Viertes Kapitel

Begründetere Hoffnung auf eine große Zukunft bietet Russland allem Anscheine nach auf dem Gebiete der Literatur und der schönen Künste. Der russische Roman ist in letzter Zeit in Europa zu großer Berühmtheit gelangt. Die besten russischen Schriftsteller werden im Auslande nicht nur von allen Kennern auf literarischem Gebiete geschätzt, sondern sie werden neuerdings auch populär in weiteren Kreisen der gebildeten und halbgebildeten Gesellschaft Europas. In der Poesie sind außer Puschkin und Lermontoff noch einige andere Lyriker zu nennen, deren sich die Literatur eines jeden anderen Landes auch rühmen dürfte. An Schöpfungen auf dem Gebiete der Kunst im engeren Sinne ist Russland weniger reich. Dennoch kann auf den genialen Komponisten Glinka und in der Malerei nicht nur auf einige bemerkenswerte Landschafts- und Porträtmaler, sondern auch, wenn die Slawophilen recht haben, auf das große historische Gemälde Iwanoffs „Christus erscheint dem Volke" hingewiesen werden*).

*) Nur in der Architektur und Skulptur kann keine im ästhetischen Sinne wirklich gute Schöpfung aufgezeigt werden, die von einem russischen Künstler herrührt. Die alten Kirchen in Russland wurden von ausländischen Baumeistern gebaut, und ein Fremder hat das einzige bedeutende künstlerische Denkmal, das die Residenz Russlands schmückt, die Statue Peters des Großen, ausgeführt. Selbstverständlich spreche ich hier nicht von jenem nationalen Charakter oder Geschmacke der verschiedenen Bauten, der bei allen Völkern, z. B. den Abessiniern u. a. zu finden ist.


Natürlich ist alles das oben Angeführte viel zu geringfügig für einen besonderen kulturhistorischen Typus, der nach der Anschauung unseres Verfassers den Wettstreit nicht nur mit irgendeiner vereinzelten europäischen Nation, sondern mit ganz Europa, mit der Gesamtheit aller römisch-germanischen Völker aufnehmen soll. Da es sich aber hier um einen erst in der Bildung begriffenen kulturhistorischen Typus handelt, so könnte das von Russland in der Literatur und den schönen Künsten Geleistete zweifelsohne ein gutes und positives Unterpfand für eine große Zukunft bilden. Damit diese Leistungen aber als Unterpfand oder als Keim zukünftiger Größe gelten dürfen, dazu ist absolut notwendig, dass das ästhetische Schaffen in Russland in fortschreitender Entwicklung begriffen sei, dass es sich auf einer aufsteigenden Linie fortbewege. Verhält es sich nun in der Tat so?

Als alles in Russland so stolz wurde auf den glänzenden Erfolg der russischen Schriftsteller im Auslande, scheint niemand auf den Umstand aufmerksam geworden zu sein, dass dieser Erfolg nur der laute Widerhall des Ruhmes vergangener Tage ist. Denn, in der Tat, wer sind sie, diese Schriftsteller, die der Westen mit solchem Beifall begrüßt hat? Es sind entweder Tote oder Invalide ihres Berufes. Gogol, Dostojewski, Turgenjeff sind gestorben, Gontscharoff hat schon lange selbst das Fazit seiner literarischen Tätigkeit gezogen. Und der jüngste, jedoch berühmteste der russischen Schriftsteller, Graf Leo Tolstoj, hat seit mehr als zehn Jahren der unermüdlichen Tätigkeit seines Geistes eine ganz andere Richtung gegeben. Was aber die neuzeitlichen Schriftsteller anbetrifft, so muss selbst bei der wohlwollendsten Beurteilung ihres Schaffens ganz unzweifelhaft angenommen werden, dass Europa ihre Werke niemals lesen wird. Um mit Recht voraussetzen zu können, dass die Blütezeit der russischen Literatur, die ungefähr ein halbes Jahrhundert (von „Eugen Onegin" bis ,,Anna Karenina") gewährt hat, nur den Keim des künstlerischen Schaffens der Zukunft darstellt, muss der Hinweis auf in Entwicklung begriffene, viel bedeutendere Talente und Genies als Puschkin, Gogol oder Tolstoj möglich sein. Aber die neue Generation russischer Schriftsteller, die genügend Muße hatte, um ihre schöpferischen Kräfte zum Ausdruck zu bringen, konnte keinen einzigen Dichter hervorbringen, der auch nur annähernd den alten Meistern gleichwertig gewesen wäre. Dasselbe muss über Musik und Historienmalerei gesagt werden, denn Glinka und Iwanoff haben keine ihnen gleichwertigen Nachfolger gehabt. Es dürfte schwer fallen, die augenfällige Tatsache zu verneinen, dass Literatur und Kunst in letzter Zeit sich in Russland auf absteigender Linie bewegen (in Bezug auf künstlerischen Wert), und dass unter den gegebenen Bedingungen nichts da ist, was eine neue Blütezeit ästhetischen Schaffens versprechen könnte. So sind auch auf diesem Gebiete ebensowenig positive Hoffnungen für die Zukunft gegeben wie auf dem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit.

Obgleich diese Schlussfolgerung noch nicht so offen zutage getreten ist in der Zeit, als das Buch ,,Russland und Europa" geschrieben wurde, so hat Danileswky sie dennoch vorausgesehen und ihr eine sehr merkwürdige Erwägung entgegengestellt. Er sagt nämlich, dass in jeder Nation eine Höherentwicklung ihrer geistigen Kräfte dann erfolge, wenn sie den Kulminationspunkt ihrer politischen Macht erreicht habe. Die Geschichte zeigt jedoch, dass auch das Gegenteil stattfinden kann, denn die Griechen und Deutschen können doch wohl nicht aus den Reihen der Kulturnationen ausgeschlossen werden. Die innere, geistige Blüte von Hellas ging den politischen Triumphen des Hellenismus voraus, das Jahrhundert des Perikles war vor dem Jahrhundert Alexanders des Großen. Ganz ebenso lebten in Deutschland Lessing und Goethe, Kant und Hegel, Mozart und Beethoven bedeutend früher als Bismarck und Moltke. Es ist sonderbar, dass Danilewsky nicht daran gedacht hat; und noch sonderbarer ist es, dass er nicht bemerkte, wie sein scheinbares ,,historisches Gesetz," auf Russland angewandt, ihn selbst und jene Ziele widerlegt, um derentwillen er es in den Vordergrund schob. Wer wollte wohl beweisen, dass Russland den Kulminationspunkt seiner politischen Größe noch nicht erreicht hätte, da dieses Reich doch nach einem ganzen Jahrhundert kriegerischer und diplomatischer Erfolge in einen gigantischen Kampf mit allen von Napoleon I. geführten Mächten des Westens getreten war und, nachdem es in diesem Kampfe gesiegt hatte, die politische Hegemonie über ganz Europa davontrug? Und siehe da, dem ,,historischen Gesetze" entsprechend ist auf den höchsten Triumph der russischen Waffen das goldene Zeitalter russischer Literatur gefolgt.

Ohne Zweifel besitzt die schöne Literatur Russlands in ihren besten Schöpfungen Eigenart und inneren Wert. Wenn aber Eigenart und Bedeutung der schönen Literatur bei den Deutschen, Spaniern und Engländern nicht das Merkmal eines besonderen kulturhistorischen Typus für diese Nationen bedeuten, so ist auch ein solches Anzeichen für Russland nicht vorhanden. Die russische nationale Eigenart, die unter anderem auch in der Literatur zutage tritt, ist wohl von niemandem bestritten worden. Der russische Roman unterscheidet sich ohne Zweifel vom englischen, jedoch sicher nicht mehr als dieser vom spanischen. Der russische Roman stellt eine unter vielen Arten des europäischen Romans dar, nicht nur in Bezug auf die Form, die vom Westen her fertig übernommen wurde, sondern auch in Bezug auf die innere Eigenart, die nur einen äußeren Unterschied aber keinen Rassenunterschied in der europäischen Literatur zum Ausdrucke bringt. So ist z. B. der Realismus oder Naturalismus, der gewöhnlich als charakteristisches Merkmal des russischen Romans angeführt wird, nur eine besondere Form jener realistischen Richtung, die schon früher im Westen aufgetreten war; denn Balzac und Thackeray sind die Vorgänger der russischen Schriftsteller von Ruf.

Ebenso wie die schöne Literatur in Russland bei all ihrer Eigenart nur als eine besondere Form der europäischen Literatur gelten kann, so ist auch Russland selbst trotz all seiner besonderen Merkmale nur ein Staat unter den anderen Staaten Europas. Die dem oben gesagten widersprechende Behauptung Danilewskys von der außereuropäischen Eigenart der russischen Kultur kann keinen einzigen Beweis zu ihrer Bestätigung beibringen, und der Verfasser von „Russland und Europa" weicht einer direkten Verteidigung seines Satzes aus und weist nur auf die historische Jugend des russischen Volkes, auf die Eigenart seiner politischen Erziehung, die er übrigens auch selbst nicht für normal hält, hin. Die überzeugende Kraft seiner Anschauungsweise ist nach seiner eigenen und nach der Ansicht seiner Gesinnungsgenossen hauptsächlich in seiner allgemeinen Theorie von den „kulturhistorischen Typen" begründet, aus der sich dann auch als besonderer Zusatz seine Ansicht über die Beziehungen Russlands zu Europa ergibt. Wir wollen nun diese Theorie ohne irgendwelche Voreingenommenheit untersuchen und nur fordern, dass die den höchsten Menschheitsidealen feindselige historische Theorie wenigstens in keinen Widerspruch mit jener historischen Wirklichkeit trete, die sie erklären soll.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und Europa