Zehntes Kapitel

O weh! In der Geschichte unserer literarischen und geistigen Bewegung gibt es nichts Traurigeres als das Schicksal des Slawophilentums, und eine langjährige Erfahrung legt den Schluss nahe, dass dieser Lehre auch in Zukunft nur bittere Misserfolge bevorstehen werden.

Keine der Hoffnungen, keiner der Herzenswünsche der Slawophilen hat eine lichte Zukunft vor sich. Die Kirche ist noch immer in der alten Verfassung; die Festigung und Entwicklung ihres inneren Lebens geht, wie bisher, unsicher und langsam vor sich, und es ist unmöglich vorauszusehen, woher eine Wendung zum Besseren kommen soll. Der Stand der slawischen Sache bezeugt klar, dass Russlands geistige Bedeutung sich nicht weiter entwickelt hat. Nach den Heldentaten, würdig eines Hannibal und eines Alexander, können wir plötzlich zu unserer Bestürzung wahrnehmen, dass die Bemühungen der Ausländer und ihr politischer und kultureller Einfluss sich stärker erweisen als jenes Band, das Blut, Glauben und Geschichte gewoben haben, und das Russland mit allen Slawen verbindet. Der Knotenpunkt der ganzen slawischen Frage liegt aber eben in unserer Kultur, und wenn die geistigen und historischen Kräfte unserer russischen Eigenart sich nicht entwickeln wollen, wenn unser religiöses, politisches, geistiges und künstlerisches Leben nicht so wächst, dass es mit der Kulturentwicklung des Westens rivalisieren kann, so müssen wir unausbleiblich für die anderen Slawen in den Hintergrund treten, wie viel Blut wir auch darum vergießen mögen. Was kann unsere Hoffnung in diesem Kampfe sein? Indem wir unsere Glaubensgenossen mit der eigenen Brust schützen wollen, müssen wir die Frage an uns stellen: nimmt nicht etwa in uns und in ihnen der Glaube, in dem der ganze Sinn unserer Sache liegt und ohne den alle Heldentaten fruchtlos sind, immer mehr ab? Dieselbe Frage müssen wir aber auch in Bezug auf jeden anderen Teil unseres geistigen Zusammenhanges mit den Slawen stellen; und wenn es sich überall so verhält, können wir dann augenblicklich anders als verzagt und angstvoll in die Zukunft blicken?"


Dieses Bekenntnis ist bedeutsam, obgleich Herr Strachoff die Tragweite dieses von ihm ausgesprochenen Urteils nicht vollständig zu überblicken scheint. Indem er zu dem Schlüsse kommt, dass den Slawophilen auch in Zukunft einzig und allein Misserfolge bevorstehen, ist er nur für die Russen besorgt und verzagt, das Slawophilentum jedoch bleibt für ihn in seiner bisherigen Aureole bestehen. Das ist ein äußerst sonderbares Missverständnis, das von einem so scharfen Denker nicht zu erwarten ist. Als ob die slawophile Frage irgendein spekulatives, philosophisches oder meinethalben religiöses System wäre, dessen innere Wahrhaftigkeit durchaus nicht von seiner realen Verwirklichung, von seinem äußeren Erfolge abhänge! Die slawophile Bewegung ist aber nichts anderes als eine Form unseres Nationalismus, und ihr eigentlicher Wesenskern beruht nur in der Behauptung des unbedingten Erfolges unserer nationalen Angelegenheiten. Wenn wir nun aber niemals imstande sein werden, wie Herr Strachoff es nicht ohne eine gewisse Begründung voraussieht, alle die großen Taten zu verrichten, die die Slawophilen von uns erwarten, was bleibt dann noch vom Slawophilentume übrig? Die Slawophilen haben ja auch nicht die großen Taten für uns tun können, sondern sie haben sie nur vorausverkündigt, und zwar, wie Herr Strachoff bekennt, fälschlich. Und doch, obgleich er selbst auf dieses falsche Prophetentum hinweist, fährt der ehrenwerte Verfasser des „Kampfes" ruhig fort, die Lehre der Slawophilen für etwas Unantastbares zu halten und stellt sie zur Beschämung Russlands, wie es heute ist, auf ein hohes Piedestal. Er denkt so: ,,Wir haben uns geistig als zu schwach und für weltbewegende Taten als untauglich erwiesen, daher müssen wir uns vor den Slawophilen schämen, die ihre Hoffnungen auf uns gesetzt hatten." Wäre es aber nicht richtiger, die Schlussfolgerung umzukehren und zu sagen: wir haben uns geistig als zu schwach und als unfähig für große Taten erwiesen zur Schande der Slawophilen, die ganz umsonst und vollkommen unbegründet auf unsere scheinbaren Kräfte ihre Hoffnungen setzten und auf unsere Schultern allein die Schicksale der Welt legen wollten, anstatt nach einer stärkeren und sicheren Stütze Umschau zu halten?

Ich spreche hier nicht von dem alten Stamme der Slawophilen, ihr Irrtum war aus aufrichtigem und glühendem Enthusiasmus geboren und verdient mehr Mitleid als Vorwürfe. Es ist aber ganz unmöglich, vor der Lehre der Slawophilen und vor ihren „großen Ideen" verehrend ins Knie zu sinken und gleichzeitig zu verkünden, dass diese große Idee sich nur als eine nichtige Prätension erwiesen hat.

Anders klingen die Worte, die Danilewsky nach seinem Tode zu uns spricht. Die eben erschienene dritte Ausgabe des Werkes „Russland und Europa" enthält eine Menge Anmerkungen und Nachsätze zu den einzelnen Stellen dieses Buches, und die tiefe Enttäuschung des Verfassers kommt zuweilen in solchen Worten zum Ausdrucke, wie : „Alles was ich hier geschrieben habe, ist törichtes Zeug“. Als Naturforscher durch innere Neigung und Empiriker seiner ganzen Geistesrichtung nach, sah der verstorbene Danilewsky in seinen Träumen von den großen Zukunftsschicksalen Russlands und des Slawentums eine wissenschaftliche Hypothese, die durch Erfahrung bestätigt werden sollte. Er schrieb sein Buch Ende der achtziger Jahre, und in dem um die orientalische Frage entbrennenden Kriege der Zukunft hoffte er jene angedrohte Prüfung der Weltgeschichte zu erleben, die seine Anschauungen rechtfertigen und Russland die rettende Lektion erteilen würde. ,,Die orientalische Frage", schreibt er, ,,gehört nicht zu den Fragen, die auf diplomatischem Wege gelöst werden können. Die kleinen, nichtigen Ereignisse des Alltags überlässt die Geschichte wohl dem grünen Tische der Diplomaten, aber ihre großen Entscheidungen in den Schicksalsfragen der Menschheit, die dann auf Jahrhunderte hinaus Gesetz im Leben der Völker werden sollen, die verkündet sie selbst, ohne (?) Vermittler, unter Blitz und Donner, wie Gott Zebaoth auf den Höhen des Sinai. Die Prüfung der Weltgeschichte, die Danilewsky mit solcher Sicherheit erwartete, hat sich vor unseren Augen vollzogen; wohl donnerte und blitzte es am Balkan, als russischer ,,Sinai" aber erwies sich Berlin. Die Weltgeschichte verzichtete auch nicht auf die entsprechenden „Vermittler", ja nicht einmal auf den „grünen Tisch der Diplomaten". Danilewsky konnte natürlich im Berliner Traktat nicht eine gewaltige, welterschüttern de Entscheidung der (beschichte sehen, die das Leben der Völker auf Jahrhunderte hinaus bestimmen würde; aber noch weniger konnte der Krieg und der Frieden der Jahre 1877/78 als „kleine nichtige Ereignisse des Alltags" angesprochen werden. Die Prüfung war jedenfalls nicht bestanden worden, und alles andere lag noch in weitem Felde. Aber auch bei diesem äußeren Misserfolge konnte Danilewsky sich nicht mit dem Gedanken an eine innere, gedeihliche Entwicklung Russlands trösten. Die geistige und kulturelle Schwäche Russlands war ihm ebenso offenbar und klar ersichtlich wie Herrn Strachoff. Und als er die Stelle in seinem Buche wieder las, an der er davon spricht, dass der Kampf um Konstantinopel entweder durch ein gutwilliges Eingehen Europas auf alle russischen Forderungen beigelegt werden könne, oder aber dadurch, dass sich Russland tatsächlich als der
                        „kranke und geschwächte Koloss"
erweisen würde, für den ihn seine Feinde hielten, da schrieb er als Anmerkung zu dieser Stelle: „O weh! es wird sich wohl so verhalten!"

Am Anfange seines Buches ,,Russland und Europa" stellt Danilewsky die Frage: ,,Warum liebt Europa Russland nicht?" Seine Antwort ist bekannt. Europa, so denkt er, fürchtet uns als einen neuen und höheren kulturhistorischen Typus, der dazu berufen ist, die Greisenhaftigkeit der romanisch-germanischen Zivilisation zu ersetzen.

Der Inhalt jedoch des Buches selbst und sein eigenes sowie auch das spätere Bekenntnis seiner Gesinnungsgenossen legen eine andere Antwort nahe. Europa schaut deshalb feindselig und voll Besorgnis auf Russland, weil mit den dunkeln und rätselvollen Gewalten, die in der russischen Volksseele leben, mit der Armseligkeit und Unfähigkeit seiner geistigen und kulturellen Kräfte zugleich auch seine Ansprüche zutage treten, und diese Ansprüche sind offenbar scharf umrissen und groß. In Europa wird die Stimme unseres „Nationalismus" am besten hörbar, dieses Nationalismus, der die Türkei und Österreich vernichten, Deutschland zertrümmern, Konstantinopel, ja, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, auch Indien an sich reißen will. Wenn wir aber gefragt werden, was wir der Menschheit als Gegenleistung für das Genommene und Zerstörte zu bieten haben, welche geistigen und welche Kulturprinzipien wir in das weltgeschichtliche Geschehen hineintragen wollen, dann müssen wir entweder schweigen oder uns in sinnlosen Phrasen ergehen.

Wenn das bittere Bekenntnis Danilewskys richtig ist, dass Russland sich als ein „kranker und geschwächter Koloss" zu erweisen beginnt, dann müsste die Frage, warum Europa uns nicht liebt, durch eine andere, viel näher liegende und wichtigere Frage ersetzt werden, nämlich die Frage: woran und warum sind wir krank? Physisch ist Russland ja noch stark genug, wie der letzte russische Krieg im Osten bewiesen hat; unsere Krankheit muss daher moralischer Natur sein. Auf uns lasten, wie ein alter Schriftsteller sagt, unsere Volkssünden, die wir uns nicht zum Bewusstsein bringen wollen; das ist es, was wir uns vor allen Dingen zuerst vor Augen halten müssen. Solange wir moralisch gebunden und gelähmt sind, können alle unsere elementaren Energien uns nur zum Schaden gereichen. Somit kann die wesentlichste, ja die einzig wesentliche Frage für einen wahrhaften und klar blickenden russischen Patrioten nicht die Frage nach der Macht und der Berufung, sondern die Frage nach „den Sünden Russlands" sein. Rosenhaus. 19. 7. 16.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und Europa