden. Die Willkür der Seelenbesitzer offenbarte sich aber dabei — in zahllosen offenkundig gewordenen Fällen — als eine über alle Begriffe hemmungslose und von viehischen Instinkten geleitete. (Über die Grausamkeiten, die an Hörigen verübt wurden, ließen sich ganze Bände füllen mit solchen Einzelheiten, dass wir Europäer für immer jeden Hochmut verlieren müssten vor den niedrigst stehenden Kannibalen des schwarzen Erdreichs.) Augenscheinlich hatte aber das russische Volk bereits von den Zeiten des Tartarenjoches her so zu leiden gelernt, und hatte es in seiner Religiosität einen solchen Trost und in seiner natürlichen Güte eine solche Kraft gefunden, in aller Knechtschaft durch liebevolle Teilnahme am Leidensgenossen sich die Achtung vor sich selber zu erhalten, dass es das gar nicht auszudenkende Elend der Leibeigenschaft zu überleben vermochte, ohne Schaden zu nehmen an seiner Seele, ohne seine hohen christlichen Tugenden einzubüßen! Und damit blieb dem russischen Volke die Fähigkeit zu jeder menschlichen Höhe. (Man lasse sich hier nicht irremachen durch gewisse Urteile über das russische Volk, die in Russland heute noch gang und gäbe sind, dabei tatsächlich aus der Leibeigenschaftszeit stammen, und augenscheinlich von Seelenbesitzern zu ihrer Rechtfertigung erfunden wurden, zum Beispiel: „Unser Volk ist nun einmal so. Es verträgt keine Güte!“ So sprechen heute noch alle Menschenquäler in Russland. Sie vergessen dabei aber nur, dass sie dem Volke überhaupt gar keine Gelegenheit geben, seinen Undank zu beweisen. Die Güte, die gelegentlich einmal von dieser Seite dem Volke wird, wird abgelehnt, weil sie nicht mehr verstanden wird als Güte im Angesichte der Fülle von Unrecht, die man von dieser Seite her sonst gewöhnt ist. Bedauerlich, dass die Herde in Russland diese Albernheiten nachschwätzt! Solche Massenverleumdungen sind dabei durchaus nicht neu, und ihr Ursprung längst schon erkannt. Grillparzer lässt seine Jüdin von Toledo zu den Juden verfolgenden Christen also sprechen: ,,Ihr lähmet uns und scheltet, dass wir hinken!“)

Russicher Bauer in Wintertracht

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Russisches Bauernmädchen

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Eine Großrussin

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Russischer Dorfmusikant

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Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

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Brennholztransport auf dem Ladoga-See. Im Hintergrund die Festung Schlüsselburg.

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Drohsky-Fahrer bei der Teepause

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Auf dem Weg zur Hinrichtung

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Personentransport im Winter

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Bauernhochzeit

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