Russisches Leben - 5. Der Graf aus Nowgorod

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,
Die Stunden, die mir nach der schweren Arbeit zu meiner Erholung übrig blieben, verlebte ich im Kreise einer höchst achtbaren Familie, die ein sehr eingezogenes Leben führte, und deren Namen ich nur mit Hochachtung nennen kann. Hier wurde ich geliebt, wie ich geliebt sein mag. Da in diesem Kreise nur deutsch, selten französisch und niemals russisch gesprochen wurde, so hatte ich auch hier keine Gelegenheit, von dieser schweren Sprache etwas zu erlernen. Den meisten in Russland lebenden Ausländern geht es eben so, zumal in St. Petersburg, obgleich viele von ihnen in solchen Beziehungen stehen, dass es einem unbegreiflich ist, wie ihnen diese Sprache, die sie täglich hören, förmlich fremd bleiben kann. Die russische Literatur enthält noch einen zu großen Mangel an Schätzen, als dass sie den ausländischen Gelehrten anzufeuern vermöchte, diese Sprache, deren Studium ihm nur äußerst wenig neue Ideen, Begriffe, Kenntnisse und Formen verschaffen kann, zu erlernen. Den Nichtgelehrten spricht sie in der Regel deshalb nicht an, weil sie unstreitig die schwerste aller lebenden europäischen Sprachen ist. Dazu kommt nun noch, dass die meisten, z. B. die Deutschen, Schweden, Franzosen und auch die Engländer in St. Petersburg zu viel Gelegenheit haben, ihre Muttersprache zu sprechen. Es ist etwas Gewöhnliches, das man hier hört: „Ich habe weder Zunge noch Ohr für das Russische!“ Und so leben die meisten Ausländer Jahre lang hier und können sich nicht einmal verständlich machen, wenn sie bei einem Russen etwas kaufen wollen. Eine Anekdote, die wir hier erzählen wollen, ist bezeichnend dafür. Die höchsten Polizeibeamten in Russland werden „Polizmeister“ genannt. In St. Petersburg, Moskau und Warschau hat man Ober-Polizmeister, denen das Prädikat „Exzellenz“ zukommt, weil sie in der Regel Generalmajor sind, und sich zur aktiven Armee zählen. Jeder russische General ohne Ausnahme, sowie auch alle Wirklichen Staatsräte werden mit „Exzellenz“ angeredet. In allen andern russischen Gouvernementsstädten, heißen die Polizeichefs schlechtweg: Polizmeister und stehen im Range eines Stabsoffiziers. Die russische Sprache enthält sehr viele rein deutsche und auch solche Wörter, die aus deutschen und französischen zusammengesetzt sind, z. B. Kammerlakai, Ordonnanzhaus, welches letztere im Russischen sehr drollig klingt, da der Russe unser h nicht aussprechen kann, indem er keinen Buchstaben in seinem Alphabet hat, mit welchem der deutsche Hauchlaut wiedergegeben werden könnte, er ersetzt ihn durch eins seiner beiden g, in der Aussprache unserm g ähnlich und spricht: ordonnanzgaus. Der Genitiv ist ordonnanzgausa, der Dativ ordonnanzgausu, der Akkusativ wie der Nominativ, der Instrumental, ordonnanzgaujom, und der Präpositional, o ordonnanzgausä! Auch einen Vokativ hat die russische Sprache, (swatelnij padeg,*) der, mit einigen Ausnahmen, dem Nominativ immer gleich ist. So dekliniert der Russe auch unsere Wörter: Schlafrock, Mundstück (dem er aber den Umlaut nicht gibt), Kutscher, Kammerdiener, Kammerherr, wo das h wieder durch g ersetzt wird, und hundert andere; bei diesen drei letzteren aber, welche lebende Wesen bezeichnen, ist der Akkusativ dem Genitiv gleich, während bei leblosen Dingen der Akkusativ dem Nominativ gleich ist.

*) Dieses g, in der Aussprache unterschieden von dem erstgenannten, kann der Franzose mit seinem g und der Engländer mit seinem sh reiner wieder geben, als wir Deutsche mit unsern Zeichen, denn unser g klingt anders und ich zu scharf. Doch wird ersteres in der Aussprache dem russischen g dann ähnlich, wenn es in einem Worte hinter dem r steht, z. B. in Sarg, Burg, wo es unsere besten Dichter auch mit ch reimen. Wir führen das für Leser hier an, welche russische Wörter, in denen dieses g vorkommt, besser aussprechen wollen, als es sonst zu geschehen pflegt. Z. B. Mugik (Bauer), Géna (Frau), Samodergez (Selbstherrscher), wo es wie ich und fast wie sich klingt. Alle Gattungsnamen werden im Russischen mit kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben.

Solche Eigenheiten hat die russische Sprache. Die Anekdote ist folgende: Ein Ausländer wurde einmal zum St. Petersburger Ober-Polizeimeister gerufen; – zu ihm gekommen, redete ihn dieser in russischer Sprache an. „Ich spreche nicht russisch“, war die Antwort, „ich bitte Ew. Exzellenz gehorsamst, die Frage in deutscher Sprache zu wiederholen.“ – Sei es nun, dass dieser General nicht gut deutsch sprach, oder nicht deutsch sprechen wollte, genug, er fragte abermals in russischer Sprache, und da er wusste, dass der Ausländer sich schon seit vielen Jahren in Russland aufhielt, so bestand er darauf, ihn zu verstehen und ihm in russischer Sprache zu antworten. Allein vergebens; der Ausländer bat, man möge deutsch mit ihm sprechen. Endlich wurde ein Dolmetscher herbeigerufen, durch welchen er gefragt wurde, ob er sich denn nicht seit lange in Russland befände. – „Erst seit vierzig Jahren!“ antwortete der Deutsche phlegmatisch.

Ich kannte einige Gelehrten, welche die griechische, lateinische, auch andere lebenden Sprachen meisterhaft zu handhaben verstanden, die aber ein ganz possierlicher Gegenstand auf ihren Lehrstühlen wurden, wenn sie ihre Vorlesungen den russischen Studenten in der vaterländischen Sprache verdeutlichen wollten, ungeachtet die sich schon Jahre lang im russischen Staatsdienst befanden. Das ist in neuerer Zeit, als man anfing, alle Ausländer so schnell als möglich zu russifizieren, anders geworden. Wer seit dem ein Amt begleiten will, muss die russische Sprache verstehen. So kannten wir auch einen Medizinalinspektor, der es im Range bis zum Wirklichen Staatsrate brachte, und doch kein russisches Wort richtig schreiben konnte. Wer sich einmal in Russland niedergelassen hat, mag er einem Stande angehören, welchem er wolle, handelt sehr unweise, wenn er die russische Sprache nicht einiger Maßen erlernt, weil er in Widerwärtigkeiten geraten kann, in denen er seines Lebens nicht froh wird, wenn er nicht russisch versteht. In St. Petersburg sprechen viele Beamten deutsch und französisch, daher kann man hier, in so manchen Fällen, die einem begegnen, ohne die russische Sprache leicht fertig werden; so leicht aber geht es in der Provinz nicht, wo die wenigsten Beamten deutsch oder französisch verstehen, und wo es nicht selten gänzlich an Dolmetschern fehlt, – und so kann es einem manches Mal traurig gehen, wenn man nicht sprechen, nicht antworten kann; wie denn das in allen fremden Ländern zu geschehen pflegt. Es sollte sich demnach ein jeder in Russland lebender Ausländer zur Pflicht machen, diese Sprache wenigstens einigermaßen reden zu lernen.

Zu der mächtigen Sehnsucht nach Kiew, die ich schon gleich beim Antritt meiner Reise von Kopenhagen aus hegte, kam auch noch eine kleine Notwendigkeit, die mich dahin rief, und über dem fühlte ich mich im zweiten Jahre meines Aufenthalts in St. Petersburg fast beständig unpässlich, heftige Kopfschmerzen waren meine tägliche Plage.

Das anstrengende Arbeiten und die Versäumnis, mich täglich in freier Luft zu bewegen, mögen wohl mehr dazu beigetragen haben, als das, besonders im Herbste und Frühjahre ungesunde Petersburger Klima. Nach der Vollendung meiner Arbeit wäre ich gewiss dem Drange nach der Ferne gefolgt, hätte ich mich an jene mir unvergessliche Familie nicht so gewaltig angezogen gefühlt. Ach, es ist schwer, edle Menschen zu finden! und wie sollte es dem Herzen, das sie endlich gefunden, nicht schwer werden, sich wieder von ihnen zu trennen? Doch mein Unwohlsein nahm mit jedem Tage zu, obgleich ich dabei aussah, wie die Gesundheit selbst. Endlich konnte ich dem Drange nicht mehr widerstehen, und ohne meinen teuren Freunden ein Wort gesagt zu haben, eilte ich eines Morgens zu dem Polizei-Offizier (Nadsiratel) des Stadtteils, in welchem ich wohnte und verlangte den nötigen Schein, zur Beglaubigung, dass Niemand eine Forderung irgend einer Art an mich habe die meiner Abreise hinderlich sein könnte. Den Schein musste der Polizeiinspektor (Tschassnü Pristaw), der in einem andern Hause sein Bureau hat, unterschreiben. Dieser Formalität ist Keiner überhoben, der irgend eine russische Stadt verlassen will. Wer aber ins Ausland reist, muss dabei auch noch seinen Namen dreimal in der Hauptzeitung veröffentlichen lassen. Mit diesem Schein begab ich mich in das Bureau für Ausländer, wo Pässe für das Inland ausgefertigt werden, eine Behörde, welche die höflichste ihrer Art ist, die ich in Europa angetroffen habe. (Pässe für das Ausland erhält man in der Kanzlei des General-Gouverneurs.) Es waren, wie gewöhnlich, viel Ausländer hier, und ich musste etwa eine halbe Stunde auf meinen Pass warten. Einige Minuten mochte ich einen Stuhl in Besitz gehabt haben, als mich ein Mann, der neben mir saß, anredete, wodurch ich erfuhr, dass auch er einen Pass für sich und seine Familie nach Kiew ausfertigen ließ. „Es wäre mir überaus angenehm“, sagte er, „wenn wir zusammen reisen könnten, da es doch gut ist, wenn in einer Reisegesellschaft, die meist aus Damen besteht, sich auch einige Herren befinden; meine Familie ist ziemlich groß: ich, meine Frau und fünf Kinder, unter welchen die drei ältesten erwachsene Mädchen sind. Und es wird auch noch ein achtzehnjähriges russisches Fräulein, das sich für ein Kloster in Kiew bestimmt hat, mitreisen.“ – Das ist ja allerliebst! dachte ich, dein Schicksal hat dich in einer günstigen Stunde hierher getrieben; denn ich wusste ja noch gar nicht, wie ich reisen sollte, ob mit der Post oder mit einem Fuhrmanne, deren in St. Petersburg zu jeder Zeit Hunderte, zum Fahren bereit, anzutreffen sind: so rasch war ich zu Werke gegangen, um meinem mächtigen Drange zu folgen, um mich von meinen Teuren loszureißen! und so rasch musste es geschehen, wenn ich meinem Leiden Grenze setzen wollte. Der Mann hieß Röhr. Ich nahm sein freundliches Anerbieten an, indem eine Forderung überaus billig war, und so wurden wir auf der Stelle einig. Ich bin schon oft in Gesellschaft mit Frauen gereist und kenne die Unbequemlichkeiten, die man sich in einer solchen Reisegesellschaft gefallen lassen muss, recht gut; allein ein edler, gebildeter Mann unterwirft sich ihnen recht gern, weil nach der Meinung des anthropologischen Kant der Mann mit viel zärtlicheren Gefühlen von der Natur ausgestattet ist, als das Frauenzimmer; denn eben darin, dass es dem Manne so manche Unbequemlichkeiten, deren es ihn in vielen Fällen recht gut überheben könnte, zumutet, und denen sich dieser, wenn er edel ist, gern unterwirft, findet der scharffinnige Philosoph den Grund für seine Behauptung. Sie lächeln, meine schönen Leserinnen? aber erröten sie nicht über diese Wahrheit! der Mann ist auch mit mehr Mut und Kraft von der Natur ausgestattet, als das Frauenzimmer, daher liegt ihm auch ob, mehr zu tragen.

Unterdes war der Pass für Herrn Röhr ausgefertigt, und nachdem er mich durch einige Bemerkungen mit der Lage seiner Wohnung bekannt gemacht, und ich ihm die meinige bezeichnet hatte, verließ er das Bureau mit der Hoffnung, mich bald reisefertig in seinem Hause zu sehen. Gleich darauf erhielt auch ich meinen Pass. Ich ging nach Hause, um meine leichte Habe zu ordnen, und sodann meine Reisegesellschaft in Augenschein zu nehmen; allein ein heftiges Kopfweh machte mich unfähig, weder das eine noch das andere zu tun. Die Ruhe ist das vorzüglichste Mittel wider jede Art von Kopfschmerz, daher legte ich mich nieder. Es war mir nicht möglich, an diesem Tage irgend ein Werk zu vollbringen. Am andern Morgen stand ich sehr frühe auf; ich fühlte mich recht wohl, schrieb einige Briefe nach Deutschland und auch einen nach Kiew, an einen Mann, dem ich schon früher empfohlen worden war. Bald darauf hatte ich meine Habseligkeiten in Ordnung gebracht. Es war an einem Feiertage. Ich zog meine besten Kleider an, setzte meinen neuen Hut auf, den ich erst vor drei Tage bei Zimmermann für 25 Rubel B. Affg. (1 Pfd. Sterling) gekauft hatte und stand eben im Begriff zu meinen teuren, Freunden zu eilen, um sie von meinem raschen Entschlusse in Kenntnis zu setzen, als Herr Röhr in mein Zimmer trat. Es war schon gegen elf Uhr Morgens. Warum hatten wir nicht gestern das Vergnügen, Sie bei uns zu sehen? fragte er. Ich entschuldigte mich und sagte ihm die Ursache hiervon. „Haben Sie ihren Pass schon erhalten?“ Ich bejahte dies. „Nun Gott lob! dass Sie ihn haben!“ rief er freudig aus. „Wie das Gerücht geht, ist die Cholera hier ausgebrochen; gestern wusste man noch nichts von diesem schlimmen Ereignisse, das indes schon seit einer Woche eingetreten ist – man verheimlichte es, so lange man konnte. Die ganze Stadt ist von Angst und Schrecken erfüllt. Wie froh bin ich, dass wir unsere Pässe schon haben! Nun kommen Sie doch gefälligst mit nach meiner Wohnung; die Kibitken*) stehen auf dem Hofe, man ist mit Aufladen beschäftigt, und sobald die Fuhrleute kommen, wird sogleich fortgefahren.“ – Das kam mir freilich ganz unverhofft! wie war da an Abschiednehmen und Kirchengehen zu denken, zumal Herr Röhr mich auf das inständigste bat, doch sogleich mit ihm nach Hause zu gehen. Ich tat also, wie er es wünschte und begab mich samt meinen Effekten nach seiner Wohnung. Auf dem Hofe angekommen, sah ich hier fünf oder sechs Kibitken, die aber noch ohne Pferde dastanden. Männer die dabei beschäftigt waren, luden auf Befehl des Herrn Röhr meine Habseligkeiten sogleich auf; nur einen kleinen Mantelsack, der meine Reisekleider enthielt, ließ ich in die für mich bestimmte Kibitke legen, um sie bei Gelegenheit anzuziehen. Jetzt gingen wir in das Zimmer, wo die ganze Reisegesellschaft beisammen war; auch das russische Fräulein war hier zu sehen. Es war, zu meinem Erstaunen, die junge Russin, mit der ich von Dorpat nach St. Petersberg reiste. Alle schienen sich herzlich zu freuen, dass ich meinen Pass hatte und mitfahren könnte. Die drei ältesten Töchter waren von hübscher Gestalt. „Wir erwarten schon seit drei Stunden die Fuhrleute mit den Pferden, und sobald sie kommen, wird auch gleich fortgefahren! sagte die älteste voll Freude und Ungeduld wie ein Kind, das an die Feiertage denkt, zu denen ihm etwas Schönes versprochen ist. Ich empfand hier keine Langeweile, der Eine und der Andere suchte mich so gut als möglich zu unterhalten. Aber dass ich so plötzlich St. Petersburg verlassen sollte, ohne von meinen Teuren, die von meinem raschen Entschluss nichts ahnen konnten, Abschied genommen zu haben, das fing mich sehr zu beunruhigen an; denn ich wusste ja, welche Sorgen ich ihnen dadurch verursachen würde. Was werden sie denken, was werden sie sagen, wenn du nun so plötzlich verschwunden sein wirst? und in einer so sturmbewegten Zeit! – Man bemerkte meine Gemütsbewegung und fragte, was mir fehle. Ich gab die Ursache meiner Unruhe an. „Schreiben Sie doch einen Brief an Ihre lieben Freunde, ich werde Ihnen sogleich Schreibmaterial herbeischaffen, und will auch den Brief befördern, wenn es Ihnen gefällig ist,“ sagte die älteste Tochter und lief zur Türe hinaus. Es ist ein wohltuendes Gefühl, Menschen, die einem Beweise ihrer Freundschaft gegeben haben, vor der Abreise noch ein Mal zu sehen, noch ein Mal an das dankbare Herz zu drücken! Da mir die Saumseligkeit der russischen Fuhrleute vor der Abreise, indem sie oft viele Stunden, ja Tage lang auf sich warten lassen, bekannt war, so entschloss ich mich, selbst zu meinen Teuren zu gehen, um sie mündlich von meiner bevorstehenden Reise zu unterrichten, ein Unternehmen, welches, zufolge der Mittel, die einem hier zu Gebote stehen, leicht ausgeführt werden konnte, ohne schlimme Folgen zu haben. –

*) Unter Kibitke versteht man ein vierrädriges Fuhrwerk, das ein mit Matten bedecktes Dach hat. Hat das Fuhrwerk kein Dach, nennt man es auch Teläschka oder Teläge. Wer in der Provinz per Post reist, muss sich auch mit solchem Bauernwagen begnügen, indem die Post keine anderen Equipagen gibt, mit Ausnahme auf den Hauptstraßen von St. Petersburg nach Moskau, nach Riga und nach Warschau, wo mitteleuropäische Postwagen eingeführt sind.

Es gibt nämlich hier eine Menge von Iswoschtschiken (Fiakern), im Winter wenn die Bauern mit ihren Schlitten zur Stadt kommen, gewiss 20 bis 30.000, die einen für ein Billiges herum fahren, und welche man in allen Straßen zu jeder Zeit antrifft. Fährst du mit einem solchen Iswoschtschik schnell hin und zurück, dachte ich, so kann dieser Abschiedsbesuch von keinen schlimmen Folgen fein, und du hast deine Lieben auch noch einmal gesehen. Dieser Gedanke kam mir nicht mehr aus dem Sinn. Nennt man einem solchen Iswoschtschik nur die Straße, wo man hin möchte, so weiß er auch schon, was man will, und er fragt gewöhnlich: „tolko tuda?“ (nur bis dahin?) Man antwortet hierauf: tollko! (nur) wenn man nicht weiter will – und: i nasadj (und zurück) wenn man wieder zurückfahren will. Nach solch’ einer Frage und Antwort gibt er den Preis an, den er für seine Fahrt haben will, weil man ihn so gewöhnt hat, damit er nach vollbrachter Fahrt nicht unverschämt im Fordern sein kann, wie er es im entgegengesetzten Falle zu sein pflegt; denn bestimmte Preise dieser Art, wie in andern Ländern eingeführt sind, finden in Russland nicht Statt. Ist man nun mit dem Preise zufrieden, so setzt man sich ohne weiteres auf; ist man damit nicht zufrieden, so bietet man ihm das, was man geben will, und er sagt in diesem Falle gewöhnlich: Iswoltje ssaditssä! (es beliebe Ihnen aufzusitzen) und so geht’s vorwärts. Ich hatte berechnet, dass ich auf solche Weise nicht mehr als höchstens 30 Minuten brauchte, um von meinen Lieben Abschied zu nehmen und nach Verlauf dieser Zeit wieder an Ort und Stelle zurück zu sein. Ich fasste diesen Entschluss und sagte zu meiner Gesellschaft, dass ich unmöglich abreisen könne, ohne vorher meine Freunde gesehen zu haben; dass ich aber, so Gott wolle, binnen 30 Minuten zurückgekehrt sein werde; und so eilte ich zum Zimmer hinaus. – „Mein Gott! es könnte Ihnen ein Unglück begegnen!“ riefen. Alle. Ich aber sah und hörte nicht, sondern lief zum Hof hinaus. Auf der Straße sah ich sogleich einen Iswochtschik, dessen Pferd und Droschke meinem Wunsche entsprachen. Ich nannte ihm den Ort, wo ich hin wollte. „Tollko tu da?“ – „i nasadj!“ – „Rubl d'wadzat!“ (einen Rubel zwanzig Kopeken Kupfer oder B. Assg.) Ich zeigte ihm einen halben Rubel Silber (nach damaligem Cours einen Rubel neunzig Kopeken) mit der Deutung, dass ich ihm diesen geben wolle, wenn er recht schnell fahren würde, denn mit Worten ihm dies zu sagen, war ich nicht im Stande, solche Fortschritte hatte ich in der russischen Sprache gemacht! – „Iswolltje saditsjä!“ sagte er mit lächelnder Miene. Ich setzte mich auf, er trieb das Pferd an, dass es fast im Sprunglauf über das Straßenpflaster dahin rannte. In der Tat, eine seltene Erscheinung! denn ich erinnere mich, dass ein Spaßmacher sagte: „Wenn ein Dummkopf einmal einen klugen Geldanken bekommt, so gleicht das einem Iswoschken-Pferde, das einmal in den Galopp kommt.“ – Ich traf meine Lieben zu Hause, unterrichtete sie von meiner Reise und kehrte, ohne mich länger als drei Minuten bei ihnen aufgehalten zu haben, wieder zurück. Ich kam wohlbehalten im Hofe des Herrn Röhr an, sah nach der Uhr und fand, dass ich zu diesem Abschiedsbesuche nicht mehr als 26 Minuten gebraucht hatte; aber die Kibitken waren hier nicht mehr zu sehen. Ich ging in jenes Zimmer, es war, außer einer alten Russin, Niemand mehr darin. „Sie sind alle fortgefahren, sagte die Alte, so viel ich sie verstehen konnte. Ja altes Mütterchen, dachte ich, das brauchst du mir nicht erst zu sagen. In diesem Augenblicke fühlte ich es, wie noch nie, was es heiße, wenn man in der Sprache eines Landes, in welchem man lebt, so erbärmliche Fortschritte gemacht hat. Das alte Weib sagte das eine und das andere zu mir, ich aber verstand nichts davon. Ein unheimliches Gefühl bemächtigte sich meiner. Ich kehrte zu meinem Iswoschtschik zurück, den ich noch nicht bezahlt hatte, konnte mich ihm aber gar nicht verständlich machen, was mit mir geschehen war, und wo ich hin müsse; er nahm sein Geld und fuhr weiter. Ich wurde wieder ruhiger, denn nach meiner Berechnung konnten die Kibitken des Herrn Röhr noch gar nicht zur Stadt hinaus sein, selbst dann nicht, wenn auch die Fuhrleute mit den Pferden in demselben Augenblicke, als ich mich auf die Droschke setzte, erschienen und nach dem Anspannen sogleich fortgefahren wären; durch die Stadt gehen solche Fuhrwerke immer äußerst langsam. Ich kann noch nicht begreifen, wie es möglich war, dass ich nicht auf den Gedanken kam, jenen Iswoschtschik zu der alten Frau oder sie zu jenem zu führen, so hätte sie ihm gesagt, wohin er mich fahren müsste.

Ich ging weiter, wusste mich aber in den, mir ganz unbekannten Straßen gar nicht zurecht zu finden. Nur Menschen, welche man Glückskinder zu nennen pflegt, finden in gewissen Verhältnissen sogleich das, was die nötig haben. – Wie viele Fälle in meinem Leben haben mir bewiesen, dass ich zu diesen nicht gerechnet werden kann. Ich fragte in den drei Sprachen, welche nächst der Russischen am meisten in St. Petersburg gesprochen werden, nach dem Moskauer-Tor, durch welches ich passieren musste, allein vergebens, ich hätte auf russisch fragen müssen, dann hätte man mich verstanden oder verstehen wollen; so hätte jene Alte mich auch unterrichten können, um in Zeit von 6 Minuten meinen Platz in den Kibitken in Besitz zu nehmen, wie ich später erfuhr. – Es scheint unglaublich, dass ich in den für mein Schicksal so entscheidenden Augenblicken Niemanden fand, der mich verstand, da doch St. Petersburg mit Deutschen angefüllt ist. Ihre Zahl beträgt gewiss 30–40.000. Welch’ ein Gegenstand der Betrachtung für denjenigen, der an eine absolute Notwendigkeit oder an das Spiel des Zufalls glaubt! Ob es mir an Geistesgegenwart und überhaupt an Klugheit in dieser kritischen Lage gebrach, das sei dahin gestellt; ich aber habe keine Ursache, mir selber Vorwürfe zu machen, noch mich über den Unheil drohenden Gang meines Schicksals zu beklagen.

Nachdem ich einige Zeit in den Straßen umher geirrt war und vergebens nach dem Moskauer-Tor gefragt hatte, fand ich endlich Jemanden, der mich verstand. „Sie können gar nicht irre gehen“, sagte er, „wenn sie diese und diese Richtung nehmen, und sie sich immer rechter Hand halten.“ Der Mann gab sich alle Mühe, mir den Weg zum Moskauer-Tor zu bezeichnen. Ich ging und ging und fragte wieder und Niemand verstand mich. Endlich stieß ich auf einen Schweden oder Finnländer, dem ich mich recht gut verständlich machen konnte und erfuhr nun, dass ich mich in dem Labyrinthe von Straßen schon sehr verirrt hatte. – Sagen Sie doch gefälligst einem Iswoschtschik, dass er mich ans Moskauer-Tor fahre, bat ich ihn. Es geschah sogleich. Ich setzte mich auf und nötigte den Iswoschtschik, dass er schneller als gewöhnlich fuhr. Ich mochte etwa 6 Minuten so gefahren sein, als ich plötzlich Herrn Röhr samt seiner Frau und seinem bisherigen Hauswirte, den er auch seinen Freund nannte, in einer Kalesche sitzen sah. Sie fuhren mir vorüber, hielten aber sogleich an, als sie mich erblickten und winkten mir zu sich. Ich stieg sogleich von der Droschke, bezahlte meinen Fuhrmann, und setzte mich zu ihnen. Alle drei schienen sich zu freuen, dass sie mich wieder in ihrer Mitte sahen; aber ihr Gespräch, das sie führten – war unterbrochen und ich fühlte, dass meine Gegenwart. Ursache war, dass sie es nicht wieder anknüpfen. Man fragte mich über keinen Umstand. – Alle schwiegen, daher unterbrach auch ich das Schweigen nicht.
Endlich sagte Herr Röhr, „Haben Sie Ihre Freunde noch gesehen?“ – Ich bejahte das. „Wir sind bald nach Ihnen fortgefahren: wir drei in dieser Equipage, unsere Kinder und das russische Fräulein in den Kibitken. – Möchten wir doch eine glückliche Reise haben, mir ist seltsam zu Mute – mir ahnt nichts Gutes – und doch weiß ich keinen Grund von der Traurigkeit, die mich beherrscht, anzugeben.“

Ich suchte den Herrn Röhr so gut zu trösten, als ich es vermochte. Unterdes hatten wir das Moskauer-Tor erreicht. Es trat ein Unteroffizier an den Wagen und verlangte unsere Pässe. Wir gaben sie ihm. Nach einigen Minuten brachte er meinen Pass mit der Deutung zurück, dass ich passieren könne; aber mit dem Pass des Herrn Röhr zögerte man noch, warum, weiß ich nicht.

Möchten Sie nicht lieber Ihren Platz in den Kibitken in Besitz nehmen? Da können Sie sich mit unsern Kindern unterhalten – hier haben Sie lange Weile? . . so ließ Herr Röhr sich gegen mich vernehmen, als ich meinen Pass wieder eingesteckt hatte. Wo sind denn die Kibitken und ihre Kinder? fragte ich. – „Ei, die sind ja schon voraus!“ Ich erwiderte, dass sei unmöglich; denn ich sah auf meiner Uhr, dass noch nicht so viel Zeit vergangen war, als dass die Fuhrleute mit den Kibitken schon zur Stadt hinaus hätten sein können. „Sind Sie von Hause aus gerade hierher gefahren, oder haben Sie sich noch sonst irgendwo aufgehalten?“ – fragte ich ihn. „Vielleicht acht Minuten“, antwortete er, „länger haben wir bei unsern Bekannten, die wir noch besuchten, nicht zugebracht.“ – „Folglich habe ich die gegründetste Ursache, zu glauben, dass Ihre Kibitken noch in der Stadt auf dem Wege sind“, bemerkte ich, „denn solche Fuhrwerke gehen ja immer langsam, wie die Schnecke im Sande; Sie aber fuhren, wie ich sah, im starken Trabe, und ein Aufenthalt von bloß acht Minuten auf einem Wege von wenigstens einer Stunde, wie ich schließen kann, will so viel wie nichts heißen.“ – „Ja“, erwiderte er in einem sonderbaren Tone, „die Fuhrleute wissen den nächsten Weg durch die Stadt besser als wir. Sehen Sie dort in der Ferne! da fahren unsere Kibitken schon!“ Damit zeigte er von dem hohen Sitze seiner Kalesche auf Etwas, das sich in dämmernder Ferne auf der schönen Straße nach Zarskoje Seló langsam fort zu bewegen und den Kibitken ähnlich schien. „Das können die Ihrigen nicht sein“, sagte ich, „denn die müssen wir wenigstens so weit hinter uns haben, als Das, was Sie mir dort zeigen, vor uns ist.“ – „Und wenn es die meinigen nicht sind, so sind sie noch weiter voraus; denn dass sie schon zum Tor hinaus sind, weiß ich viel zu gut. Glauben Sie denn etwa, dass ich Sie belügen wollte?“ sagte er. „Vorsätzlich wohl nicht“, antwortete ich, „aber sie können sich ja irren!“ „Ich irre mich nicht!“ meinte er etwas ärgerlich; doch fügte er gleich wieder freundlicher hinzu: „Haben Sie nur die Güte diese Fuhrwerke dort einzuholen, so werden Sie sich überzeugen, wer von uns beiden im Irrtume ist.“ – Auffallend war mir, dass weder seine Frau noch ein Freund ein Wort dazu sagte, denn sie saßen schweigend in der Kalesche, und schienen kaum zu hören, was Herr Röhr mit mir sprach.

Gehen Sie gefälligst und holen Sie sie ein! Wir werden Ihnen bald nach kommen, sagte er nochmals, als ich schon aus seiner Equipage gestiegen war. Ich schritt ziemlich schnell vorwärts. Unterwegs machte ich mir die Sache zum Gegenstande einer gründlichen Betrachtung. Ich sah auf meiner Uhr, dass ich zu dem Besuche bei meinen Freunden und zu der Fahrt bis ans Moskauer Tor, kaum eine Stunde gebraucht hatte, und da es von Röhrs Wohnung bis hierher gewiss eine starke Stunde Weges ist, und die Fuhrleute so überaus langsam durch die Stadt fahren: so gelangte ich zu der festesten Überzeugung, dass die Kibitken noch nicht voraus sein konnten. Was mag den Mann bewogen haben, dachte ich, dass er mit Hartnäckigkeit das Gegenteil hiervon behauptet, und mich vorausschickt? Nach mancherlei Gedanken, die dabei in meiner Seele aufstiegen, entschied ich, dass Herr Röhr mit seinem Freunde über Dinge sprechen wollte, die ich als Fremder nicht zu hören brauchte. Das plötzliche Schweigen, das eintrat, als ich zu ihnen in die Kalesche stieg, bestärkte mich in meiner Schlussfolge. Dennoch beging er eine offenbare Lüge, um mich von seiner Kalesche zu entfernen. Das sprach nicht zu einem Vorteil, denn er hätte meine Entfernung auf eine andere Art bewerkstelligen können. Aber besitzt er auch diese Gabe, die nur dem geistreichen geschmeidigen Weltmanne eigentümlich ist? fragte ich mich wieder, um eine bessere Meinung von ihm zu gewinnen. Auch ist er zur Traurigkeit gestimmt, schaurige Ahnungen beschleichen seine Seele, er hat es selbst gesagt. Es gibt Momente im Leben, wo der Mensch nicht Herr über seine eigenen Worte ist, wo er Fragen beantwortet, von denen die Seele sich keine Vorstellung gemacht hatte. Solchen Gedanken gab ich Raum, auf dass sie alle um Entschuldigung für Herrn Röhr bäten. Ich will zurückkehren, und in einiger Entfernung auf ihn warten! sprach ich laut und drehte mich um. Jetzt sah ich, dass ich mich vom Stadttore schon sehr weit entfernt hatte, und das ich den Kibitken, die er mir als die seinigen bezeichnet, um mehr als die Hälfte näher gerückt war. Sie sind es, dachte ich, Herr Röhr hat Recht, ich habe mich in meiner Berechnung geirrt.

Wie oft irrt der Mensch in Dingen, die er mit mathematischer Gewissheit zu beweisen wähnt, wer hat das nicht erfahren! Ich will nicht aus Hochdünkel auf meine geschickte Berechnung in denselben Irrtum geraten! Mein langes Umherirren in den Straßen, ehe ich Jemanden fand, der mir den Weg zum Moskauer Tor zeigte und die Worte des Herrn Röhr, dass die Fuhrleute den nächsten Weg durch die Stadt besser wüssten als wir, sprachen jetzt für die Behauptung des obgleich verstimmten Mannes. „Und sind es diese Kibitken nicht, so sind sie noch weiter voraus, das weiß ich bestimmt“, sagte er. Damit eilte ich raschen Schrittes diesen Fuhrwerken entgegen, das schöne Juniwetter und die herrliche Landstraße nach Zarskoje Seló, unterstützten meinen eilenden Fuß. Ich hatte sie bald eingeholt, aber es waren die rechten nicht. Ich sah in der Ferne wieder etwas Ähnliches, sie sind es! sagte ich zu mir, und so eilte ich auch Diesem entgegen. Hingekommen sah ich, dass es Kibitken waren, aber nicht die des Herrn Röhr. Ich erblickte in der Ferne zum drittenmale solche Wagen. Eine unsichtbare Gewalt trieb mich vorwärts und schien mich zu jedem Rückschritte ohnmächtig zu machen. – Richtig gesagt, ich beschloss, auch diese noch einzuholen, um, wenn es die rechten nicht wären, auf demselben Wege wieder zurückzukehren, bis sie mir entgegen kämen. Allein so außerordentlich stark ich auch im Marschieren war, ging ich doch im Vertrauen auf meine physische Kraft zu weit, wie ich zu weit gegangen war, in der guten Meinung, die ich von Herrn Röhr hatte. Denn die Sonne neigte sich schon zu ihrem Untergange, als ich auch diese Kibitken erreicht und mich zum dritten Male getäuscht sah. Jetzt befand ich mich in der Nähe von Zarskoje Seló. Ich war müde, denn ich hatte gegen 21 Werst also 6 Stunden Weges zurückgelegt. – Sieben russische Werst machen eine deutsche Meile aus.

Tarantaß - Russlands Postkutsche

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Armenisches Büffelgespann

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Russisches Sittenbild

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Pferdeschlitten

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Eine Troika

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Drohsky-Fahrer bei der Teepause

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Personentransport im Winter

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