Einleitung

Das osteuropäische Tiefland, das ist die breite Ländermasse, die sich von der Ostsee und dem nördlichen Eismeer bis zum Schwarzen und Kaspischen Meere erstreckt, ist in Waldland und Steppe geteilt Das ganze nördliche und mittlere Russland umfasst die Waldregion, wo halbjähriger Winter mit starkem Frost herrscht. Allmählich geht das Waldland in die Steppe über, eine baumlose Ebene, wie die Prärie Nordamerikas. In der nördlichen Waldregion saß zur Zeit der Völkerwanderung der Stamm der Finnen, westlich und südlich von ihnen wohnten Slawen. Im Weichselland saßen die Polen, im Quellgebiet des Njemen und der Düna, des Pripet und des Dnjepr, der Wolga und der Oka wohnten andere slawische Stämme. Die Slawen sind ein indogermanisches Volk und nicht nur ihrer Abstammung, sondern auch ihrer Kultur nach den Litauern, den Germanen und Kelten nahe verwandt Zuerst machte sich auf sie ein nordeuropäischer Einfluss geltend. Die Bewohner der schwedischen Küste, die sogenannten Waräger, fuhren über die Ostsee in den in sie mündenden Flüssen hinauf und unterwarfen einen der ostslawischen Stämme. Rurik, den die russische Geschichte den Begründer des Russischen Staates nennt, trägt einen skandinavischen Namen. Der Mönch Nestor, der erste russische Chronist, stellt das Ereignis so dar, dass die Slawen Rurik gebeten hätten, zu ihnen als Herrscher zu kommen.

Nestors Chronik schildert die Gründung des Russenreiches folgendermaßen: Im Jahre 862 standen die Slawen, Tschuden, Kriwitschen und Meren gegen die Waräger auf, jagten sie über das Meer und entrichteten ihnen weiter keinen Tribut Nun fingen sie an^ sich selbst zu regieren und befestigte Plätze anzulegen, aber es war kein Recht unter ihnen, ein Geschlecht stand gegen das andere auf, Zank und Uneinigkeit war unter ihnen, sie fingen sogar an, einander zu bekriegen. Da versammelten sie sich, besprachen sich untereinander und sagten: Lasst uns für uns einen Fürsten suchen, der uns regiert, Ordnung hält und uns gerecht richtet. Sie gingen über das Meer zu den Russen-Warägern, denn diese Waräger hießen Russen, wie andere Schweden, Normänner, Engländer und Goten hießen. Diesen Warägern sagten die Tschuden, die Slawen und die Kriwitschen:


„Unser Land ist groß und reich, aber es ist keine Ordnung in ihm, kommet zu uns, unsere Fürsten zu sein und über uns zu herrschen.“ Durch Missionare wurde das Christentum in das Land des Slawenvolkes, welches den Namen Russen annahm, hineingetragen. Die Glaubenskünder kamen aber nicht wie im Westen von Rom, sondern von Byzanz.

Als die russischen Stämme zu Beginn der geschichtlichen Zeit sich ausbreiteten und von Byzanz das Christentum annahmen, erhielten ihre Fürsten Prinzessinnen der Kaiserlichen Familie zu Frauen. Nachdem Wladimir, der Herrscher von Kiew, mit seinen Untertanen das Christentum angenommen hatte, unterstand Russland in kirchlicher Hinsicht dem Patriarchen von Konstantinopel. Das Volk betrachtete Konstantinopel als das Haupt des Russentums, und als die Kaiserstadt in die Gewalt der Türken geriet, wurde der Moskauer Großfürst der natürliche Beschützer der griechisch-orthodoxen Kirche. Iwan III. heiratete eine Nichte des letzten byzantinischen Kaisers. Als die Moskauer Großfürsten den Titel Zar annahmen, wurden sie gewissermaßen Nachfolger der byzantinischen Zaren. Das russische Volk nennt Konstantinopel bis heut noch Zargrad, das ist Zarenstadt Der Glaube, dass die Zaren in Zargrad herrschen, und die Sophienkirche wieder den Orthodoxen zurückgegeben werden müsste, fasst seit jener Zeit Wurzel in dem Gemüte des russischen Volkes.

Nachdem die Russen durch Skandinavier die erste staatliche Ordnung und von Byzanz das Christentum empfangen hatten, begann die erste große Periode der Ausdehnung. Die Russen rückten allmählich in der Waldregion bis zur mittleren Wolga und bis zum Eismeer vor. Dabei wurden die finnischen Völker allmählich aufgesogen bis auf die Finnen an der mittleren Wolga, die Tscheremissen und Mordwinen. So entstand der Hauptzweig des heutigen russischen Volkes, die Großrussen, durch Vermischung von Slawen und Finnen.

Die Slawenstämme, die zunächst am Oberlauf des Dnjestr, an den beiden Bugs und an dem Pripet saßen, wurden durch die Polen nach Südosten gedrängt. Da aber von dort her türkische Völker sie bedrohten, so blieben sie nördlich der Steppe sitzen. Sie wurden zu Stammvätern der heutigen Kleinrussen. Aus den Stammen, die auf ihren ursprünglichen Sitzen blieben, sind die Weißrussen entstanden.

Im Anfange der russischen Geschichte sehen wir nicht einen einheitlichen Russischen Staat vor uns, sondern eine ganze Reihe von Staatswesen, die an Umfang gering waren, und deren Grenzen häufig wechselten. Der eine Staat wurde auf Kosten des anderen vermehrt und zerfiel dann in einige kleine Fürstentümer. Jedes dieser Staatswesen hatte als politisches Zentrum eine Stadt, nach der es sich nannte. Im Norden waren Nowgorod am Ilmensee, im Süden die Stadt Kiew zunächst bekannt. Die Bevölkerung dieser ältesten Fürstentümer zerfiel in Freie und Sklaven. Unter den Freien gab es Bojaren oder „Beste Leute" und „Schwarze Leute". Die Sklaven bestanden hauptsächlich aus Kriegsgefangenen und deren Nachkommen. Die Staatsgewalt setzte sich aus dem Fürsten, der Fürsten-Duma und der Wjetsche zusammen. Die Wjetsche war die Volksversammlung aller freien Männer des Landes ; sie beriet über Krieg und Frieden, wählte die Fürsten und übte die richterliche Gewalt Die Fürsten-Duma war ein beständiger Beirat des Fürsten, der von Bojaren gewählt wurde. So blieb es bis zum 13. Jahrhundert, wo asiatische Volksmassen nach Osteuropa hereinbrachen, die auch die Waldregion von Mittelrussland unterwarfen. Die Tataren sind das letzte große Wandervolk gewesen, welches dieses Gebiet erreicht hat. Man bezeichnet sie in der Geschichte als Mongolen, in Wahrheit aber waren nur ihre Führer Mongolen, während den Kern des Volkes Türkenstämme bildeten. Nach der Eroberung von Russland nahmen sie den mohammedanischen Glauben an; mit den Russen vermischten sie sich nicht; sie tasteten auch die christliche Religion nicht an. Sie nahmen das Land auch nicht in Besitz, sondern begnügten sich mit einer Tributzahlung. Aber die staatlichen Verhältnisse erhielten durch den tatarischen Einfluss ihr Gepräge. In der früheren Periode hatte die ländliche Bevölkerung wohl eine völlige Freiheit. Unter dem Druck des tatarischen Joches musste die Regierung eine gewisse Gruppierung der Bevölkerung zu Steuerzwecken vollziehen. Die Bauern wurden also irgendwo eingeschrieben und schon in gewisser Beziehung an das Land gefesselt.

Es kam nun unter den slawischen Staaten das Fürstentum Moskau in die Höhe, dessen Oberhaupt die Zwingherrschaft der Tataren brach. Nachdem dieses Ende des 15. Jahrhunderts geschehen war, nahm der Großfürst von Moskau den Titel eines Selbstherrschers an. Nun folgt eine Zeit großartigen Wachstums der russischen Macht. Die Teilfürstentümer und die freien Republiken wurden aufgesogen und die beiden Tatarenreiche Kasan und Astrachan erobert. In dieser sogenannten „Moskauer“ Periode dienten die Hofleute oder Adligen am Hofe. Der Adel war also nur ein Gefolgs- und ein Dienstadel. Er besaß keinen Grund und Boden, sondern musste dem Zaren dienen und dieser ihn dafür erhalten. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gab es am Hofe so viel Dienstleute, dass man für sie keinen Platz mehr fand. Ein Teil von ihnen waren die früheren Bojaren und auch die Abkömmlinge Ruriks und des Litauerfürsten Gedimin. Ein Teil war aber auch bäuerischer Abkunft. Dieser neue Dienstadel wurde nun über das Land verteilt und mit Besitzungen versehen. Den Bauern, die auf dem Land saßen, wurde die Verpflichtung auferlegt, die Steuer, die sie früher dem Zaren gezahlt hatten, an die Hofleute zu zahlen. Diese neue Verpflichtung wurde von den Bauern als ein Dienst gegenüber dem Zaren oder, was damals ja dasselbe war, dem Staate angesehen. Erst im Beginn des 17. Jahrhunderts wurden die Bauern verpflichtet, in der Gemeinde, in der sie wohnten, ewig auf der Scholle zu sitzen, und die Gutsbesitzer bekamen das Recht, die Bauern, die sich entfernt hatten, zurückzuholen. In dieser Periode trat an die Stelle der Wjetschen eine Landesversammlung, der Semski Ssobor. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts hat diese Landesversammlung, die wir uns wie die alten deutschen Reichstage vorzustellen haben, gewirkt. Auf einer solchen Landesversammlung, auf der Adel, Städte und Bauern Stimme hatten, wurde der erste Romanow zum Herrscher gewählt Diese Landesversammlungen wurden immer aus besonderen Veranlassungen berufen und nach Erledigung des Zweckes der Berufung wieder entlassen. Sie traten dem Herrscher bittend und ratend gegenüber. Natürlich wurde der Herrscher durch sie in der Freiheit seiner Entschließung nicht beeinträchtigt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland im XX. Jahrhundert