Siebte Fortsetzung

Bis dahin hatten die russischen Revolutionäre Ziele und Mittel unterschieden. Mit Sergius Netschajew, dem Sohne eines Geistlichen oder Malers, wurde es anders. Dieser schweigsame und unscheinbare Lehrer an einer Volksschule, der zugleich Vorlesungen an der Petersburger Universität besuchte, tauchte Ende 1868 in einem studentischen Zirkel auf, wo man verschiedene verbotene Bücher und Zeitungen las. Er verkehrte besonders mit Studenten von der medizinischen Akademie. Zunächst fingierte Netschajew, um sich unter den jungen Leuten ein Gewicht zu verschaffen, da er sich weder durch Geist oder Wissen auszeichnete, dass er verhaftet worden sei. Er erzählte, dass er in der Petersburger Festung gefangen gesetzt und von dort geflohen sei. Im März 1869 fuhr Netschajew nach der Schweiz, um mit den russischen Emigranten in Verbindung, zu treten. Es gelang ihm Bakunin zu überzeugen, dass in Russland schon alles zu einem Aufstand bereit sei, und er erhielt von Herzen etwa 10.000 Mark aus einem Fond, der von irgendeinem Russen für revolutionäre Ziele gespendet war. Bei seiner Rückkehr wies er einen Schein vor, folgenden Inhalts: „Der Vorzeiger dieses ist bevollmächtigter Vertreter des russischen Abteils des Allgemeinen Revolutionsbundes.“ Der Schein trug das Datum des 12. Mai 1869 und die Unterschrift Michael Bakunin. Es steht aber nicht fest, ob dieses Schriftstück wie der Stempel echt war. Mit diesem Stempel allein gelang es Netschajew, eine ganze Gesellschaft junger Leute an sich zu fesseln. Der Plan der Organisation wurde von Netschajew in einem „Katechismus eines Revolutionärs“ festgelegt. Dieser Plan ist eine der abscheulichsten Tatsachen der russischen Geschichte. Die Organisation bestand aus Zirkeln erster Stufe und noch niedereren Zirkeln. Wenn mehrere Zirkel entstanden sind, dann wird ein Zentralzirkel gebildet, dem die Vorsitzenden der einzelnen Zirkel der ersten Stufe angehören. Wenn viele solcher zentraler Zirkel entstehen, dann wird ein besonderer Kreis aus den Vorsitzenden der zentralen Zirkel gebildet. Die ganze Organisation bildet eine besondere Einheit und trägt den Namen einer Abteilung. Jede Abteilung erhält eine besondere Nummer. Die Petersburger hatte die Nummer neun, die Moskauer drei. In der ganzen Organisation bestand nur ein Prinzip. Alles war begründet auf persönlichem Vertrauen zu dem, der der Vertreter der höheren Einheit war; ihm musste voller Gehorsam geleistet werden. Eine weitere Instanz, die über den Abteilungen stand, sollte ein Komitee bilden und dieses der Russischen Abteilung der Internationalen Revolutionären Gesellschaft Gehorsam leisten. Tatsächlich bestanden die höheren Instanzen gar nicht und Netschajew war in eigener Person das Komitee und die Russische Abteilung der die ganze Welt umspannenden Revolutionsgesellschaft. Netschajew organisierte nun Zirkel verschiedener Ordnungen und forderte von ihnen unbedingten Gehorsam. Die Mitglieder der verschiedenen Zirkel sollten einander nicht kennen. Wer in den Zirkel eintrat, hatte nicht das Recht, zu fragen oder seine Meinung zu äußern, er sollte unbedingt und ohne Widerrede alles erfüllen, was das Komitee von ihm fordere. Ferner sollten in der Organisation, die Mitglieder der Gesellschaft in Klassen eingeteilt werden, die ungleichmäßig in die Ziele und die Tätigkeit der Gesellschaft eingeweiht waren. Die Mitglieder der Zirkel erster Ordnung wurden nur zum Teil in die Geheimnisse eingeweiht, die Mitglieder der zentralen Zirkel wussten schon etwas mehr, die Mitglieder der Abteilungen noch mehr; über alle herrschte aber das Komitee, das heißt, Netschajew selbst. In dem „Katechismus“ sind Gedanken ausgesprochen, die Grausamkeit mit niedrigstem Zynismus vereinigen. Er lehrte darin folgendes: Jeder Genosse müsse zu seiner Verfügung einige Revolutionäre zweiten und dritten Grades? haben. Auf sie muss er blicken, wie auf einen Teil eines revolutionären Kapitals, das ihm zur Verfügung gestellt ist. Bei ihrer Benutzung ist er frei von: allen moralischen Forderungen und muss ihr Vermögen und ihr Leben nur soweit achten, soweit dies der Nutzen der Sache verlangt. Ein Revolutionär muss an die Revolution glauben, um ihretwillen darf ihm nichts zu teuer sein, weder verwandtschaftliche, freundschaftliche oder Liebesbande dürfen seine Hand zurückhalten. Das Ziel der Revolution sei die Vernichtung des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes. Die ganze gemeine Gesellschaft muss in einige Kategorien eingeteilt werden. Die erste Kategorie ist die der unverzüglich zum Tode Verurteilten. Die Vereinigung soll eine Liste solcher Verurteilter zusammenstellen entsprechend ihrer Schädlichkeit für den Erfolg der revolutionären Sache und zwar so, dass die voranstehenden Nummern zuerst weggeschafft werden. Bei der Zusammenstellung dieser Listen und bei der Aufstellung der genannten Ordnung darf man sich nicht durch die persönlichen Untaten des Menschen leiten lassen und auch nicht durch die Feindschaft, die er in der Vereinigung oder dem Volke erregt. Diese Untaten und diese Feindschaft können, sogar zum Teil nützlich sein, da sie zur Erregung eines Volksaufstandes beitragen. Leitend muss vielmehr das Maß von Nutzen sein, der aus seinem Tode für die Sache der Revolution entstehe. Daher müssen zunächst die Menschen vernichtet werden, die besonders schädlich für die revolutionäre Organisation sind, und deren plötzlicher und gewaltsamer Tod die größte Angst bei der Regierung veranlasst und sie verständiger und energischer Männer beraubt und ihre Kraft vermindert.

Die zweite Kategorie besteht aus solchen Menschen, denen man nur zeitlich das Leben schenkt, damit sie durch eine Reihe tierischer Handlungen das Volk zu einem sicheren Aufstand bringe.


Zur dritten Kategorie gehört die Menge hochgestellter Persönlichkeiten, die sich weder durch besonderen Verstand noch Energie auszeichnen, aber durch ihren Reichtum Verbindungen, Ansehen und Macht haben. Sie muss man durch alle Manöver zu verwirren suchen und, indem man in ihre schmutzigen Geheimnisse eindringt, sie zu Sklaven machen. Ihre Macht und Ansehen, ihr Reichtum werden eine sichere Hilfe für verschiedene Unternehmen sein.

Die vierte Kategorie besteht aus Ehrgeizigen und Liberalen verschiedener Schattierungen. Mit ihnen kann man nach ihren Programmen konspirieren, indem man sich den Anschein gibt, als ob man ihnen folge, und währenddessen muss man sie in die Hände bekommen, alle ihre Geheimnisse sich zu eigen machen, sie bis zur Unmöglichkeit kompromittieren, damit die Rückkehr verschlossen sei, und mit ihren Händen den Staat in Verwirrung bringen.

Die fünfte Kategorie sind Doktrinäre, Verschwörer und Revolutionäre. Alle die Nichtstuer in den Zirkeln und in der Theorie muss man unaufhörlich in praktische, halsbrecherische Kundgebungen hineinziehen, deren Folge der Untergang der Mehrzahl und eine tatsächliche revolutionäre Auslese von wenigen sein wird.

Eine sechste, wichtige Kategorie sind die Frauen, die man in drei Hauptgruppen einzuteilen hat. Die einen sind hohl, seelenlos und unvernünftig, sie kann man benutzen wie die Männer der dritten und vierten Kategorie. Die zweiten sind ergeben, mutig, fähig, aber sie gehören uns nicht an, weil sie sich noch nicht bis zum gehörigen, leidenschaftslosen und faktischen revolutionären Verständnis durchgearbeitet haben. Sie muss man benutzen, wie die Männer der fünften Kategorie. Endlich gibt es Frauen, die ganz die unseren sind, das heißt, eingeweiht sind und unser Programm voll und ganz angenommen haben. Wir müssen auf sie als auf unsere kostbarsten Schätze blicken, ohne deren Hilfe uns unmöglich ist, auszukommen.

Netschajew hatte keine bestimmte Vorstellung von der Staatsordnung, die er einrichten wollte. Er lehrte, dass die Gesellschaft dem Volke keine Organisation von oben her aufdrängen wolle. Durch die Volksbewegung und das Leben selbst werde sich die künftige Organisation selbst bilden. Die Revolution müsste sich vor allem mit den Elementen vereinigen, die in früheren Zeiten nicht in Worten, sondern durch die Tat gegen alles, was mit dem Staat direkt oder indirekt verbunden ist, protestiert haben, gegen den Adel, gegen Beamtentum, gegen die Geistlichen, gegen die Gilden der Kaufleute und gegen die Dorfwucherer. Das Ziel sei, sich mit dem Räubervolk zu vereinigen, dem einzigen wahren Revolutionär, und diese Welt in eine unbesiegbare, alles zermalmende Kraft zu vereinigen. Ein Mitglied der Netschajeworganisation begann an der Existenz des Komitees zu zweifeln und sprach sich auch mehrmals darüber aus. Mit mehreren Helfern lockte Netschajew den Zweifler in einen entlegenen Park von Moskau und ermordete ihn. Der Mord führte zur Entdeckung der Organisation. 78 Personen wurden gefangen gesetzt und die Teilnehmer an dem Morde mit Zuchthaus bestraft. Netschajew war entflohen. Er erhielt von Ogarew den Rest des Revolutionsfonds und lebte von ihm. Bakunin ließ sich bereden, mit ihm zusammen einige Broschüren zu verfassen, brach aber im Juni 1871 jede Verbindung mit ihm ab. In Zürich wurde Netschajew im Jahre 1872 verhaftet, und da die Schweizer Regierung den von ihm verübten Mord nicht als politisch ansah, an Russland ausgeliefert. Netschajew wurde vor die Geschworenen gestellt und zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Jahre 1883 starb Netschajew an der Schwindsucht.

Die russischen Revolutionäre dieser Zeit waren eine Klasse von Menschen, die man in dieser Zusammensetzung außerhalb Russlands nirgends trifft. Sie zeigen alle Eigentümlichkeiten des russischen Volkscharakters, und ihre Bestrebungen sind nur auf der Grundlage der eigenartigen russischen Verhältnisse zu verstehen.

Die Revolutionäre waren junge Leute beiderlei Geschlechts, zum größeren Teile unter 25 Jahren und daher ohne jede Lebenserfahrung. Nur vereinzelt fand sich unter ihnen jemand, der eine gründliche Bildung erhalten hat; alle zeigten aber einen auffallenden Mangel an geschichtlichem Sinn. Sie stammten aus sämtlichen Klassen der Bevölkerung; die Aristokratie stellte ihre Vertreter ebenso wie die Beamtenschaft, wir finden hier Söhne und Töchter von Kleinbürgern neben Kindern von Kammerherren und Generalen. So entstammt Fürst Peter Krapotkin dem russischen Uradel. Seine Vorfahren waren Großfürsten von Smolensk, sein Vater herrschte über ein Heer von Leibeigenen. Er selbst wurde Leibpage des Kaisers Alexander II., womit er die höchste Stufe erklomm, die irgendein junger Mann in Russland erträumen kann, und er wurde doch zum Revolutionär. Wie dies geschah, ist in seinen Memoiren höchst interessant zu verfolgen. Sein französischer Hauslehrer begeisterte den Knaben für die Ideen der französischen Revolution und lehrte ihn zunächst die Vorrechte des Adels verachten. Seine Worte machten auf das empfängliche Gemüt des zwölfjährigen Knaben einen solchen Eindruck, dass dieser fortan niemals mehr — auch nicht als kaiserlicher Leibpage und Kosakenoffizier — seinem Namen den Fürstentitel vorsetzte. Weiter wirkten ein idealistisch veranlagter deutscher Lehrer, der mit besonderer Begeisterung Schillersche Gedichte vortrug, und ein junger russischer Student auf den Knaben in demokratischer Richtung ein. In dem Hause eines Onkels, der sich lediglich durch seine großartigen Gastmahle in St Petersburg einen Ruf erworben hatte, in dessen Salons sich Gardeoffiziere und junge Diplomaten drängten, lernte er durch seine Kusine die damalige revolutionäre Literatur kennen. Das junge Mädchen hatte nämlich einen anderen Vetter lieb gewonnen; da aber nach russischem Rechte die Ehe zwischen Geschwisterkindern verboten ist, standen einer ehelichen Verbindung, weil die Kirche den Dispens verweigerte, unüberwindliche Hindernisse entgegen. So war die junge Fürstin zur Gegnerin der bestehenden Staatsordnung geworden, die ihr die Erfüllung ihres Herzenswunsches unmöglich machte. Hier sehen wir schon, dass in Russland nicht etwa nur Armut, Unwissenheit, Habsucht und Ehrgeiz einen Menschen der Revolution zutreiben. Nachdem Krapotkin, seiner Neigung folgend, aber gegen den Willen seines Vaters, die Offizierslaufbahn mit dem Studium der Naturwissenschaften vertauscht hatte, kam er bald in den Kreis der Leute, die man damals „Nihilisten" nannte. Sie bezeichnet keineswegs die politische Richtung, noch weniger hat der Nihilismus mit irgendwelchen Gewalttaten oder Bomben zu tun. Es ist eine eigenartige Weltanschauung, die sich in den siebziger Jahren in Russland Bahn brach und gewissen Kreisen der russischen gebildeten Klassen bis heute ihr eigenes Gepräge gibt. Nihilismus ist das Rütteln an allem, was Autorität heißt, und ihr teilweises Verneinen. Der Nihilist bekämpft vor allem die sogenannten konventionellen Lügen; er ist stets aufrichtig, er lächelt niemals jemand zu, den er nicht leiden mag, und verachtet jede Höflichkeitsform, die des Inhalts entbehrt. Er erkennt eine Kunst um der Kunst willen nicht an und erklärt, dass die Gelehrten, die für den Fortschritt der Menschheit zu arbeiten vorgeben, selbstsüchtige Heuchler seien, weil sie sich von den Menschen, deren Fortschritt sie angeblich wollen, stolz fern halten. Er selber will nun für den Fortschritt der Menschheit arbeiten. In den siebziger Jahren beschloss eine Anzahl solcher „Nihilisten“ die Bauern lesen zu lehren und ihnen ärztliche Hilfe angedeihen zu lassen. Der Gedankengang der jungen Leute war folgender: „Wir besitzen schon eine Anzahl Kenntnisse. Diese Kenntnisse fehlen aber den Bauern. Sie bedürfen des Wissens, sie haben aber keine Gelegenheit, es zu erwerben. Daher ist es die Ehrenpflicht eines jeden, im Dienste der Bauern tätig zu werden."

Mehrere tausend junge Leute gingen nun „ins Volk", d. h. sie ließen sich unter den Bauern als Ärzte, Heilgehilfen, Lehrer, Dorfschreiber, aber auch als Schmiede, Holzfäller und Landarbeiter nieder. Die letztgenannten wollten auf diese Weise das Volk, das den Gebildeten entfremdet war, kennen lernen. Die jungen Mädchen bildeten sich als Lehrerinnen und Krankenpflegerinnen aus und gingen ebenso in die Dörfer. Erst nach einiger Zeit wurde diese Bewegung zu einer politischen, als ihr nämlich die Regierung Hindernisse in den Weg legte. Durch den Verkehr mit dem Volke wurden die jungen Leute mit der bereits geschilderten Auffassung der Bauern über das Eigentum an Grund und Boden bekannt und bauten darauf ihre Pläne auf. Der ehemalige Student der Kiewer Universität Debogory-Mokriewitsch, der damals mit einigen Gesinnungsgenossen als Färber durch die Dörfer zog, erzählt hierüber in seinen „Erinnerungen" folgendes: „Wir wollten die Landaufteilung, das Ideal des russischen Bauern, auf unsere Fahne schreiben und uns dabei des Namens des Zaren und untergeschobener kaiserlicher Manifeste bedienen. So, meinten wir, würde sich eine Reihe von einzelnen Aufständen hervorrufen lassen, und diese würden zu einer Revolution führen, die sich dann auch gegen das Zarentum wenden würde.“ Durch Bibelsprüche und durch angebliche „Goldene Bullen“ bewiesen die Agitatoren den Bauern, dass sie sich gegen die Beamten und Gutsbesitzer empören müssten, und die Bauern empörten sich auch. Sie glaubten dem Willen Gottes und des Zaren zu folgen. Als die Regierung einschritt und die falschen Zarenboten festzunehmen begann, da zeigte es sich, dass die dreitausend Agitatoren nicht einmal drei Dutzend Bauern für sich gewonnen hatten. Denn dieselben Bauern, die sich eben empört hatten, warfen, wenn sie merkten, dass sie betrogen worden waren, die Agitatoren ins Feuer oder lieferten sie der Polizei aus. Erst nachdem Tausende dieser jungen Weltverbesserer verhaftet und nach Sibirien verschickt worden waren, erfolgten zunächst Mordversuche auf Beamte, von denen es hieß, dass sie Grausamkeiten begangen hätten, und dann wurden diese Attentate zu einem Kampfmittel eines kleinen Häufleins dieser Revolutionäre — nicht aller — gegen die mächtige russische Regierung. Als der Zar aus Furcht vor einem Anschlage gegen sein Leben seinerseits energische Unterdrückungsmaßregeln anordnete, wandte sich die „Kampforganisation“ gegen ihn, und so erklärt es sich, dass der Herrscher, der die Bauernbefreiung durchgesetzt, die Justiz reformiert und die Selbstverwaltung eingeführt hatte, von der Bombe ereilt wurde. Etwa ein Dutzend jugendlicher Fanatiker hat dies unselige Werk vollbracht, und die Leiterin des Unternehmens war ein durch große Sanftmut und Sittenstrenge ausgezeichnetes Mädchen, die Tochter des ehemaligen Militärgouverneurs von St. Petersburg und die Nichte eines Ministers.

Zu den revolutionären Verbindungen hat das weibliche Geschlecht ein erschreckend großes Kontingent geliefert. An Mut und Opferbereitschaft haben die weiblichen Verschwörer ihre männlichen Kameraden vielfach übertroffen. Bei den Straßenkrawallen marschierten Studentinnen voran. Wera Sassulitsch schoss auf den General Trepow. Wenn es galt, einen „Verräter“ zu bestrafen, so führten es hauptsächlich Mädchen aus.

Viele Hunderte zählten diese weiblichen Hochverräter und Mitglieder geheimer Gesellschaften. Den Töchtern hochgestellter Beamten waren die Töchter von Geistlichen gefolgt, welche die Reihen der Revolutionäre füllten. Nicht aus Rohheit und Unbildung der Geistlichen ist das zu erklären, sondern daraus, dass sie dem Volke am nächsten stehen. Wir müssen nicht vergessen, dass auch bei uns viele soziale Pastoren zu Sozialisten geworden sind, und der große nordische Menschenkenner Bjömson lässt den Anarchisten in „Über unsere Kraft“ den Sohn eines gläubigen Geistlichen sein.

Trotz des Attentates von Karakasow und trotzdem im Juni 1867 ein Pole auf ihn anlegte, ließ Alexander sich von der Idee der Reformen nicht abbringen. Er dachte ernstlich an die Verleihung einer Verfassung. Durch neue Veröffentlichungen ist dies unwiderleglich dargetan. Da machte eine Bombe dem Leben dieses Zaren, dessen leitender Gedanke stets Recht, Licht und Freiheit gewesen war, ein furchtbares Ende.

Alexander II. hatte einen von Loris-Melikow aufgezeichneten Verfassungsentwurf gebilligt, aber noch nicht unterschrieben. Die Verfassung sollte am 5. März bekannt gegeben werden. Am 1. März aber erfolgte die Katastrophe. Alexander III., der von der Absicht seines Vaters wusste, war unschlüssig. Die Terroristen ließen ihm ein Schreiben zugehen, worin sie ihm ein gleiches Ende androhten, wie seinem Vater, wenn er nicht eine Verfassung gebe. Wie es kam, dass diese Verfassung nicht zustande kam, ist uns jetzt, nachdem Konstantin Pobjedonoszew am 10. März 1907 gestorben ist, aus seinen kürzlich veröffentlichten Briefen bekannt. Ich möchte einige Stellen aus ihnen hier mitteilen, aus denen die Leser vielleicht ersehen, wie schwer den russischen Herrschern es gemacht wurde, ihrem Lande eine Verfassung zu gewähren.

Zwei Tage nach dem Tode des Zarenbefreiers schreibt Pobjedonoszew:

„Mein Gott, wie er mir leid tut, der neue Kaiser! Wie ein armes, krankes, fassungsloses Kind. Ich fürchte, er wird keinen Willen haben. Wer wird ihn leiten? Wohl immer noch der Taschenspieler Melikow. Am ersten Abend umarmte Alexander Alexandrowitsch mich unter Tränen und sagte: „Ich bin überzeugt, dass Sie mir treu und redlich dienen werden, wie Sie es früher getan haben.“ Ich hatte keine andere Äußerung von ihm erwartet, aber um seiner selbst willen hätte ich gern ein anderes Wort von ihm gehört, ein lebendiges Wort: Was soll ich beginnen? Was soll ich tun?

Ich schrieb ihm heute, dass er möglichst rasch seinen eigenen festen Willen äußern müsse, dass er an seine persönliche Sicherheit denken müsse. Er schreibt mir als Antwort einfache Worte, aus denen ein schlichtes und gutes Herz spricht: „Von ganzem Herzen danke ich Ihnen für Ihren teilnahmsvollen Brief. Ich bete und hoffe auf Gott allein. Er wird Uns und Unser teures Russland nicht verlassen.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert