Vorwort. Erste Fortsetzung

Wie reich jedoch diese Quelle des russischen Volkstums auch fließen mag, so kann sich der Nichtrusse, der Russland als Ganzes kennen lernen will, doch nicht auf das Studium der russischen Literatur beschränken. So sehr dieselbe neben dem individual-psychologischen auch das allgemein religiöse, philosophische und soziale Gebiet zum Gegenstande ihrer Forschung macht, so werden ihr durch ihre künstlerische Form doch gewisse Grenzen gesetzt. Das jenseits dieser Grenze liegende Gebiet des geistigen, politischen und sozialen Lebens des russischen Volkes wird nun der Westeuropäer aus den ihm zugänglichen wissenschaftlichen Werken zu erkennen suchen müssen. Doch stößt er hier auf ein Hindernis, das ihm den unmittelbaren Einblick in die inneren Verhältnisse des russischen Volkslebens bedeutend erschwert. Die russischen Gelehrten und Kenner des russischen Lebens schreiben in der Regel für den russischen Leser: das bedingt, dass ihre Werke auch abgesehen von dem allgemeinen Hindernis der Sprachverschiedenheit dem nichtrussischen Leser kaum zugänglich sind. Ein Gelehrter, der zu seinem eigenen Volk spricht, setzt mit Recht eine ganze Fülle von Kenntnissen voraus, die ein jeder Zuhörer aus dem Volk als selbstverständliches Eigentum mitbringt. Mit anderen Worten: es wird in den Arbeiten rassischer Forscher, die sich auf Russland und das russische Volk beziehen, im allgemeinen gerade dasjenige schon vorausgesetzt und nicht mehr weiter erwähnt, was der ausländische Leser in erster Linie kennen lernen möchte: die Summe all der Bedingungen, Kenntnisse und Eindrücke, die für den inneren und äußeren Bau des russischen Lebens in erster Linie charakteristisch sind. — Dieses Hindernis scheint nun in der Tat so groß zu sein, dass das Wort des russischen Forschers kaum je an das Ohr des Westeuropäers gelangt. Gewiss besitzen wir als Ersatz dafür gründliche Werke über die verschiedensten Seiten des russischen Lebens aus der Feder westeuropäischer Gelehrter. Doch diesen hängt notwendigerweise ein Mangel an, der sich auch durch die größte Gelehrsamkeit kaum ersetzen lässt. Ein jeder Nichtrusse tritt an das russische Leben von außen heran; es geschieht dies auch schon in reiferen Jahren, zu einer Zeit also, da wir nicht mehr fähig sind, die Sprache eines fremden Volkes, dieses mächtigste Mittel der Verständigung, uns so weit anzueignen, dass sie uns zur zweiten Muttersprache wird. Ein intuitiver Blick für das innere Wesen eines Volkes kann hier gewiss manches ersetzen, was ein Russe an Wissen von Haus aus mitbringt; aber das eigentliche Volkstum, das mit der Muttermilch eingesogen, in den Kindermärchen anschaulich und poetisch verklärt erfasst wird und in den folgenden Jahren jugendlicher Entwicklung mehr und mehr bewusste Formen erhält, wird wohl auch vor dem schärfsten Blick des Ausländers gewöhnlich verborgen bleiben. Am wenigsten wird sich dieser Mangel in rein objektiv gerichteten Untersuchungen, die sich nur auf tatsächliche Verhältnisse richten, spürbar machen. Aber selbst die richtige Deutung und Bewertung der äußeren Lebensbedingungen eines Volkes setzt eine Seelenverwandtschaft mit dem Volk voraus, das sie geschaffen und in seinem staatlichen, sozialen und Gesellschaftsleben verwirklicht hat. Die gleichen äußeren Formen können ja ganz verschiedenen inneren Kräften ihren Ursprung verdanken, und was bei dem einen Volk berechtigt dauernd und heilbringend ist, bildet in dem Leben eines anderen Volkes, nur eine kurzdauernde Episode. Daher auch kann ein ausländischer Forscher, so wertvoll seine Arbeit auch sein mag, kaum je vollwertigen Ersatz für die wissenschaftliche Erfassung eines Volkes aus seiner eigenen Mitte heraus bieten. Wie der Künstler die Seele des Volkes in sich trägt und aus ihr sein Kunstwerk bildet, so muss auch der Erforscher des Volkslebens selbst ein Teil des Volkes sein, um zunächst an sich und in sich selbst erlebt zu haben, was er nachher zum Gegenstand seiner objektiven Forschung machen will. Hier gilt nicht minder das bekannte Goethesche Wort: ,,Du gleichst dem Geist, den du begreifst“, wie auch dessen Umkehrung: „Du begreifst nur den Geist, dem du gleichst“.

Dies waren die Gesichtspunkte, die uns veranlasst haben, dem vorliegenden Buch diejenige Form zu geben, in der es jetzt dem Leser übergeben wird. Wir mussten von vorneherein darauf verzichten, dem nichtrussischen Leser ein Buch aus nichtrussischer Feder zu bieten. Ebensowenig konnte unserem Zweck aber auch die Übersetzung von Abhandlungen genügen, die von russischen Autoren verfasst, jedoch ursprünglich für das russische Publikum bestimmt waren. Vielmehr wollten wir in der Hauptsache nur russische Schriftsteller zum nichtrussischen Leser sprechen lassen. Es ist also im Grunde ein russisches Buch, das auf diese Weise entstanden ist, ein Buch von Russen über Russland, das sich jedoch von vorneherein bewusst an den nichtrussischen Leser wendet. Doch soll es kein für das Ausland in irgendeiner Beziehung tendenziös präpariertes Buch sein: weder die Mängel Russlands sollen darin verkleinert und verdeckt, noch auch dessen Vorzüge in schlecht angebrachter Bescheidenheit hintangesetzt werden. Das große Land und das es bewohnende große russische Volk sollten von den Verfassern so geschildert werden, wie sie es selbst sahen, erfassten, erlebten. Denn nur bei voller und ungeschminkter Offenheit und Ehrlichkeit konnte das Buch dem von uns gewollten Zweck dienen: ein Beitrag sein zur Ermöglichung eines inneren Verständnisses von Volk zu Volk.


Dabei gingen wir nicht darauf aus, den gegenwärtigen status quo Russlands in erster Linie zu schildern; er bildet das letzte Glied einer langen äußeren und inneren Entwicklung des russischen Volkes, dessen Verständnis nur aus der allgemeinen Vorgeschichte des Landes, aus den politischen, sozialen und religiösen Strömungen, die das russische Volk durchfluteten, zu erlangen ist, dessen erschöpfende Bewertung und Deutung außer dem Möglichkeitsbereich des gegenwärtigen Augenblickes liegt. Dies Werk sollte das geistige Auge des Lesers von den Wirrnissen und Irrungen der Gegenwart auf das bleibend Wertvolle im Leben und Schaffen des russischen Volkes richten, wodurch der Leser zugleich in den Stand gesetzt wird, auch den verwirrten Verhältnissen des Augenblickes gerechter gegenüberzutreten und sie als eine vorübergehende, leidensvolle Entwicklungsphase eines großen Ganzen zu erkennen.