Russisches Leben - 7. Die Grenzbesetzung

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, St. Petersburg, Cholera,
Gleich an der Brücke, neben der Statue Peters des Großen, die wir bereits schon kennen gelernt, sah ich einige Iswoschtschike. Zu dem Einen, der das beste Pferd zu haben schien, sagte ich: „Kolonie!“ – „Tolko tuda?“ – „Tolko!“ – „Poltinik!“ (einen halben Rubel Silber). Ich setzte mich auf und nötigte ihn schnell zu fahren. Das Pferd lief so ziemlich. Auf der Kolonie angekommen ging ich sogleich in das achte Haus linker Hand, es war das rechte – aber Herr Röhr und seine Familie, die vor dem Worte: Cholera und vor dem Gedanken, dass ihre Reise verhindert werden könnte – zitterten, hatten sich schon in der zweiten Stunde des jungen Tages auf und davon gemacht. Hatten sie Ursache so frühe aufzubrechen?...

„Herr Röhr vermutete Sie in irgend einem Wirtshause an der Straße“, sagten mir die Kolonisten, „eilen Sie doch recht sehr! er ist über die Maßen unruhig, dass er Sie gestern gegen seinen Willen voraus schickte. Er sagte oft: dem jungen Manne ist gewiss ein Unglück begegnet! doch tröstete er sich damit, dass er Sie in einem Wirtshause an dieser Straße finden würde. Eilen Sie doch recht sehr!“ – Der Iswoschtschik, der das deutsche Gespräch, von welchem er kein Wort verstand, mit anhörte, merkte doch gut, dass es noch etwas über den Poltinik zu verdienen geben könnte, daher fragte er die Kolonisten, wo er mich hin fahren sollte. Ei, so fahre den Herrn bis zu den Kibitken! war die Antwort. Ich setzte mich wieder auf und es ging auf dem Wege nach Zarskoje Selò immer vorwärts.

Der dieses Weges kundige Leser wird vielleicht erstaunend fragen: wie war dies denn möglich? . . . Und ich versichere ihm, dass es nicht nur möglich war, sondern, dass es auch so, wie ich es erzähle, geschehen ist! . . . ich fuhr auf dem Weg nach Zarskoje immer vorwärts. – Noch ehe ich auf die Kolonie kam, hielt mich auf demselben Wege ein Kosak an, der mich in die Wachstube zu seinem Offizier nötigte, welchem ich meinen Pass vorzeigen musste. Es schienen von Seiten der Regierung ganz außerordentlich strenge Maßregeln getroffen gewesen zu sein.

Ich kam endlich an jene Anhöhe, die sich vielleicht acht oder neun Werft von Zarskoje Selò befindet und über welche diese Landstraße führt. Ich muss gestehen, dass ich zusammenbebte, als ich diese Anhöhe, welche ich schon gestern nach Zarskoje passierte, jetzt mit Gensdarmen besetzt sah, die mich unerbittlich zurückwiesen. – Während ich eine Weile in Gedanken versunken dastand, kam der Offizier, ein Deutscher, der das Kommando hier hatte, herbei und sagte zu mir: „Wir haben den strengsten Befehl, Keinen, möge er sein wer er wolle, passieren zu lassen! Der Offizier sprach dies in einem Tone, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Jedoch erzählte ich ihm mit wenig Worten mein Schicksal und fügte hinzu, dass ich erst vor drei oder vier Stunden aus Zarskoje gefahren sei. Da hätten Sie lieber in Zarskoje bleiben sollen! antwortete er; oder wären Sie eine viertel Stunde früher gekommen, hätten Sie passieren können; denn wir haben erst seit einigen Minuten unser Standquartier hier genommen; aber seit dem Augenblicke dürfen wir Niemanden passieren lassen, und wer sich widersetzt, den schießen wir ohne Weiteres nieder, die Karabiner meiner Soldaten sind scharf geladen! –

Erlauben Sie mir noch eine Frage, Herr Lieutenant: war gestern schon diese strenge Ordre bekannt?

Das weiß ich nicht, antwortete der Gensdarm, vermutet mögen sie. Viele haben, daher fuhr auch Mancher in dieser Nacht nach Zarskoje.

Das war also die Ursache der gestrigen lebhaften Passage, dachte ich. Der Offizier warnte mich nochmals mit den furchtbaren Worten: Vergessen Sie nicht, dass die Karabiner meiner Soldaten scharf geladen sind, und dass wir Jeden ohne Ausnahme, der mit Gewalt einen Schritt über diese Grenze wagt, niederschießen! darauf entfernte er sich von mir.

Nun blieb mir nichts übrig, als nach St. Petersburg zurückzukehren . . . . . Seltsames Schicksal! dachte ich, also auch von den Postpferden, die mir der liebe Rittmeister so großmütig angeboten hat, kann ich keinen Gebrauch machen. Wäre ich meinem Gefühle nicht gefolgt, und hätte seinen Kutscher so lange an der Brücke warten lassen, bis ich zweimal über die Newa gesetzt worden wäre, seine Großmut hätte ihm teuer zu stehen kommen können: er hätte Kutscher und Equipage auf kürzere oder längere Zeit entbehren müssen. Vielleicht aber wäre der Kutscher schneller gefahren, als der Iswoschtschik, und eine viertel Stunde Zeit entschied ja für Alles, wie der Gensdarm sagte . . . Dass ich an der Brücke den Kutscher mit der Equipage fortschickte, das war also der zweite Anstoß des Baches, der ohne den ersten nicht geschehen wäre. Wie viel Anstöße mag es wohl noch bis Kiew geben? . . . Wären Sie eine viertel Stunde früher gekommen, sagte der Gensdarm, dann hätten Sie passieren können. Das ist jener Kerl schuld, der zum ersten und zweiten Mal so lange in dem Nachen schlief. . . . Aber du bist vielleicht noch mehr schuld, dass du während eines ganzen Jahres nicht einmal so viel Russisch lerntet, um sich einem solchen Kerl verständlich zu machen, so sprach ich mit mir selbst, langsam meinen Weg nach St. Petersburg wandelnd.

Wahrhaftig! fein ist das Gewebe der Seidenwürmer, aber das Gewebe menschlicher Schicksale ist viel feiner noch! In den Schauspielen stehen die Personen hinter den Kulissen und treten auf, wenn es der Dichter haben will. Bei dem Lesen so vieler Romane kommt es einem vor, als ob der Verfasser das Schicksal seiner Helden unter seinem Oberbefehl habe, und wie er kommandiert, rücken die geheimnisvollen Schicksalsmächte gegen den unglücklichen Helden heran: fechten – siegen – ziehen sich zurück – rücken wieder vor, unterhandeln – und lassen ihn am Ende siegen oder erliegen! Folglich hat der gebildete Leser eine gerechte Ursache, an so Manchem, das doch wirklich geschehen ist, zu zweifeln. Ich aber kann ihm versichern, dass der Gang meines Schicksals, so wie ich ihn hier erzähle, keine Dichtung, sondern Wahrheit ist.

Der Weg führte mich abermals über die deutsche Kolonie. In jenes Haus, wo Herr Röhr eingekehrt war, ging ich nicht mehr; warum, weiß ich selber nicht. Aber ich begegnete einigen Kolonisten, die ich fragte, ob denn kein anderer Weg auf die Straße nach Moskau und nach Kiew führe.

„Ich wüsste wohl einen Weg“, sagte ein junger Bauer, „aber ich fürchte, dass, wenn man uns ertappte, wir Beide niedergeschossen würden! – Ich mag Ihnen diesen Weg auch gar nicht zeigen, da Sie es doch vielleicht wagen möchten, sich durchzupfuschen, und wenn Sie dabei erschossen würden, hätte ich es auf der Seele!“ Er sprach’s und ging mit wichtiger Miene seines Weges.

So possierlich mir auch dieser Mensch Anfangs vorkam, so dünkte mir am Ende doch, dass das, was er sagte, gar nicht so lächerlich sei.

Ich war nicht mehr weit vom Stadttor entfernt, als mir ein verabschiedeter Oberst begegnete, den ich schon früher einmal gesehen und gesprochen hatte.

„Schon so früh spazieren gewesen!“ sagte er lächelnd zu mir. Ich erzählte ihm mit wenig Worten, was mein frühes Spazierengehen für eine Bewandtnis habe. Kommen Sie mit mir, sagte er, ich will der Wache befehlen, dass man Sie passieren lasse. Ich wollte ihn von dem schlechten Erfolg überzeugen, den eine solche Unternehmung notwendig haben müsse; allein er befand darauf, dass er nun einmal der Wache befehlen wolle. Trotz meiner peinlichen Lage musste ich über den Hochdünkel dieses Mannes lächeln, wie man über einen Oberst lächeln würde, der sich anschicken wollte, mit seinem Regiment einem ganzen feindlichen Armee-Corps eine vollständige Niederlage beizubringen. Ich ging jedoch mit ihm.

Wir kamen an die Anhöhe. Die Wache wies Jeden ohne Ausnahme zurück. Der Offizier trat wieder hervor, und der Oberst erzählte ihm mein Schicksal, sein Befehl war bald in Bitte übergegangen, aber es half Alles nichts. Und wenn der Feldmarschall käme, er müsste zurück! versetzte der Offizier.

Ein Mann, der auch gut deutsch sprach, und der ein Stück von Politiker zu sein schien, stand neben uns und hörte aufmerksam zu, was gesprochen wurde. Man kennt das Wesen der Cholera noch gar nicht, sagte er, ohne dass er gefragt wurde, dass diese Krankheit ansteckend ist, ist wohl durch Tatsachen erwiesen; allein mehrere berühmte Ärzte behaupten das Gegenteil hiervon. Um nun durch Scheingründe nicht irre geleitet zu werden, erging an alle Ärzte, welche die Cholera schon beobachtet haben, und Bericht über ihre Resultate abstatten müssen, der strengste Befehl: mit keinem einzigen Beweisgrund die Nichtansteckung dieser Krankheit zu verteidigen.

Man sieht also die Cholera wie die Pest an, der man durch Vorsicht und andere zweckmäßige Mittel Schranken zu setzen vermag. Wahrscheinlich sucht man Zarskoje Seló, als den Sommersitz der kaiserlichen Familie, vor dieser abscheulichen Krankheit so sauber als möglich zu halten. Und solch’ ein Verfahren finde ich sehr weise! so der Politiker.

„Gibt es denn keinen andern Weg, auf welchem ich die Reise nach Kiew antreten könnte?“ fragte ich in Gegenwart der drei Herren.

So viel ich weiß, sagte der Oberst, gibt es keinen andern. Der Politiker schwieg und der Offizier entfernte sich schweigend, als ob er meine Frage gar nicht gehört hätte.

Der Oberst bot mir nun ein Zimmer in seiner Sommerwohnung an, die nicht weit von hier lag. „Was sollen Sie jetzt in der sturmbewegten Stadt Petersburg machen!“ sagte er. „Die Cholera oder die Ansicht darüber kann schon in den ersten Tagen eine andere Wendung nehmen, und die Absperrung dieses Weges dem Verkehr wieder öffnen. In meiner Wohnung, die hier so nahe liegt, sind Sie früher davon in Kenntnis gesetzt, als wenn Sie in St. Petersburg wohnten.“ Ein solches Anerbieten in meiner fatalen Lage abzulehnen, wäre eine Torheit von mir gewesen, daher nahm ich es gleich an und ging mit ihm in seine Wohnung, die an einem herrlichen Lustwäldchen lag. Er räumte mir ein schönes Zimmer ein. Ich machte ihm ein eben so schönes Präsent, für das er mich wohl einige Wochen gut hätte bewirten können.

Drei Tage lebte ich hier. Ich trieb mich fast beständig in dem schattenreichen Gehölze umher. In die Espen schnitt ich den teuren Namen: Amalia, mit ihr vertrieb ich mir die Zeit in der süßen Einsamkeit. Viel tausend herzliche Seufzer schickte ich ihr, der Entfernten; wie selig waren meine Träume, in denen nur sie, allein lebte!

Am dritten Abend meines Aufenthalts besuchte ich jeden Ort, wo ich gesessen und selig geträumt; – aber es war eine Veränderung in meinem Innern vorgegangen: es wurde mir so bange, so schwül, so unbeschreiblich unheimlich in diesem sonst so freundlichen und schattenreichen Lustwäldchen. Furchtbare Ahnungen, die aber auf kein bestimmtes Objekt deuteten, das ich zu fürchten hätte, machten mir den Ort meiner süßen Träume zu einem Orte der Schrecken. Ich konnte mir gar keinen Grund angeben von dem, was meine Seele so mit Furcht erfüllte.

O Mensch, spreche deiner Seele keine Ahnungen ab, sei auf deiner Hut, wenn du ihre Annäherungen fühlt, unterdrücke sie nicht frevelhaft oder aus Überklugheit: denn dein Ich ist ein Abgrund, den du selber nicht zu ergründen vermagst!

Konnte meine widerwärtige Lage, die der Leser kennt, die Ursache dieser entsetzlichen Furcht sein, die am dritten Abend meines Hierseins so gewaltig auf mich eindrang? Nein! und abermals nein! Der unschuldige Unglückliche, der an Gott und Tugend glaubt, steht furchtlos und unerschütterlich wie die Wahrheit da, und möchten auch alle Mächte des Schicksals auf ihn einstürmen! Die drückende Angst, o, sie war nichts, als eine dunkle Warnung vor dem Gewitter anderer Art, das an dem Horizonte meines Schicksals aufgezogen war: einen andern Zufluchtsort zu suchen, ehe es ein entsetzliches Element niederschmettere! In Moskau löste sich mir das geheimnisvolle Rätsel, der Leser soll es erfahren. Am vierten Tage trieb mich diese unsichtbare Gewalt in aller Frühe zu jener Anhöhe hin. Die Wache wies Jeden, wie früher, unerbittlich zurück. Die Unmöglichkeit, durchzukommen, fand mit schrecklicher Gewissheit vor mir. Wohin jetzt?.... Vor mir Felsenscheitel, die kein Adler zu überflügeln vermochte – zur Seite ein Abgrund, der mich zu verschlingen drohte – hinter mir – ach, der sturmbewegten Stadt war ich nahe genug, um es zu vernehmen, wie Seuche und Raserei ihre Opfer dort würgten. Fast zehntausend Menschen erlagen ihnen in so kurzer Zeit!

O du Genius des Lichtes! ich flehe dich an: lasse das Bild meines Erlösers, eine Morgenröte aufgehen über meinem nächtigen Schicksale! Lasse den verschwundenen Stern wieder leuchten, wie einst den Weisen, in dem schaurigen Dunkel meines Glaubens! –

So seufzte ich einsam und wandte meine Schritte wieder gen Petersburg, ohne zu wissen, wo ich hingehen sollte.

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

Das heutige Russland

Das heutige Russland

Mutterliebe

Mutterliebe