Vorwort. Dritte Fortsetzung

Die russische Musik ist in Westeuropa teilweise schon eingedrungen. Sie weist relativ wenig fremde Einflüsse auf und entspringt bei ihren bedeutendsten Repräsentanten aus dem Herzen des Volkes, aus dem reichen Schatz der Volksmelodien, die vom russischen Landmann geschaffen und gesungen werden. Die russische Kunstmusik ist noch außerordentlich jung, sie ist erst in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom ersten großen nationalen Komponisten Russlands, Glinka, begründet worden. Gerade ihre Eigenart setzt ihrer rascheren Verbreitung in Westeuropa gewisse Schwierigkeiten in den Weg; sie ist es aber, di6 den inneren Wert der russischen Musik ausmacht und ihre allgemeinere Anerkennung mit der Zeit erkämpfen wird.

Die schone Literatur Russlands nimmt ihren Ausgangspunkt von der Volksdichtung: Volksmärchen waren es, die den ersten und bis heutzutage größten russischen Dichter, den Schöpfer der russischen literarischen Sprache, des russischen Versbaues und der russischen Prosa, A. S. Puschkin, in seiner Jugend anregten und zur Bearbeitung ihres poetischen Stoffes veranlassten. Im Volksepos kommen bestimmte nationale Züge zur Geltung, die wir anderswo vergebens in gleicher Anschaulichkeit anzutreffen suchen würden. Wir schließen daher der Besprechung der russischen schönen Literatur einen Aufsatz über das Volksepos an. Aus mehr als einem Grunde musste dem Begründer der russischen schönen Literatur, A. S. Puschkin, eine besondere Abhandlung gewidmet werden: seine großen Nachfolger, Dostojewskij, Turgenjew, Tolstoj und andere, sind dem westeuropäischen Leser nicht nur dem Namen nach bekannt, dagegen ist selbst der Name Puschkins vielleicht dem größten Teil des gebildeten Publikums Westeuropas unbekannt geblieben. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass keine einzige sich der Schönheit des Originals einigermaßen annähernde Übersetzung der Werke Puschkins existiert. Um so notwendiger erschien es uns, unseren Leser wenigstens auf diesem indirekten Weg mit dem größten russischen Dichter bekannt zu machen.


Die russische Philosophie ist ihre eigenen, von der westeuropäischen modernen Philosophie gänzlich abweichende Wege gegangen. Der Mystiker des Mittelalters würde in der russischen Philosophie viele verwandte Züge entdecken, die in großartig hingeworfenen kosmischen Gestaltungen russischer Geistesseher ihren Ausdruck finden; dagegen wird der westeuropäische systematische Philosoph geneigt sein, fast die ganze Entwicklung der russischen urwüchsigen Philosophie ins Bereich der Religion und der Mythenbildung zu verweisen. In der Tat ist es ein Grundzug der russischen Philosophie, dass sie in nächster Berührung zur Religion steht und wechselseitig eine Bereicherung des religiös-philosophischen Lebens der russischen „Gottessucher'' bedingt. So fremd ihr die neuere Philosophie Westeuropas gegenwärtig auch gegenüberstehen wird, so erscheint eine Bereicherung derselben durch religiös-mystische Anregungen von selten der russischen Philosophie keineswegs ausgeschlossen.

Die im zweiten Teil des Werkes erscheinenden Abhandlungen haben zum Gegenstand:

Die russische Geschichte. Staat und Kirche und religiöse Bewegungen in Russland. Die Staatsverfassung des alten Russlands und die Duma. Der russische Bauer. Das Semstwo. Die Arbeiterfrage. Die kooperative Bewegung. Erziehung und Schulwesen. Die russische Gesellschaft. Die russische Frau. Die Umwälzung.

Wie schon oben bemerkt, beginnt der zweite Teil mit einem kurzen Umriss der russischen Geschichte. Im Anschluss daran wird in einem weiteren Aufsatz die russische orthodoxe Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat behandelt, wobei auch die außerkirchlichen religiösen Bewegungen eine besondere Berücksichtigung finden, in denen ein wichtiger Teil des religiösen Lebens Russlands seinen Ausdruck findet. Auch bei der Behandlung der Schicksale der russischen orthodoxen Kirche und des Sekten- Wesens treffen wir auf den schon anfangs erwähnten entscheidenden Faktor der russischen Geschichte — die Reform Peters des Großen — welche das religiöse lieben Russlands in einer gewaltsamen Weise ordnete und die auch schon vor Peter dem Großen in immer größere Abhängigkeit von der weltlichen Macht des Zaren verfallende Kirche dieser ganz unterwarf. Es entstand dadurch ein tiefgreifender Gegensatz zwischen der reinen Tendenz der russisch-orthodoxen religiösen Weltauffassung, die sich nach der Anschauung der Slawophilen im Gegensatz zum Katholizismus von der weltlichen Macht ganz abwenden sollte, — um (wie sich Iwan Karamosow bei Dostojewskij ausdrückt) der dritten Versuchung des Teufels nicht zu verfallen, — und dem tatsächlichen Schicksal der russischen Staatskirche, die zu einer gehorsamen Dienerin eben dieser weltlichen Macht wurde. Es ist unter diesen Umständen nicht zu verwundern, dass das religiöse Starben des russischen Volkes im Schosse der griechisch-katholischen Kirche keine Befriedigung finden konnte und dass eine große Anzahl von zum Teil sehr merkwürdig orientierten Sekten entstand. Einer der wichtigsten Abschnitte des russischen inneren Volkslebens spielt sich im Sektenwesen ab, über dessen Schicksale ein besonderer Abschnitt des Buches berichtet.