Fünftes Kapitel

Durch seine Verfestigung im nationalen Egoismus und durch seine Absonderung von der übrigen christlichen Welt war Russland immer unfähig, etwas Großes oder auch ganz einfach nur etwas Bedeutendes zu leisten. Und nur durch die allerengsten inneren und äußeren Wechselbeziehungen mit Europa konnte die russische Daseinsbetätigung wahrhaft groß sein (die Reformen Peters des Großen, die Dichtungen Puschkins). Diese Tatsache hindert Russland natürlich keineswegs, auch auf dem Wege seiner nationalen Absonderung viel Eigenartiges aufzuweisen, das sonst keiner anderen europäischen Nation eignet.

Es handelt sich aber hierbei nur um die Frage, inwieweit dieses Eigenartige auch wirklich wertvoll ist. Das ungeheuer große chinesische Reich hat, ungeachtet der Sympathien, die Danilewsky ihm entgegenbringt, der Welt noch keine einzige große Idee, noch keine einzige wahrhaft große Tat geschenkt und wird es auch voraussichtlich in Zukunft nicht tun, es hat keinen einzigen Beitrag, der Ewigkeitswert besitzt, in das geistige Allgemeingut der Menschheit fließen lassen und wird es auch nicht tun. Das hindert die Chinesen aber keineswegs, ein äußerst eigenartiges und sehr erfinderisches Volk zu sein. Danilewsky zählt, von Hochachtung erfüllt, alle diese Erfindungen auf: er sagt unter anderem, dass das Pulver, die Buchdruckerkunst, der Kompass, das Schreibpapier den Chinesen schon lange bekannt waren, und dass allem Anscheine nach ( ?) diese Dinge sogar von ihnen nach Europa gebracht worden seien. Ob nun diese Erfindungen in der Tat von China nach Europa gekommen sind, darüber ist nichts bekannt, dass die Chinesen selbst aber nichts Wichtiges mit ihnen geleistet haben, das wissen wir sicher. Überhaupt äußert sich die chinesische Eigenart am meisten in einer negativen oder defektiven Form. Ebenso wie die originelle chinesische Malerei sich von der europäischen durch das Fehlen der Perspektive unterscheidet, so trat das Eigenartige der chinesischen Buchdruckerkunst im Gegensatze zur europäischen nur dadurch zutage, dass ihrer Schrift alle Beweglichkeit fehlte. Übrigens war auch diese unvollkommene Buchdruckerkunst vielleicht ganz unnötig, denn außer den geheimnisvollen metaphysischen Aussprüchen des Laotse, die wahrscheinlich von der Theosophie Indiens herübergeweht worden waren, hat das chinesische Geistesleben nichts hervorgebracht, was dauernden Wert gehabt hätte. Jene „gewaltig große Literatur", von der Danilewsky spricht, ist nur in quantitativem Sinne groß. Und die zweifelhafte Erfindung des Kompasses brachte den Chinesen jedenfalls gar keinen Nutzen, denn sie sind nicht in das offene Meer hinausgefahren und haben keine neuen Länder entdeckt.


Ebensowenig Nutzen hatten sie von der Erfindung eines schlechten Schießpulvers, denn sie besaßen keine ordentliche Heeresmacht und waren bekanntlich nicht imstande, die Mängel ihrer militärischen Einrichtungen durch eine andere sehr eigenartige Erfindung zu verbessern, nämlich durch das Bemalen der Festungsmauern mit allerhand Ungeheuern, die den Europäern Schrecken einflößen sollten. Russland hingegen hat seit Peters des Großen Regierung den unverkennbaren Vorzug vor China, dass die russischen Heere und Festungen mit wirklichen europäischen Waffen versehen sind, und die Aufgabe, Europa mit Kanonen aus Pappe und phantastischen Drachen zu erschrecken, bleibt ausschließlich der Feder patriotischer Journalisten überlassen. Wenn wir aber auch wirklich nicht einmal schlechtes Schießpulver und eine schlechte Buchdruckerkunst erfinden konnten wie die Chinesen, so mangelt es uns andererseits durchaus nicht an verschiedenen originellen Dingen, die uns von anderen Völkern unterscheiden. Ich will alles übrige beiseite lassen und nur auf eine augenscheinlich nicht sehr bedeutende, aber äußerst charakteristische Eigentümlichkeit hinweisen. Während nämlich alle europäischen Nationen den verbesserten gregorianischen Kalender benützen, fährt Russland fort, sich des veralteten julianischen Kalenders zu bedienen, und bleibt dadurch hinter Europa und der Sonne um zwölf, nächstens schon um dreizehn Tage zurück. Die russische Eigenart besteht hier übrigens auch nur darin, dass das Schlechte dem Guten vorgezogen wird, denn dieses Schlechte ist auch nicht russischen, sondern allgemein europäischen oder allgemein menschlichen Ursprungs, das aber von den anderen als untauglich befunden und daher abgeschafft worden ist.

Dieser originelle Charakterzug auf dem Gebiete des Alltagslebens kam mir in den Sinn bei der Erinnerung an eine geradeso eigenartige Erscheinung wie die oben angeführte auf dem Gebiete des russischen Gedankenlebens. Die Idee der Rassen- und Stammesunterschiede, die als höchstes und endgültiges kulturhistorisches Prinzip aufgestellt wird, hat ebensowenig wie der julianische Kalender etwas mit der russischen Erfindungsgabe zu tun. Schon seit dem Turmbau von Babel bilden die Ideen nationaler Absonderung die Grundlage des Denkens und Lebens aller Völker. Das Bewusstsein der europäischen Völker jedoch erhob sich insbesondere dank dem Einflüsse des Christentums ganz entschieden über dieses vorzugsweise heidnische Prinzip, und ungeachtet der späterhin erfolgten nationalistischen Reaktion hat sich dieses Bewusstsein niemals vollständig von der höchsten Idee einer geeinten Menschheit lossagen können. Auf dieses niedere, vom Menschheitsbewusstsein im Laufe von zweitausend Jahren überholte, heidnische Prinzip wieder zurückzugreifen, blieb dem russischen Geistesleben vorbehalten. In dieser vollkommen begreiflichen Beweglichkeit des Gedankenlebens irgendeine positive und nicht nur eine ,,defekte“ Eigenart zu sehen, hierin die Äußerungen oder auch nur die Vorläufer der geistigen Eigenart des russischen Volkes zu suchen, wäre ebenso unbegründet wie etwa der Stolz auf die Treue, mit der Russland am unbrauchbaren julianischen Kalender festhält. Ist es wirklich eines großen Volkes würdig, seine Originalität dadurch zu bekunden, dass es sich in einen Gegensatz zur vernunftgemäßen Entwicklung des historischen Geschehens oder zur Bahn der Gestirne am Himmel zu bringen sucht?

Jene umfassende und vollkommen abgeschlossene Epoche im Leben jeder historischen Völker, die als ,,alte Geschichte" bezeichnet wird, stellt gleichzeitig mit der Vorherrschaft des nationalen Separatismus unzweifelhaft eine Weiterentwicklung dar im Sinne einer immer größer werdenden Absonderung einander zuerst fremd und feindselig gegenüberstehender Völkerschaften und Staaten. Jene Nationen, die an dieser Bewegung keinen Anteil hatten, erhielten dadurch einen besonderen antihistorischen Charakter, und unwillkürlich muss Danilewsky selbst diese Nationen in eine besondere Gruppe mit der Bezeichnung ,,isolierte“ kulturhistorische Typen zusammenfassen im Gegensatze zu den einander ,,ablösenden“ Typen. Wenn wir diese letzteren ins Auge fassen, so sehen wir, dass die politische und kulturelle Zentralisation sich hier nicht auf einzelne Völker oder auf bestimmte Völkergruppen beschränkt hat, sondern dass sie bestrebt war, in eine sogenannte Weltherrschaft überzugehen, und dieses Streben näherte sich tatsächlich immer mehr und mehr seinem Ziele, obgleich es sich nicht vollkommen verwirklichen konnte.

Die Monarchie des Cyrus und Darius war keineswegs nur der Ausdruck eines iranischen kulturhistorischen Typus, der den chaldäischen abgelöst hatte. Nachdem der große König das ganze frühere assyrisch-babylonische Reich seinen Staaten einverleibt und seine Herrschaft nach allen Seiten zwischen Griechenland und Indien, Skythien und Äthiopien weiter ausgedehnt hatte, umfasste diese Herrschaft während ihrer Blütezeit nicht einen, sondern wenigstens (der Klassifikation Danilewskys nach) vier kulturhistorische Typen, nämlich den medisch-persischen, syrisch-chaldäischen, ägyptischen und jüdischen Typus, von denen jeder einzelne sich wohl der politischen Einheit und bis zu einem gewissen Grade auch der Kultureinheit des Gesamtganzen unterordnete, jedoch die hervorragendsten, seine Bildung bedingenden Eigentümlichkeiten bewahrte und sich durchaus nicht nur als ethnographisches Material behandeln lässt. Das Reich Alexanders von Mazedonien, das nach seinem Tode nur politisch auseinanderfiel, jedoch in vollem Umfange die neue Kultureinheit des Hellenismus bewahrte, erweiterte die Grenzen des früheren Weltreiches, indem es im Westen das ganze, dem griechischen Kulturgebiete zugeordnete Gebiet und im Osten einen Teil Indiens in seine Grenzen einbezog. Und endlich hat das römische Kaiserreich (dem seine Bezeichnung als Weltreich doch wohl nicht aus dem Grunde abgesprochen werden darf, weil seine Herrschaft sich nicht auch über das Gebiet der Hottentotten und Azteken erstreckte) zusammen mit dem neuen lateinischen Kulturelemente ganz Westeuropa und Nordafrika der allgemeingeschichtlichen Entwicklung zugeführt, indem es diese Gebiete mit der ganzen, von Rom beherrschten osthellenischen Kulturwelt vereinigte*).

Somit lehrt uns die alte Geschichte, dass anstatt der einfachen Ablösung aufeinanderfolgender Kulturtypen vielmehr diese Typen von einem umfassenden und universellen Kulturprinzipe allmählich dadurch miteinander vereinigt werden, dass dieses Prinzip die vereinzelten und enger begrenzten Bildungselemente sich unterordnet. Am Abschlüsse dieses Prozesses wird der ganze Schauplatz des geschichtlichen Geschehens von einem einheitlichen römischen Kaiserreiche beherrscht, das alle früheren, aufeinander folgenden kulturhistorischen Typen nicht nur ablöst, sondern auch in sich aufnimmt. Außerhalb dieses wirklichen Weltreiches finden wir nur noch im Absterben begriffene, isolierte Kulturtypen oder aber die ungestaltete Masse wilder und halbwilder Volksstämme.

Viel wichtiger aber als diese äußere Vereinigung der historischen Menschheit war im römischen Reiche die Entwicklung der Idee einer einigen Menschheit. Innerhalb der heidnischen**) Welt konnte diese Idee weder von den orientalischen Völkern ausgearbeitet werden, die in ihrer Weltanschauung zu sehr von den lokalen Bedingungen abhängig waren, noch von den in ihrer hohen nationalen Kultur allzu selbstzufrieden dahinlebenden Griechen, die den Hellenismus mit der ganzen Menschheit identifizierten, ungeachtet des abstrakten Kosmopolitismus in den philosophischen Schulen der Kyniker und Stoiker. Die vornehmsten Vertreter des eigentlich griechischen Gedankens, Plato und Aristoteles, waren unfähig, sich zur Idee einer einigen Menschheit zu erheben. Nur in Rom fand sich der geeignete geistige Boden für diese Idee, und römische Philosophen und Rechtsgelehrte erfassten sie vollkommen bestimmt und folgerichtig.

*) Jenes östliche Gebiet, das die Römer den barbarischen Parthern überlassen mussten, ist sehr geringfügig im Vergleiche zu der gewaltigen Erweiterung des Kulturgebietes im Westen.
**) Ich spreche von der heidnischen Welt, denn bei den Juden finden wir, ganz abgesehen von ihren großen Propheten, schon im ältesten Denkmal ihrer Geschichte (Gen. V, I) die ganze Menschheit als Geschlecht eines Menschen dargestellt: ze sefer tol'dot Adam.


Während der große Stagirite den für alle Ewigkeit unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren, zwischen Freien und Sklaven aussprach und zum Prinzipe erhob, haben solche, im Vergleiche mit ihm nicht sehr namhafte Philosophen, wie Cicero und Seneka, gleichzeitig mit der Lehre des Christentums die wesentliche Gleichheit aller Menschen verkündet. ,,Die Natur befiehlt," schreibt Cicero, „dass der Mensch dem Menschen helfe, wer auch immer der andere sein möge, eben nur aus dem Grunde, weil er ein Mensch ist" (hoc natura praescribit, ut homo homini, quicunque sit, ob eam ipsam causam, quod is homo sit, consultum velit*); und: ,,Es ist unsere Pflicht, uns in gemeinsamer Liebe mit den Unsrigen zu vereinen, zu den Unsrigen aber müssen wir alle diejenigen zählen, die durch ihre Natur als menschliche Wesen zusammengehören**)." ,,Der Weise hält sich geradeso für einen Bürger dieser Welt, wie er sich für den Bürger einer Stadt hält***)." „Wir alle", schreibt Seneka, ,,sind die Glieder eines ungeheuer großen Leibes. Die Natur wollte, dass wir alle verwandt miteinander seien, darum erzeugte sie uns aus denselben Grundelementen und für dasselbe Ziel. Hieraus ergibt sich unser Mitgefühl und unsere Teilnahme für einander; Gerechtigkeit und Recht haben keinen anderen Ursprung. Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Gewölbe, in dem die einzelnen Steine einander halten und dadurch die Festigkeit des Ganzen bedingen****)".

*) Cicero, De officiis III, pag, 6. **) Cicero, De legibus I, pag. 23. ***) Ibidem.
****) Gaston Boisier, „La religion Romaine d 'Auguste aux Antonins", Paris 1874.


Schon Cicero, der von der Idee einer solidarischen Menschheit ausging, hat den Schluss gezogen, dass der Krieg nur eine beschränkte Berechtigung haben dürfe. Seneka verurteilt den Krieg absolut. Er fragt, warum der Mensch, der einen anderen erschlägt, gestraft werden müsse während der Mord eines ganzen Volkes als eine ehrenvolle und ruhmreiche Tat gelte? Ändern sich etwa Eigenschaften und Namen des Verbrechens dadurch, dass sie im Kriegsgewand ausgeübt werden? Von diesem Gesichtspunkte aus lehnt sich Seneka auch auf das entschiedenste gegen die Gladiatorenkämpfe auf, und verkündet 17 Jahrhunderte vor Kant, dass der Mensch nicht für den anderen nur ein Mittel oder Werkzeug sein dürfe, sondern dass jeder seine eigene unantastbare Bestimmung habe — homo res sacra homini. Dieses Prinzip hat bei Seneka sowohl für die Fremdlinge als auch für die Sklaven Geltung, denen er alle Menschenrechte in vollem Umfange zuerkennt. Er tadelt selbst die Bezeichnung „Sklaverei" und verlangt, dass die Sklaven „demütige Freunde" — humiles amici — *) genannt werden.

Solche und ähnliche Gedanken waren in Rom nicht nur die Überzeugung vereinzelter Menschen oder die Lehre einer philosophischen Schule, wie etwa bei den Stoikern Griechenlands. Die Idee wesentlicher Gleichheit bei allen Menschen ist das unveräußerliche Eigentum des römischen Rechtes. Der Begriff selbst des ,,jus naturale", der von den römischen Rechtsgelehrten aufgestellt wurde, verneint absolut die als grundlegend und unwandelbar geltende Ungleichheit zwischen Menschen und Völkern. Im Gegensatze zu Aristoteles, der in seinen politischen Schriften behauptet, dass es Menschen und Volksstämme gebe, die von der Natur selbst zur Sklaverei bestimmt seien, haben die römischen Rechtsgelehrten ganz entschieden erklärt, dass alle Menschen mit dem gleichen, natürlichen Rechte auf Freiheit geboren würden, und dass die Sklaverei nur ein viel später entstandener Missbrauch sei (utpote cum jure naturali omnes liberi nascerentur, sed postea . . . servitus invasit)**).

Wenn durch die äußere Einheit des römischen Kaiserreiches und durch seine militärischen Heerstraßen die allseitige Verbreitung des Evangeliums erleichtert und beschleunigt worden ist, wie solches schon christliche Schriftsteller der alten Zeit melden ***), so haben doch die humanen Prinzipien der römischen Rechtsgelehrten und Philosophen den geistigen Boden vorbereitet für die Aufnahme der moralischen Ideen des Christentums, das seinem Wesen nach allgemein menschlich ist und über den Begriffen von Volkstum und Nationalität steht. Die Überlieferung, die von einer tatsächlich recht wenig glaubhaften, persönlichen Bekanntschaft des Apostels Paulus mit Seneka spricht, weist mit Recht auf die natürliche Beziehung zwischen dem Universalismus des römischen Verstandeslebens, als dem Abschlüsse der Geschichte des Heidentums, und dem Beginne einer neuen universellen Religion hin, die der in Rom vereinigten Menschheit neues Leben verleihen soll. Seneka, der Krieg und Sklaverei verneint, und der Apostel Paulus, der da verkündigt, dass der Unterschied zwischen Griechen und Barbaren, zwischen Freien und Unfreien fortan aufgehoben werden müsse, diese beiden Individualitäten, aus zwei einander so fernstehenden ,,kulturhistorischen Typen" stammend, standen sich zweifelsohne sehr nahe, ganz unabhängig davon, ob ein persönlicher oder schriftlicher Verkehr stattgefunden hat oder nicht. Die zufällige Bekanntschaft zweier historischer Persönlichkeiten kann nur als eine interessante Frage in Betracht kommen, der Zusammenfluss aber zweier so heterogener Gedankenströmungen zu einer universellen Idee ist sicher ein gewaltiges Ereignis, das auf die Festlegung des Zentralpunktes im welthistorischen Geschehen ohne Zweifel bestimmend eingewirkt hat. Wenn es aber keine einheitliche Weltgeschichte, wenn es nur eine Kultur verschiedener Nationen und Stämme geben soll, wie ist dann dieser geistige Zusammenhang zu verstehen und zu erklären, der zwischen dem heidnischen Philosophen aus Spanien und dem christlichen Apostel aus Judäa gewaltet hat, die beide in Rom zusammenkamen und die Lehre von der Einheit der gesamten Menschheit predigten?

*) Siehe ebendaselbst. **) Siehe Digesta, Bd. I, S. I, 4. ***) „Gott selbst", sagt Prudentius, „hat die Völker durch Rom besiegt, um die Wege für den Christus zu bereiten."

Wie weit die Wirklichkeit auch heute noch von einer Erfüllung der moralischen Forderungen des Apostels Paulus oder auch nur des Seneka entfernt ist, die Lehre von der Einigung der Gesamtmenschheit ist nicht umsonst verkündigt worden. Aus ihr ist eine neue Kulturwelt hervorgegangen, die trotz aller ihrer Sünden im praktischen Leben, trotz aller Absonderung und Zwietracht im einzelnen dennoch das große Einheitsideal aller Stämme und Völker zur Darstellung bringt, das an Tiefe und umfassender Größe die Einheit des römischen Kaiserreiches um so viel übertrifft, als dieses Reich selbst alle, vorher von anderen gemachten Versuche übertraf, die darauf ausgingen, eine Weltherrschaft zu begründen. Die Völker eines neuen christlichen Europas, die gleichzeitig aus Rom und aus Galiläa die Wahrheit einer ihrer Natur und ihrer moralischen Bestimmung entsprechenden einigen Menschheit aufnehmen konnten, haben sich im Prinzipe niemals von dieser Wahrheit losgesagt; sie blieb selbst für die Übertreibungen des in diesem Jahrhunderte neuerstandenen Nationalismus eine unantastbare Wahrheit. Auch Fichte hat das deutsche Volk nur darum so besonders hoch gestellt, weil er in diesem Volke die Vernunft der ganzen, einigen und ungetrennten Menschheit konzentriert sah. Nur der russischen Widerspiegelung des europäischen Nationalismus kommt das zweifelhafte Verdienst zu, die besten Lehren der Weltgeschichte und die höchsten Lehren der christlichen Religion entschieden abzulehnen, um zum grobheidnischen, nicht nur vorchristlichen, sondern 50gar vorrömischen Gesichtspunkte zurückzukehren.

Der verstorbene Danilewsky, der sein Werk unter dem Einflüsse eines aufrichtigen, wenn auch allzu engbegrenzten und unverstandenen Patriotismus schrieb, hatte nur das eine praktische Ziel im Auge : er wollte das nationale Selbstbewusstsein seiner Landsleute heben und sie von der Krankheit des ,,Europäismus" heilen. Da es dem Verfasser jedoch augenscheinlich unmöglich war, die große kulturelle Eigenart Russlands und dessen fundamentale und endgültige Absonderung von Europa direkt zu beweisen, so war er genötigt, dieses Ziel auf dem Umwege allgemeiner theoretischer Vorstellungen zu erreichen. Auf diesem Wege entdeckte er nun (so wollte es ihm wenigstens scheinen) ein neues „natürliches System" der Weltgeschichte, aus dem sich für ihn mit Notwendigkeit die erwünschten Schlussfolgerungen ergaben über die Beziehungen zwischen Russland und Europa*). Indem ich nun zu einer Kritik dies sogenannten ,, natürlichen Systems" und seiner Anwendung auf Russland übergehe, muss ich auch hier den gewissenhaften Leser darauf aufmerksam machen, dass der Schriftsteller, dessen Arbeit ich hier bespreche, seine Ansichten allseitig und erschöpfend darlegen konnte, während mir dieser Vorzug weitaus nicht in diesem Maße zu Gebote steht. Während ich also für alles, was ich sagen werde, die volle Verantwortung übernehme, kann ich diese Verantwortung keineswegs auch für das mittragen, was ich stillschweigend übergehen muss.

*) Dieses System war, wie der Leser im zweiten Teile der ,,Nationalen Frage“ sehen wird, zwölf Jahre vorher schon von einem wenig bekannten deutschen Historiker „entdeckt" worden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland und Europa