Siebente Fortsetzung

Wo aber sucht Russland die ideellen Kräfte, mit deren Unterstützung es in den Krieg zieht? In der Anrede des Zaren an seine Minister und seine Parlamente waren sie genannt: die orthodoxe Kirche und der Panslawismus. Dass der Panslawismus keine positive Kraft ist, dass er keine dauernden Werte schaffen, niemals die riesengroßen Gegensätze im Slawentum überbrücken kann, davon ist jeder immer überzeugt gewesen, der ihn wirklich kannte. Aus ihm schöpft auch ganz gewisslich nicht die fechtende Masse des russischen Heeres den zum Kriege notwendigen Enthusiasmus. Und die orthodoxe Kirche? Ernste Russen haben immer schon den völligen Mangel ihrer Kirche an innerer Lebenskraft und religiöser Wärme bitter beklagt. Und ihrem brutalen Druck stehen im ganzen Reiche die Anhänger der römischen und evangelischen Kirche, des Judentums und des Islam mir erbitterter Feindschaft gegenüber; das sind, die Untaten noch nicht einmal mitgerechnet, bald ein Drittel aller Untertanen des Zaren. In den orthodoxen Massen kann allerdings die Kirche für diesen Krieg eine starke Stimmung hervorrufen. Indem die geistliche Agitation den Gegensatz zur Rechtgläubigkeit gegen die nichtrecht gläubigen Deutschen und nun gar gegen den Halbmond auf alle Weise hervortreibt, ist sie allerdings imstande, auch den nichts verstehenden und ahnenden Bauernjungen im russischen Heere zu einer ekstatischen Wut anzustacheln, zu jenem frevelhaft übermütigen Ruf: „Mit den Mützen wollen wir sie zudecken“, mit dem man seit Jahren Österreich schrecken wollte. Aber starke innere sittliche Kräfte, deren Wert uns, je länger der Krieg dauert, immer deutlicher wird, spüren wir in all dem nicht. Niemand wird dem eigentlichen Russen Vaterlandsliebe absprechen wollen, die oft in rührenden Zügen zum Ausdruck kam. Aber sie ist doch als ein gewisser maßen nur instinktives Gefühl längst nicht mit der Begeisterung und Klarheit zu vergleichen, in der unsere Soldaten in die Schlacht ziehen. Auch der deutsche Bauernsohn, der die Uniform trägt, auch der deutsche Fabrikarbeiter, selbst wenn er im Frieden Sozialdemokrat war, kämpft nicht nur mit edelster vaterländischer Begeisterung, sondern zugleich in der Einsicht, dass er sein Leben einsetzt für unseren herrlichen nationalen Staat, für die Rechts und Machtform seiner Nation, ohne die alles Streben nach Höherem, alle höhere Kultur auf die Dauer doch unmöglich ist. Von solchem nationalen Staatsgefühl spürt man im russischen Volk nichts, weder in den Massen, die für solche Gedankengänge überhaupt noch nicht reif sind, noch in der Intelligenz, die ihrem Staate in großen Teilen feindlich gegenübersteht.

Das freilich wollen wir gerade bei diesem Kriege, der an der orientalischen Frage entzündet worden ist, nicht übersehen, dass er in viel höherem Grade volkstümlich ist als ein Krieg etwa um Persien oder Ostasien. Stützt er sich doch auf Traditionen und Gefühle, die in großen Teilen des Volkes lebendig gemacht werden können. Das Volk glaubt, für die Rechtgläubigkeit zu kämpfen, und wird dazu durch eine Agitation aufgestachelt, die ihm fortlaufend die angeblichen Unterdrückungen und Misshandlungen der Rechtgläubigkeit in Österreich oder sonstwo vorhält. Auch das Bürgertum steht hinter diesem Kriege anders als 1904; auch in seine Kreise sind die nationalistischen und panslawistischen Gedanken tief hereingetragen worden. Industrie und Han del erwarten von einem günstigen Kriegsausgang bessere Verhältnisse, und Offizierskorps und Beamtentum sind nach wie vor die Stützen dieser maßlos gesteigerten russischen Machtpolitik, die zugleich auch der direkte Vorteil für diese Kreise ist. Und alledem gegenüber bedeutet es in den ersten Monaten des Krieges natürlich nichts, wenn die beiden sozialdemokratischen Fraktionen die Dumasitzung mit Protest verließen, in der die Kriegskredite angenommen wurden. Leicht ist der Kampf, den Russland uns aufgezwungen hat, für uns nicht, aber Verbündete finden wir in diesen Momenten materieller und ideeller Schwäche, die hier unterstrichen wurden.


Jedoch nicht hier liegt das eigentliche Risiko, unter dem das russische Volk von jenem Kreis von Drahtziehern und Deutschlandhassern in den Krieg gehetzt wurde. Im wilden Durcheinander der Revolution, wie dann in der ruhigen Arbeit der dritten Duma ist doch das als die größte Schwäche des heutigen Russlands vor aller Welt zutage getreten, dass es kein einheitlicher Nationalstaat ist, sondern ein Nationalitätenstaat. Was ist denn dieser russische Nationalismus, gegen den unser Volk nach den Worten der Thronrede in die Waffen zu treten gezwungen ist? Das Streben des Großrussentums, die Masse der andern Nationalitäten, die sein Staat unterworfen hat, sich auch unterworfen zu halten, obwohl sie ihm vielfach kulturell überlegen sind und es sie sich darum innerlich gar nicht unterwerfen kann, obwohl jedes freiheitliche Zugeständnis sie geradezu automatisch von ihm frei macht, hin zu dem großen Ziele, das ihnen zunächst, schon im Frieden, allen vorschwebte: die Auflösung des russischen Reiches in einen lockeren Bund von Völkerautonomien.

Legen wir als Gesamtzahl des russischen Volkes 172 Millionen zugrunde, so sind davon rund 124 Millionen Slawen, denen rund 26 Millionen einer unterjochten Kolonialbevölkerung und rund 22 Millionen nichtslawischer, aber dem herrschenden Volkstum mindestens gleichstehender Untertanen gegenüberstehen. Dann würde ein Block von 124 Millionen vorhanden sein, der das Riesenreich tragen und verteidigen könnte. In jenen 26 Millionen unterjochter Kolonialbevölkerung sind Stämme wie die sibirischen Jägerstämme und die Völkerschaften Turkestans, die auch nicht als besonders gefährlich betrachtet werden können. Wohl aber stehen die 4 Millionen Tataren, innerhalb der fast 11 Millionen mohammedanischer Untertanen Russlands ihr fortgeschrittenster Teil, bereits heute in scharfer Stellung gegen ihren Staat. Sie sind vom Panislamismus seit Jahren ergriffen und fühlen es, wenn dieser Weltkrieg von Konstantinopel aus seine Wellen in den Islam hereinzieht. Von jenen 22 anderen Millionen aber beherrschen die Finnen, die Esthen und Letten, die baltischen und polnischen Deutschen, die Litauer, die Polen, die Juden, die Rumänen gerade die Grenzmarken, auf deren Ebenen der Krieg sich abspielt und auf deren Besitz Russlands europäische Stellung überhaupt ruht *).

*) Die Zahlen für diese Grenzmarken sind diese! in den Ostseeprovinzen wohnen 165.000 Deutsche, denen l,4 Millionen Letten (z. T. in Witebsk und Kowno) und 900.000 Esthen gegenüberstehen. Litauer gibt es 1,2Millionen (in Kowno, Grodno, Wilna, Suwalki), Polen 9 Millionen im Zanum, 4 1/2 im östlich daran anstoßenden Grenzgebiet; 5 1/2 bis 6 Millionen Juden und 1,1 Million Rumänen folgen. Finnen (im Großfürstentum Finnland) zählt man 3,9 Millionen, denen 390.000 Schweden gegenüberstehen. Deutsche gibt es noch im Zanum Polen 400.000, im Westgebiet 337.000, in Südrussland 343.000, in Südostrussland 390.000 — im ganzen Reich über 2 Millionen

Aber jene 124 Millionen Slawen sind gar nicht der einheitliche Block, der das Riesenreich geschlossen tragen könnte. 13,5 Millionen Polen sind davon abzuziehen, ebenso sechs Millionen Weißrussen und vor allem über 30 Millionen Kleinrussen im Süden des Landes. Das russische Weltreich wird tatsächlich nur gehalten und getragen durch die 70, höchstens 80 Millionen Großrussen, über die Hälfte der Untertanen des Zaren steht diesem und seinem Reiche, natürlich in verschiedener Nüance, innerlich ablehnend gegenüber. An das schwierigste und gefährlichste Problem der russischen Zukunft überhaupt rührt mithin dieser Krieg, auf das von mir immer und immer wieder hingewiesen wurde*).

**) S bes. das Kap. 12 S. 515ff. in meinem „Russland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904—1913“. (Berlin 1912.) Dort findet, wer in die einzelnen nationalen Fragen eindringen will, das Material dazu.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands