Achte Fortsetzung

Gestern fand die Eidesleistung für den neuen Kaiser statt. Beide Majestäten erschienen und als sie den Saal betraten, waren ihre Gesichter durch Weinen entstellt. Sie glichen Kindern, die einen Kummer erlebt haben, aber nicht neu aufgehenden Sternen. Ich kann meine Angst nicht los werden. Dem neuen Kaiser droht überall Gefahr. Schütze ihn, o Herr! Schütze, Herr, dein ewig verwaistes Kind, das unglückliche Russland! O ! welch eine verfluchte Stadt ist es, in der ich lebe, und welch ein Abgrund ist zwischen ihr und Russland, dessen Geschicke sie leitet. Heute übermannte mich die Ungeduld und ich habe dem Kaiser einen langen Brief geschrieben. Mein Plan ist, Petersburg in Kriegszustand zu versetzen, einen Personenwechsel vorzunehmen und dann Petersburg zu verlassen, bis es gesäubert ist, und nach Moskau zu reisen. Mein Gewissen lässt es nicht zu, dass ich schweige.“

Einige Tage darauf schreibt Pobjedonoszew: „Für ihn handelt es sich augenblicklich um Sein oder Nichtsein. Ich muss an Hamlet denken, der auch den Tod seines Vaters zu rächen hatte. Vorigen Sonntag, am 8., war ein heißer Tag, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde.


Ich erinnere mich nicht, ob ich Ihnen schon von der Absicht Loris-Melikows & Comp. geschrieben habe, Russland mit einer Konstitution zu beglücken oder mit dem Anfang einer solchen durch Einberufung von Abgeordneten aus ganz Russland. Seine Ratgeber waren Professoren und Journalisten. Mich hatte er nicht gefragt, denn er kannte meine Meinung im voraus. Es hatten schon Sitzungen stattgefunden, eine beim Kaiser und zwei beim Kronprinzen. Alle (!) stimmten diesmal darin überein, dass es ein unschuldiges Werk und eine Wohltat für Russland sei, die ganz Russland erwarte. Der Kronprinz hatte bereits am 17. Februar ihm befohlen, mir den Entwurf mitzuteilen, und Loris-Melikow hatte mir das gesagt, aber den Entwurf nicht geschickt. Alles war schon vorbereitet Am 2. März sollte beim Kaiser eine Sitzung des Ministerrats stattfinden, um einen endgültigen Beschluss zu fassen. Loris-Melikow aber hatte eine feierliche Bekanntmachung darüber verfasst, die im „Prawiteistwenny Westnik“ am 5. erscheinen sollte.

Und plötzlich diese Katastrophe!

Man hätte meinen sollen, dass die Leute vor Schrecken erstarren, alle Fieberphantasien vergessen und allein an die Wiederherstellung der Ordnung denken mussten. Ist es aber zu glauben, dass diese Herren gerade nun es unternahmen, ihr unsinniges Vorhaben zu Ende zu fuhren? Die Blätter begannen vom 2. März an anlässlich der Katastrophe eine Konstitution zu verlangen. Loris Melikow ließ sie bitten, nur noch 15 Tage zu schweigen.

Und nun wurden wir zu einem Ministerrat zu Sonntag zwei Uhr nachmittags zum Kaiser befohlen. Ich, der alte Stroganow, die Großfürsten waren geladen.

Der Kaiser erklärte, um was es sich handle, fügte hinzu, dass die Angelegenheit vom Verstorbenen noch nicht entschieden worden sei, dass sie Bedenken errege und dass er alle bitte, ganz offen zu sprechen. Loris-Melikow verlas das Protokoll und einen bereits im Namen des neuen Kaisers verfassten Entwurf der Bekanntmachung, worin gesagt war, er halte es für seine heilige Pflicht, das Vermächtnis seines Vaters zu erfüllen.

Und denken Sie sich, dass sie die Schamlosigkeit hatten, in dieser Bekanntmachung jetzt alle jene Motive beizubehalten, die die frühere enthalten hatte; dass überall die Ruhe wiederhergestellt, der Aufruhr unterdrückt, den Verbannten die Rückkehr gestattet sei usw.

Ich habe keine Zeit, alles genau zu schildern. Als erster sprach sich Stroganow dagegen aus, kurz, aber energisch. Dann hielten Walujew,*) Abasa,**) Miljutin**) schwülstige, widerwärtige Reden darüber, dass ganz Russland auf diese Wohltat warte. Als man sich aber an mich wandte, konnte ich meine Erregung und meine Entrüstung nicht länger zurückhalten. Nachdem ich dargelegt hatte, welch ein Blendwerk diese Institution ist, sagte ich, dass man vor Scham erröten müsse, wenn man daran denke, in welchem Augenblick wir darüber debattierten, wo die Leiche unseres Kaisers noch unbegraben daliege. Und wer sei daran schuld? Sein Blut komme über uns und unsere Kinder. Wir alle seien an seinem Tode schuld. Was hätten wir diese ganze Zeit aber und während seiner Regierung getan? Wir hätten geredet, geredet, und jede seiner Institutionen habe sich unter unseren Händen in eine Lüge verwandelt, auch die von ihm geschenkte Freiheit, das höchste Gut, sei zur Lüge geworden. Und in den letzten Jahren, in den Jahren der Explosionen und der Minen, was hätten wir da getan, um ihn zu schützen? Wir hätten geredet und weiter nichts. Wir hätten uns einzig und allein von der Furcht leiten lassen sollen, er könnte ermordet werden. Wir ließen uns aber von gemeiner, elender Furcht erfassen und begannen vor der öffentlichen Meinung zu zittern, das heißt vor der Meinung verächtlicher Journalisten: Was wird Europa sagen? Und auch Europa haben wir nur aus den Blättern gekannt.

*) Graf Walujew, der damalige Präsident des Ministerkomitees.
**) Der Finanzminister.
***) Der Kriegsminister.

Sie können sich vorstellen, dass meine Worte wie ein Blitz in die Versammlung fuhren. Meine Nachbarn, Abasa und Loris Melikow konnten ihre Wut über mich kaum unterdrücken. Abasa erwiderte sehr scharf und dumm): daraus, was der Oberprokureur des Synods gesagt habe, folge, dass alles, was unter der früheren Regierung geschaffen worden sei, nichts tauge, sowohl die Bauernbefreiung wie das übrige, und dass ihnen danach nur übrig bleibe, um ihren Abschied zu bitten.

Der Kaiser, der mich vorher, als ich sagte: „Sein Blut komme über uns“, unterbrochen und: „Das ist wahr!“ gerufen hatte, unterstützte mich und sagte, dass allerdings alle schuld seien, und dass er von diesen allen auch sich selbst nicht ausnehme.

Es wurde noch geredet. Auch die Großfürsten hielten schwache, jämmerliche Reden und vertraten die traurige Ansicht, dass man doch etwas tun müsse, das heißt mit diesem „etwas“ meinten sie die Institution!

Der Kaiser sagte schließlich, die Sache sei zu verwickelt und wichtig, um sie jetzt zu entscheiden: sie müsse erst von einer besonderen Kommission sorgfältig geprüft werden und dann vom Ministerkomitee, jedenfalls aber dürfe die Institution keinen politischen Charakter haben."

So kam es, dass Russland noch ein weiteres Vierteljahrhundert als absoluter Staat regiert wurde.

Wie es damals in Petersburg zuging und wie die Stimmung bei Hofe war, ergibt sich aus einem weiteren Schreiben Pobjedonoszews: „Baranow, der neuernannte Stadthauptmann von Petersburg, war bei mir, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Seit seiner Ernennung hat er sich weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe gegönnt. „Morgen“, sagte er, „ist ein schrecklicher Tag. Gott helfe uns, ihn zu überstehen. Es wird ein Anschlag geplant auf den Zaren und den Prinzen von Preußen an vier Stellen zugleich in der Stadt. Stellen Sie sich die Lage des armen Kaisers vor, der heute unbedingt nach der Festung fahren musste, und dem bekannt war, dass ihn auf jedem Schritt der Tod erwartet.“ „Um mich bin ich nicht besorgt“, hat er Baranow gesagt, „aber ich ängstige mich nur um die Kaiserin und die Kinder.“ Vor dem Winterpalais wird auf Anordnung Baranows ein Graben gezogen. Dabei ist man auf 17 Drähte einer Mine gestoßen."

Pobjedonoszew war ein Mann von ungewöhnlichem Wissen und von einer seltenen Willenskraft. Die hier angeführten Briefstellen bestärken die Anschauung, dass er ein lauterer Charakter war, der lediglich seiner Oberzeugung gefolgt ist. Auch er wollte nur das Glück Russlands.

Alexanders Sohn stand auch weiter im Banne seines Lehrers, der seit 1880 Generalprokurator des Heiligen Synods war, aber dem ganzen Staatsleben seine Richtung gab.

Nach der von Alexander II. erlassenen Bauernordnung von 1861 wurde den einzelnen Dorfgemeinden zugleich mit der persönlichen Freiheit ein Landanteil gegen Zahlung einer Ablösungssumme als Eigentum überwiesen. Die Ablösung der Abgaben ging aber langsam von statten. Die Abgaben wurden zu 6 % kapitalisiert, und die Regierung zahlte den Grundbesitzern sofort vier Fünftel der ganzen Summe aus, das übrige Fünftel sollten die Bauern den Gutsbesitzern in Raten entrichten und der Regierung 49 Jahre lang 6 % für die vorgeschossene Summe zahlen. Im Jahre 1887 wurde die Ablösung für beide Teile obligatorisch gemacht, so dass von da an alle Gemeinden das Land als Eigentum besaßen. Die Schuld sollte im Jahre 1932 durch allmähliche Abzahlung getilgt sein. Es war dies ein gewaltiges Werk, das die Russen vollbracht haben. Die Leibeigenen wurden nicht bloß befreit, sie wurden zu Grundbesitzern gemacht. Die alten Gemeindeeinrichtungen wurden in neuer Weise weiter entwickelt.

Bis zur Tilgung dieser Ablösung sollte ein Verkauf oder eine Verpfändung dieser Ländereien unzulässig sein. Durch sein Gesetz wollte Alexander II. die Existenz der befreiten Bauern durch einen ausreichenden Landbesitz sicher stellen. Seine Absicht ist aber nicht folgerichtig durchgeführt worden, da den Bauern nur Ackerland, und zwar vielfach weit von ihren Höfen entfernte Grundstücke zugewiesen wurden. Da man ihnen aber nicht das notwendige Wiesen- und Weideland gab, und sie auch nicht mehr wie in den Zeiten der Leibeigenschaft das Holz den Beständen der Gutsherrschaft entnehmen konnten, so waren sie auf die benachbarten Gutsbesitzer angewiesen, die zum Teil für die Wiesen unverhältnismäßig hohe Pachtsummen verlangten oder sich für die Holzlieferung, da die Bauern kein bares Geld hatten, für den kommenden Frühling und Sommer Dienste ausbedangen, wobei sie teilweise die Notlage der Bauern in verwerflicher Weise ausnutzten. Durch die der Bauernordnung des Zaren-Befreiers folgende Gesetzgebung Alexanders III. wurde die Sonderstellung des Bauern scharf ausgeprägt. Die Geschlossenheit der Gemeindeverfassung fesselte den einzelnen und beraubte ihn der Unternehmungslust Der Austritt aus der Gemeinde war nur gegen Verzicht auf das Recht am Boden möglich und überdies durch viele Formalitäten erschwert. Das Gemeindeland war weder veräußerlich noch verpfändbar und die Bauern persönlich wechselunfähig. Das Sondergericht und vor allem eine besondere Verwaltung verleitete sie stets, auf die Regierung zu hoffen und ihr die Verantwortung aufzubürden.

Seit Alexander I. hat das Reich eine feste Thronfolgeordnung. Aber dem russischen Staatswesen fehlte die Kontinuität, welche gerade die starke Seite der Monarchie darstellt Jeder Zar war in seiner Politik das Gegenbild seines Vorgängers. Der Anhängerin des Westens, Katharina, folgte der Moskowiter Paul, dem liberalen Alexander I. der altrussische Nikolaus I., unter dem die Moskauer Doktrin offiziell als die Staatsauffassung anerkannt wurde. Auf den edlen, europäisch gebildeten Alexander II. folgte der streng moskauisch gesinnte Alexander III.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert