Vorwort

Das Werk, das ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, unterscheidet sich von der Menge von Büchern, Broschüren und Aufsätzen, die über russische Verhältnisse neuerdings veröffentlicht worden sind, in dreifacher Beziehung. Es ist zunächst im wesentlichen auf Grund eigener Anschauung geschrieben, nach fünf - mehrere Monate dauernden Reisen, die mich vom Beginne dieses Jahrhunderts an in alle Gebiete des Russischen Reiches, außer dem äußersten Norden und dem östlichen Sibirien führten. Ferner bin ich bei meinen Studien von den Landbewohnern ausgegangen, die bis heute 87 Prozent der Einwohner des Russischen Staates bilden. Das war mir möglich, da ich die russische Sprache genügend beherrsche, um von den Bauern nicht sogleich als Ausländer erkannt zu werden. Dies muss ich hervorheben, da die meisten deutschen Schriftsteller, die noch in letzter Zeit über Russland geschrieben haben, nicht russisch verstanden, was sie zwar nur zum Teil zugaben, was aber nach der Art der Darstellung offenbar ist. Schließlich wird das in Russland geltende Recht selbständig vom Standpunkte eines deutschen Juristen dargestellt. Erst wenn man das lebendige Recht kennt, vermag man die Wünsche und Bestrebungen der politischen Parteien in Russland zu verstehen.

Die deutsch-russische Grenze ist bedeutend länger als die deutsch-französische. Der größte Teil des russischen Ausfuhrhandels geht nach Deutschland, und die deutsche Einfuhr in Russland übertrifft bei weitem die aller anderen europäischen Staaten. Jedes Mal, wenn ich von einer neuen Reise in Russland zurückkehrte, musste ich aufs neue staunen, wie groß die Unkenntnis über die grundlegendsten Dinge in Russland war. Der Preuße Haxthausen hat, ohne Russisch zu können, aber auf Grund persönlicher Eindrücke, seinerzeit Studien über russische Verhältnisse veröffentlicht hat, an die die russische Volkswirtschaft anknüpfte und die einen Wendepunkt in der russischen Wirtschaftsgeschichte darstellen. Seitdem haben Engländer und Franzosen uns den Rang abgelaufen. Die Werke des Engländers Sir D. Mackenzie Wallace und des Franzosen Leroy Beaulieu sind heute die einzigen, die man einem Deutschen empfehlen kann, um sich mit den russischen Verhältnissen vertraut zu machen. Und doch sind sie in der Hauptsache in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verfasst und in der Methode veraltet.


Die Russen selbst behaupten vielfach, Ausländer seien unfähig, über Russland zu schreiben. Sie selbst wagen sich aber nicht an die Aufgabe, ein Gesamtbild des russischen Lebens zu geben. Wenn ich es unternehme, nicht nur das innere Russland, sondern auch Polen wie Zentralasien, die Krim wie den Norden im Zusammenhange zu behandeln, so habe ich, ohne die Größe der Aufgabe zu verkennen, geglaubt, damit den Anfang machen zu müssen. Da in diesem Umfang die Arbeit noch niemals unternommen worden ist, muss ich wegen etwaiger Fehler um Nachsicht bitten.

Es ist hier auch versucht worden, die Ereignisse der letzten Jahre zusammenhängend darzustellen. Geschichte kann uns ein Vorgang der fast unmittelbaren Gegenwart nicht sein. Wenn sich ein Ausländer jedoch in einem fremden Lande befindet und die Ereignisse als kühler Beobachter unter der Berücksichtigung der Geschichte des Landes und der Psychologie der höheren Klassen und des niederen Volkes betrachtet, so ist doch eine Möglichkeit haben, vorhanden, das Bleibende von dem Vorübergehenden zu unterscheiden.

Die russischen Quellen, Lehrbücher und Monographien, Zeitschriften und Zeitungen habe ich eifrig gelesen. Ich habe hat aber niemals das als Tatsache genommen, was berichtet wurde, sondern habe alles, soweit es möglich war, nachgeprüft. Keine einzige der in dem Werke mitgeteilten Tatsachen, abgesehen von denen, die ich selbst erlebt, habe ich ohne Kritik einem anderen nachgesprochen. Wo ich von der Regierung erzähle,
habe ich mich an offizielle Nachrichten gehalten, an die Gesetzsammlung und an den Staatsanzeiger. Revolutionäre Kundgebungen habe ich nach den Originalen oder nach Berichten in den revolutionären Zeitungen angeführt.

In Russland tritt auf vielen Lebensgebieten eine neue Ordnung der Dinge auf. Um sie zu verstehen, um den neuen Verhältnissen klar ins Auge zu sehen, muss man wissen, was besteht. Diese Tatsachen soll das vorliegende Werk zu veranschaulichen suchen. Statistische Angaben werden die Leser spärlich finden, da die russischen Berechnungsmethoden so ungleichartig sind, dass die einzelnen Ziffern ohne Kritik gar nicht gebraucht werden können. Wo Zahlen angeführt sind, habe ich sie nachgeprüft und gemeint, dass sie der Wahrheit am nächsten kommen.

Ich versuchte, was ausländische und russische Historiker, Nationalökonomen, Geographen und Publizisten mitgeteilt haben, unter einem einzigen großen Gesichtspunkt, dem seiner Bedeutung für das russische Staatswesen, aufzufassen. Wenn das Werk zu einer Grundlage würde, auf der aufgebaut werden kann, wenn Gelehrte aller Zweige, Techniker und Kaufleute hieraus sehen würden, welch ein reiches Feld Russland für die Betätigung des freien Spiels der Kräfte auf allen Gebieten darstellt, so würde dies eine genügende Belohnung für den Verfasser bedeuten.

Ich rechne es mir zum Glück an, dass ich einen der Männer, die den englischen Meister Wallace bei seinen russischen Studien unterstützt haben, kennen gelernt habe. Es war dies Alexander Gontscharow, der Neffe des bekannten russischen Schriftstellers, der bis zu seinem kürzlich erfolgten Tode meinen Studien die Richtung gegeben hat. Diesem russischen Liberalen und wahrhaften Patrioten, wie vielen anderen Russen aller Stände und Parteien, die mir mit Rat und Tat auf meinen Reisen beigestanden haben, bin ich zu vielem Dank verpflichtet.

Besonderer Dank gebührt der Familie Bakunin, in deren gastlichem Hause in Priamuchino ich zuerst die Vertreter wahrer russischer Intelligenz kennen lernte. Graf Elias Tolstoi in Kaluga hat mir Gelegenheit gegeben, ein Dorf und ein Herrenhaus im Winter zu besuchen. In der Familie des Petersburger Kaufmanns Iwan Schukow fand ich stets vielseitige Anregung. Reiche Belehrung verdanke ich dem ausgezeichneten Juristen, Mitglied des Reichsrats, N. Taganzew. Der Ministeradjunkt A. Makarow hat es mir ermöglicht, die letzte diesjährige Reise ohne Schwierigkeiten durchzuführen.

Auch dem Botschaftsrat Dr. von Miquel in St. Petersburg bin ich für freundliche Förderung bei meinen Studien zu Dank verpflichtet.

Breslau im Dezember 1907.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert