Achte Fortsetzung

Je mehr Russland in die moderne Bahn eines Verfassungsstaates und einer kapitalistischen Volkswirtschaft einlenkte, umso schwieriger wurde für den großrussische Staatsmann die Frage, wie mit den daraus ganz von selbst sich erhebenden Forderungen der nichtgroßrussischen Untertanen Einheit und Schlagkraft des Staates zu vereinbaren seien. Man suchte ja das Rezept dagegen im sog. Nationalismus, den innerlich zu verstehen man sich bemühen muss, dessen Unwirksamkeit vor allem nach Westen aber doch ebenso auf der Hand lag wie die Erfolglosigkeit der Russifizierung in früherer Zeit. Nur mit größter Behutsamkeit würde es im Frieden möglich gewesen sein, aus diesen heillos einander widerstreitenden Fragen heraus einen Weg zu finden, der die Einheit des Reiches sicherstellte. Weder im Programm der Staatsmänner noch in den Reden der Dumaopposition dazu war freilich ein solcher Weg zu sehen. Jetzt treffen die Wirkungen des Krieges auch darauf mit vollster Schärfe und bringen alle diese nationalen Fragen in ein neues Rollen.

Zieht dieser Krieg seine Kreise weiter, stößt vielleicht Rumänien durch Bessarabien vor, dann lodert vor allem das schwelende Feuer im kleinrussischen Volke empor. Denn auch die über hundert Millionen Russen sind ja keine Einheit, über ein Viertel davon steht in den Weißrussen des Westens und in den Kleinrussen des Südens bis hin zur Wolga in Hass, in jahrhundertealter Feindschaft gegen das herrschende Volkstum. Und die Kleinrussen sind stammesgleich und eng verbunden mit den Ruthenen Galiziens, die jetzt wie ein Mann unter Österreichs Fahnen in den großen Kampf zogen.


Alles das sind keine Phantastereien über das, was kommen könnte, sondern wer den Verlauf der russischen Revolution von 1904/05 noch im Kopfe hat, der weiß, wie zum Erstaunen Europas gerade die nationalen Gegensätze in den Ostseeprovinzen, in Litauen und Polen, in Südrussland und im Kaukasus das Reich erschüttert haben, und damals deckten wie Österreich auch darin völlig den Rücken! Glauben wir ja nicht, dass uns derartige revolutionäre Erhebungen in Russland den Sieg gewisser maßen in den Schoß werfen würden! So gewiss alle diese Gärungsstoffe da sind, so sicher schlagen die Flammen empor erst nach den deutschen Siegen, nach Siegen über Russlands Armeen auf dem Schlachtfelde. Wir stützen unsere Zuversicht nicht auf diese Aussichten innerer Unruhen, sondern auf unser gutes Recht und unsere Kraft. Aber das wissen wir, dass der russische Zar, da er, wie er selbst in einem Telegramm an den englischen König sagt, verpflichtet wurde, diesen Krieg heraufzubeschwören, auch viel, sehr viel aufs Spiel setzt. Nicht wir bringen diesen Stein ins Rollen; sowohl die wissenschaftliche Betrachtung wie die politische Haltung Deutschlands hat die höchste Achtung und volles Verständnis für den großrussischen Staatsgedanken bewiesen, auch wo es uns wehe tat, wie bei unseren baltischen Brüdern. Setzt ihn aber der Zar selbst aufs Spiel — à la guerre comme à la guerre, dann können die ungeheuren nationalen Gegensätze im russischen Reiche sich auch gegen dieses selbst wenden!

III.

Noch im vollsten Fluss sind die Kämpfe an unserer Ostgrenze und in Galizien, und es liegt in ihrem Wesen, dass sie nur nach und nach zu großen Entscheidungen führen können. Alle die Momente, die im heutigen Kriege die Kämpfe in die Länge ziehen, wirken hier doppelt und dreifach. Darum müssen wir uns hier ganz besonders mit Geduld und dem festen Entschluss, zäh bis zum Ende durchzuhalten, wappnen. Darin liegt gar keine Andeutung von Schwäche auf unserer Seite, sondern das sind die zwingen den Verhältnisse des modernen Krieges auf einem dazu besonders geeigneten Kriegsschauplätze, mit denen zu rechnen ist und denen wir doch, wie wir Gott Lob und Dank schon gesehen haben, schließlich besser gewachsen sind, als die Gegner. Darum ist es auch durchaus verfrüht und übereilt, die Kriegsziele nach Osten hin schon im einzelnen umreißen zu wollen. Es kann nur schärfster Widerspruch erhoben werden gegen eine Teilung des Felles des Bären, bevor er erlegt ist, wenn dieses abgenutzte Schlagwort gebraucht werden darf. Und es war kein Zeichen von politischer Reife, wenn sich daran schon in den ersten Tagen auch sehr hochstehende Männer unseres Geisteslebens beteiligten und das russische Reich auflösten, wie man Blätter einer Artischocke abpflückt, wie es auch eine geradezu kindliche Unterschätzung und Unkenntnis des Gegners verriet, wenn man hoffte, es würden sich gleich beim Einreiten der ersten preußischen Ulanen alle Grenzvölker und die Massen zugunsten der Befreiung bringenden Deutschen und Österreicher erheben. Dazu ist doch die riesige Machtorganisation des russischen Staates, die heute vor uns dasteht, viel zu groß. Man bedachte nicht, dass Russland sich eine Heeresorganisation geschaffen hat, die sich zahlreiche fremdstämmige Elemente einfach fernhält (sowohl die Finnen des Großfürstentums als der größte Teil der eingeborenen Bevölkerung in Zentralasien und Sibirien sind von der Wehrpflicht ausgeschlossen), dass es andere klug unter die großrussischen Heeresteile verteilte (so sind noch im vorigen Jahre die rein kleinrussischen Kubankosaken mit großrussischen Kosaken gemischt worden) und dass es alle mit der Disziplin eines modernen Massenheeres umfasst. Man nutzte auch den Hoffnungen der Grenzvölker auf Befreiung nicht, wenn man gleich die Befreiung Polens oder die Angliederung der baltischen Provinzen als Forderung aufstellte. Ist es darum unmöglich, heute schon von den Kriegszielen der Zentralmächte gegen Russland zu sprechen? Diese Ausführungen hier würden höchst unvollständig sein, wenn sie darauf keine Antwort gaben. Und natürlich ist diese möglich, auch klarer und bestimmter als nur mit dem Hinweis, dass Deutschland fechte gegen den Zarismus (da uns doch die Verfassungsform eines anderen Staates nichts angeht, jedenfalls nicht der Siegespreis eines Existenzkampfes sein kann), oder gegen das Moskowitertum, was eine Phrase ohne jeden Inhalt ist. Nach drei Richtungen sind die Kriegsziele im Osten schon heute einfach und klar zu bezeichnen.

Zuvörderst die Sicherung unseres Deutschen Reiches und seiner Grenzen im Osten, an denen wir den Flügel unserer zentraleuropäischen Machtstellung östlich der Elbe verteidigen. Gegen Frankreich steht das alte deutsche Mutterland im Kampfe, auf Schlachtfeldern, die zum Teil alter deutscher Reichsboden sind. Gegen Russland aber ficht das rund tausend Jahre jüngere deutsche Kolonialland, auf dessen Boden seit sieben Jahrhunderten deutsches Blut und preußische Staatskunst (unter Preußen den Deutschen Orden und die Hohenzollern zugleich verstanden) das — mit Bismarcks Wort zu reden — andere Glacis unserer Stellung in Mitteleuropa begründet haben. Dies Glacis, das uns lebensnotwendig ist, verteidigen wir im Kriege gegen die russische Heeresmacht und die politischen Ansprüche, in deren Dienst sie hier gestellt wird. Und weil das so klar und einfach ist und in unserem Volke so verstanden wird, merken die macchiavellistischen Staatsmänner und Militärs Russlands, die mit Ehrenworten spielend ihr Volk wie eine Hammelherde in den Kampf getrieben haben, eins, was sie unterschätzt haben. Lange hat das deutsche Volk die Spannung getragen, an der diese Richtung der russischen Politik allein schuld war. Es stand dem russischen Volke wohl vielfach innerlich fremd gegenüber, doch ohne jeden Hass. Wer in ihm in den letzten Jahren die Kenntnis von Russland mehren wollte, fand zunehmend Gehör und Interesse. Diesen ihm aufgedrungenen Krieg empfindet unser Volk darum im tiefsten als frevelhaft wie nur je einen Krieg seiner Geschichte. In innerer Empörung über diese frevelhafte Politik kämpft es für Haus und Herd an seiner Ostgrenze — die russischen Bauernsöhne, die ihm der Zar entgegenschickt, haben es gespürt und werden es fürder spüren.

Unlösbar aber hängt mit dem Kriegsziel ?? als sich in Russisch-Polen deutsche und österreichisch-ungarische Truppen die Hand reichten, wurde es uns zum Greifen deutlich — das andere zusammen: die Sicherung Österreich-Ungarns als einer Mittel und südosteuropäischen Großmacht. In einem Interview an die „Birschewyja Wjedomosti“ hat Alexander Gutschkow, der Oktobristenführer und einer der besten politischen Köpfe im Russischen Reiche, das Wort gesprochen: „Auf den Trümmern Osterreich-Ungarns entsteht Groß-Serbien.“ Da steht das russische Kriegsziel gegen unseren Verbündeten da, dagegen seins und das unsere zugleich: die unangreifbar starke Position der Habsburgischen Monarchie am Mittel- und Unterlauf der Donau, dieses Staates, dessen Idee nun doch trotz alles Kleinmuts und aller inneren Kämpfe jetzt wie ein strahlender Stern durch die Wolken brach, bereit, die Feuerprobe zu bestehen.

Praktisch aber heißt das, dass die maßlose Überspannung der russischen Machtidee niedergeworfen wird, die im Schlagwort des Panslawismus sich erhob. Gegen die kämpfen Deutschland und Österreich-Ungarn so gut wie die selbständigen Balkanstaaten es bisher taten und tun werden, wenn sie überhaupt ihre wahren Interessen erkennen. Und schon heute, noch ehe die endgültigen Entscheidungen gefallen sind, kann gesagt werden, dass dieser Panslawismus die Probe nicht bestanden hat, die in der Geschichte für jede politische Idee, für jedes politische Schlagwort einmal kommt. Für den Panslawismus, der als Schlagwort nicht älter als zwei Menschenalter ist, ist sie jetzt gekommen. Wohl hat er genug Sprengkraft gehabt, durch immer wiederholte Auspeitschung der Gemüter die Entladung herbeizuführen. Aber als die Kanonen zu donnern begannen, da hat er eine eigene Kraft nicht bewiesen. Von den Slawen der Balkanhalbinsel sucht sich gerade der kräftigste und zukunftsreichste Zweig — das bleibt er trotz des furchtbaren Aderlasses in den Balkankriegen —, die Bulgaren, auf alle Weise der russischen, also der panslawistischen Umklammerung und Umschmeichelung fernzuhalten: er weiß warum. Die Polen Preußens, bei denen die panslawistische Werbearbeit überhaupt niemals verfangen hat, sind einhellig den Fahnen Deutschlands gefolgt, wie ihre Staatsbürgerpflicht es erforderte. Vor allem: wie fiel alles Panslawistische unter den Slawen Österreichs zu Boden, als es nun hart auf hart ging! Unter ihnen waren im Frieden viele Gegner des Zweibundes und trugen das Ihre dazu bei, das innere Leben ihres Staates lahm zu legen. Nun rief der österreichische Kaiser zu den Waffen und sofort tat sich ihnen allen die Perspektive auf: hier Österreich — es hatte ihnen eine Freiheit des Lebens, der Religion, der Sprache immer geboten, die ihnen zwar nie genügte, weil sie die unübersteigbaren Schranken der österreichischen Staatsnotwendigkeit nicht anerkannten, die ihnen aber doch eine Entwicklung ermöglichte, zu der sie aus eigener Kraft nie fähig gewesen wären. Dorr Russland — das seine eigenen Slawen, wenn sie nicht Großrussen waren, unterdrückt und mir allen Mitteln der Gewalt und List zurückgehalten hatte. Nicht jeder einzelne der Millionen österreichischer Slawen brauchte sich das erst klar zu machen, bei den Massen wirkte mit unwiderstehlicher Wucht die Macht der Heeresorganisation und das Gefühl, eben Österreicher, k. k. Österreicher, zu sein. Aber in den Führern und jener Schicht, die mit den panslawistischen Gedanken in Friedenszeiten manchmal gefährlich gespielt hatten, wurde nun die einfache Wirklichkeit der politischen Dinge zermalmend klar. Und ein Panslawismus, der sich in neun verschiedenen Sprachen, wie es der Aufruf des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch tat, an die Bewohner Österreichs wenden musste, um zur Erhebung für die heilige Sache des Allslawentums aufzurufen, erwies sich im Donner der Schlachten einfach als Schatten. Wir wissen nicht, welche Neugestaltungen dieser Krieg bringen wird, aber das hat er schon bewiesen, dass er den Panslawismus, der nur zerstören, nie aufbauen konnte, nicht in die Wirklichkeit umsetzen wird. Und mit vielem anderen, mit dem dieser Krieg aufräumt, soll er auch dieses unheilvolle Schlagwort in die historische Rumpelkammer befördern. Dann kann Russland sich auf seine eigentlichen großen Aufgaben besinnen. Und dann soll durch dieses Ringen die Bahn frei werden für eine Entwicklung Österreichs, in der Deutsche und Slawen, Magyaren und Rumänen ihren habsburgischen Gesamtstaat zum „Rocher de Bronce“ machen sollen.

Damit ist auch schon das Ziel der Zentralmächte in ihrem Bündnis mit der Türkei für alle Orientfragen, die nun aufgerollt werden, klar. Russland hat den Weg für seine Balkan und Schwarzmeerinteressen nicht im Frieden gehen wollen, den Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ und das Potsdamer Abkommen von 1910 gar wohl in großen Linien wiesen, sondern es will mir Gewalt sich den Weg nach Konstantinopel über Berlin und Wien bahnen. Da treten ihm nun auch mit Gewalt die Heere Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Türkei zusammen entgegen und versperren ihm diesen Weg. Noch wissen wir nicht, wie dieser große Krieg auf die orientalische Frage wirken wird, der an ihr zum Ausbruch gekommen ist. Nur das ist schon klar, dass in ihm Deutschland und Österreich-Ungarn für eine Orientpolitik kämpfen, deren Ziele mit den alles Maß verlierenden Orientträumen Russlands nicht versöhnlich, mit seinen realen Lebensinteressen darin aber kaum zusammenstoßen. Und wenn heute die Zentralmächte Europas im Bunde mir der Türkei kämpfen, so fechten sie darin gegen England, das aus einem Freund zu einem erbitterten Feinde der Türkei und des Islam geworden ist. So heben sich die Ziele dieses großen Machtkampfes in Osteuropa heraus. Sie weiter im Einzelnen auszumalen, ist nicht mehr als — und noch dazu gefährliche — Spielerei, solange die Waffen sprechen. Auf diese blickt zuerst, wer heute über Russland als Gegner Deutschlands spricht. Ihnen, dem Kampf gegen die Heeresmacht des Gegners und dem Sieg über sie, gelten die ersten Gedanken, die heißesten Wünsche. Und dafür ist es doch keine herbeigeholte Erinnerung, wenn uns diese Kämpfe die Taten des Deutschen Ordens und der Hanse wachrufen. Will es uns doch wie ein tiefbegründetes Symbol erscheinen, dass der Feldherr des deutschen Ostens, der Feldmarschall von Hindenburg, ein Kind des alten Ordenslandes ist, dem kolonialen deutschen Schwertadel entstammt. Da weht es wie von selbst wieder über unseren Truppen im Osten und um uns, das alte Siegeszeichen deutscher Ostkämpfe: das Zeichen des Ordens, das schwarze Kreuz im weißen Felde, die unserem Preußen die Farben gaben. Wieder hat wie in jenem Mittelalter das ruhelose Grenzerleben der Deutschen im Osten begonnen. Landwehr und Landsturm kämpfen vom ersten Tage an längs der ganzen Grenze recht eigentlich um Hof und Herd. Trifft unsere Flotte im baltischen Meere den Feind, so rauschen um ihre Kiele die Wogen von den Taten der Hanse. Schlagen sich unsere Truppen auf baltischem Boden mit dem Feind, so fechten sie unter den Farben des Deutschen Ordens. Unter diesen Zeichen, die sie heute abermals in diesen weiten Osten hineinführen, nicht nur als die stolz und heldenhaft fechten den Germanen, sondern auch als die Träger einer menschlich freien und höheren Gesittung — unter diesen Zeichen haben die deutschen Heere schon im Kampf gegen Russland gesiegt und werden sie siegen bis zum glückhaften und guten Ende!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russland als Gegner Deutschlands