Russisches Leben – 9. Der bedauernswerte Reisende

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,
Es war gegen Mittag, als ich etwas einer Kibitke Ähnliches in der Ferne erblickte. Ich verdoppelte meine Schritte, und herangekommen, sah ich ein sehr jämmerliches Fuhrwerk: ein Pferd, so mager, dass man ihm, während es sich wie die Schnecke im Sande vorwärts bewegte, die Rippen im Leibe hätte zählen können, zog die Kibitke, deren Räder und ganzer Bau in solchem Zustande waren, dass man mit jedem Augenblicke den Zusammensturz dieses baufälligen Fuhrwerks erwarten konnte. Ein Mann, etwa dreißig Jahre mochte er gezählt haben, ein Tuch sorgsam um die Ohren gebunden, ein Frauenzimmer, das etwas älter war, und ein Mädchen von ungefähr zwölf Jahren, saßen in der Kibitke, welche, wie gesagt, von der ausgehungerten Mähre kaum fortgezogen werden konnte. Alle drei machten sehr saure Mienen. Neben der Kibitke ging ein Mann, auf deutsche Art gekleidet, der wohl schon so ziemlich über den Stillstand des menschlichen Lebens hinaus war, und der einen zehnjährigen Knaben an der Hand führte. Ich sah diesen Mann anfangs für einen Schneider an, der in der prachtvollen Residenzstadt St. Petersburg, wo alles Luxuriöse, das man sich nur denken kann, im Schwange ist, wohl aus der Mode gekommen sein mochte, und sich deswegen sein Brot in irgend einer Gouvernementsstadt des russischen Reiches suchen wollte.

„Wo geht die Reise hin?“ fragte ich ihn.
„Ach, du gerechter Gott! nach Orell soll sie gehen!“ rief er schmerzlich aus.
„Da haben wir ja ziemlich einen Weg“, sagte ich, „ich gehe nach Kiew!“
„Nach Kiew?“ staunte er, und sah mich mit etwas großen Augen an, „doch nicht in diesem Zustande? . . . Sie haben ja einen spahnneuen feinen Frack an und einen Hut nach der neuesten Mode; und das Pfefferröhrchen, das ist ja ein Spazierstöckchen und kein Reisestab auf einer so großen Reise!“
Nun, wie Sie es haben wollen; wenn Sie meinen, dass ich in solchem Zustande nicht nach Kiew reisen könnte, so denke ich dahin zu spazieren, sagte ich lächelnd.
„Ein schöner Spaziergang!“ rief er aus. „Wollen Sie etwa den Seume nachahmen? da haben Sie keine günstige Zeit und auch das Land nicht gewählt, wo man sich ein so sonderliches Vergnügen machen sollte. Hier in Russland müssen Sie viele Meilen weit gehen, ehe Sie ein Dorf antreffen, und was finden Sie da jetzt in der Fastenzeit? – Wasser, Brot, Kartoffeln, Grütze, Schnaps; freilich sind das Mittel, die Einen gerade nicht verhungern lassen, aber man will doch auch zuweilen eine kräftige Nahrung genießen, wenn man auf einem so großen Spaziergange begriffen ist. Allerdings kommen Sie auch durch Städte, wo Sie sich solche bereiten lassen können; allein Russland ist das Land nicht, wo man sich ein Vergnügen mit solchem Spazierengehen machen könnte, und daher glaube ich, dass demselben eine andere Ursache zum Grunde liegen muss, als bloße Sonderlichkeit.“
Sie irren sich nicht, mein Lieber, sagte ich, mein Spazierengehen ist eine Folge seltsamer Umstände, dich mich von meiner Reisegesellschaft und meinen übrigen Habseligkeiten trennten, ohne dass ich gegenwärtig weiß, wo sie sich befinden. – Jetzt erzählte ich dem Manne Alles, was mir seit den fünf Tagen begegnet war.

Ach, du mein gerechter Himmel! rief er aus, da vergesse ich ja einen Augenblick meine Lage, die so traurig ist, dass sich ein Stein erbarmen möchte! Mich ließ man auch nicht nach Zarskoje Seló, wodurch wir alle Sechs in die drückendste Not versetzt wurden. Aber wo ist denn der sechste, fragte ich, da ich nur fünf Personen erblickte. Rechnen Sie denn das Pferd nicht mit? das verlangt mehr als wir alle fünf! bemerkte er. Ja so!... Es waren also höchst dringende Geschäfte, die Sie in Zarskoje Seló hätten verrichten sollen? fragte ich.
„Ja, höchst notwendige Geschäfte!“ versetzte er. „Wenn es Ihnen nicht lästig fallen möchte, würde ich Ihnen den traurigen Gang meines Schicksals erzählen?“
Erzählen Sie, armer Mann, sagte ich, ich werde es mit Teilnahme anhören.
„Zuvor“ hub er also an, „muss ich Ihnen bemerken, wie Sie auch wohl wissen, dass es Künstler und Handwerker gibt, bei welchen das junge Volk dem alten vorgezogen wird.... Sie verstehen wohl? – und in dem Grade, wie die Modesucht herrschender wird, wird auch unser Einer von den jungen Zierlingen immer mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt! und so ging es auch mit mir. Ich habe allerdings schöne Zeiten in St. Petersburg verlebt, die ich unendlich besser hätte benutzen können, als ich es tat! Was war in der Residenz an der Newa für eine goldene Zeit, als der unvergessliche Krieg mit den Franzosen gewonnen und geendigt war! Es war in der Tat ein pomphaftes Schauspiel, das in der wunderbaren Stadt wohl schwerlich wieder aufgeführt wird! Kauf-, und Handelsleute, Gelehrte, Künstler, Handwerker und Tagelöhner aller Art, kurzum! ein Jeder, der nur arbeiten wollte, ganz besonders aber der Ausländer, hatte die Hülle und die Fülle zu tun. Und mit welchem ungeheuren Preise wurde die Arbeit bezahlt! Dem Künstler fehlten Gehilfen, und dem Handwerker Gesellen; sehr oft aber wurde Arbeit bestellt, die schnell fertig gemacht werden sollte, es möge kosten, was es wolle, und da gab man, ich übertreibe die Sache nicht, zu hundert Rubel (Kupfer oder Assignaten 5 Pf. Sterling) Trinkgeld den Gesellen, dass sie nur arbeiten möchten. Außerdem war derselben Gehalt unerhört groß. Welchen Vorteil die Meister gehabt haben mögen, lässt sich leicht denken! Viele haben die Zeit besser benutzt als ich, und sitzen nun da, wie der Vogel im Hanfsamen, sie leben auf eine glänzende Art von ihren Renten. Ja, es wurden Viele meines Standes so reich, dass sie vor lauter Übermut nicht wussten, was sie mit ihrem Gelde anfangen sollten; sie gingen nach Deutschland und kauften sich den Baron-Titel. Ich hatte also auch damals, indem ich schon etabliert war, recht viele und vorteilhafte Beschäftigungen und keine Familie. Freilich fehlte mir eine gute Hausfrau, ohne welche es in einer so geschäftigen Zeit nicht recht geht. Überdies, ich muss es, wenn auch nicht zu meinem Lobe, bekennen, dass ich durch die Sucht, Bücher zu lesen und zu studieren, mein Fach gänzlich vernachlässigt habe. Statt meinen Wirkungskreis, den mir Gott angewiesen hat, zu erweitern, habe ich die erforderlichen Mittel dazu und meine Zeit auf Bücherkaufen und Lesen verwendet. Allerdings schafft sich ein Geist, der Geschmack für das Schöne und Gelehrte hat, einen Genuss dadurch, der des materiellen Vorteils mehr als wert ist. Aber die Erfahrung lehrt auch, dass ein solcher Genuss am Ende Folgen hat, die auf unsere spätere Existenz einen höchst schlimmen Einfluss ausüben. Wenn man bedenkt, dass Gelehrte, deren Profession es ist, Bücher zu schreiben, während ihrer Arbeit fast verhungern, was soll dann aus dem Laien werden, der durch Schreiben und Studieren noch obendrein seinen Wirkungskreis vernachlässigt! Ich habe dies leider allzu früh erfahren müssen! Ich heiratete und bekam bald zahlreiche Familie, welche, wie die Kinder heranwuchsen, mir immer mehr und mehr kostete. Aus allen Teilen Europas strömten die Ausländer nach dem gesegneten St. Petersburg. Alles, Alles hat sein Ziel! Die Vögel waren schon fast ausgeflogen, und die Ausländer strömten desto zahlreicher herbei, gar nicht bedenkend, dass sie doch endlich flügge werden und dann!... Auf diese Weise wurde ich wie auch Andere meines Faches und Alters, immer mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, wir waren am Ende des pompösen Schauspiels nichts weiter, als Statisten, und waren sogar froh, dass wir noch solche Rollen spielen konnten. Unterdessen wurde ich immer älter und verlor immer mehr und mehr an der Gunst und dem Zutrauen meiner Gönner, denn ein Jeder richtet sich gerne nach der Mode, und alte Burschen, die Geld haben, wenden oft Alles an, um die Mode mitzumachen, um als junge Stutzer zu passieren! Und hierin liegt eben das schlimme Ding, das einen Alternden unseres Faches quält und herunter bringt! Der Mensch hofft immer; aber von Jahr zu Jahr ward’s mit meinen Umständen schlimmer. Nach dem Rate meiner Bekannten, entschloss ich mich seit lange, St. Petersburg zu verlassen und meine fernere Existenz in irgend einer andern Stadt des Reiches zu suchen, da es in den Gouvernements-Städten Russlands noch immer an guten Meistern aller Art mangelt. Ist man aber einmal in einer schlimmen Lage, so hält es mit dem Fortreisen gewaltig schwer, zumal, wenn man zahlreiche Familie hat. Man hat Schulden, und obendrein kein Geld zum Reisen! kein Fuhrwerk oder keine Mittel eins zu mieten. Erspart man sich Etwas, oder wird man durch einen günstigen Zufall in den Stand gesetzt, sich das Eine anzuschaffen, so fehlt es doch am Andern, ohne das man nicht reisen kann. Kurzum, es verging manches Jahr, ohne dass ich einen einzigen Schritt hätte tun können, meinem vorgesteckten Ziele näher zu treten. Endlich wurde ich, nachdem ich meine Schulden so ziemlich gedeckt hatte, in den Stand gesetzt, dieses Pferd samt der Kibitke für 50 Rubel B. Assg. oder 2 Pf. Sterling, zu kaufen, (armer Mann, dachte ich, das Pferd sieht auch nach 50 Rubel B. Assg. aus); nun blieb mir aber kein Groschen Geld übrig; man muss doch auch Zehrgeld haben! Das Pferd war gekauft, und dass ich es nicht wieder verkaufen wollte, lässt sich leicht denken. Der Hafer ist aber in St. Petersburg zu jeder Zeit schrecklich teuer, dessen ungeachtet musste das Pferd tagtäglich gefüttert werden, und wie noch gefüttert, da es so ganz und gar ausgehungert war. So hatte ich also wieder meine liebe Not mit dem Pferde!! Auf einmal, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, zu meinem Glücke oder Unglücke, wurden bei meiner Frau zwei Damenhüte für 50 Rubel bestellt. Ich muss Ihnen bemerken, dass meine Frau solche Produkte mit vielem Geschmacke zu verfertigen versteht. „Das hat uns der liebe Gott beschert“, rief sie freudig aus, „die Materialien für zwei Hüte, so wie man sie wünscht, habe ich vorrätig, ein Pferd mit der Kibitke haben wir auch, folglich können die 50 Rubel Reisegeld bleiben!“ Kaum waren die Hüte fertig, ließ ich auch sogleich einen Pass für uns ausfertigen. Die Herrschaft, die sie bestellt hatte, wohnt in Zarskoje Seló. Der Pass nach Orel war ausgefertigt, und in der Hoffnung, 50 Rubel für die Hüte als Reisegeld zu erhalten, fuhren wir aus St. Petersburg; zu unserem größten Jammer aber ließ man uns nicht nach Zarskoje Seló. So haben wir nun die beiden Hüte bei uns; aber wir haben keinen Groschen Geld. Gestern Abend fand meine Frau zu unser Aller Freude einen Rubel Kupfer (oder B. Assg) in ihrem Ridikule, von dem fiel gar nichts wusste, dass sie ihn hatte. Nun kehrten wir ein; ich verlangte für 60 Kopeke Hafer und Heu fürs Pferd und für 40 Kopeke Milch und Brot für uns. Am andern Morgen, nämlich heute in aller Frühe, verlangte der Wirt aber einen Rubel und sechzig Kopeken, weil das Pferd mehr Futter und wir mehr Essen, als wir begehrt, erhalten hätten. Lieber Freund, sagte ich zum Wirt, durchsuche alle unsere Taschen und auch unsere Kiste, stülpe die Kibitke um, und um! und findest du einen einzigen Groschen, so soll sie samt dem Pferde dein sein. Aus dieser Versicherung wurde es dem Burschen begreiflich, dass es ziemlich schlecht um unsere Finanzen bestellt sein müsse. Fahrt mit Gott! sagte er. Nun haben wir noch über 1.000 Werst zu machen und haben keinen Groschen Geld.“ –
„Armer Mann“, sagte ich, ihm gerührt die Hand drückend, „wenn ich Ihnen auch eine Unterstützung gewähre, so werden Sie doch nicht weit damit ausreichen. Der Unglückliche trifft in der Regel nur unter denen einen Mitleidigen, die am wenigsten zu geben haben. Aber nehmen Sie es an, so wenig es auch ist, denn es ist doch mehr wert als ein bloßes: Sie tun mir leid! Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück auf Ihrer Reise! Denn mit solchen schönen Redensarten und Wünschen suchen die Reichen nicht selten ihr hartes Herz vor den Armen zu verschließen, dem sie, manchmal mit einer Kleinigkeit Geld aus großer Not helfen könnten. Es sei so ihr Grundsatz . . . sagen Viele, damit sie bei so mancherlei Leiden der Armen ja nicht vom Mitleid bewegt werden möchten, was ihnen ein paar Groschen kosten könnte. Aber es ist Einer, der ihre Hartherzigkeit aufzeichnet; er hat es selbst gesagt und ich glaube ihm, denn er ist seinen Worten treu. Mögen die Lieblosen auch darüber lachen: sie werden am Ende auch darüber weinen.“ – Der arme Mann war bis zu Tränen gerührt. „Ja“, sagte er, „der es aufzeichnen wird, hat Sie in dieser Stunde zu uns geführt, um uns in unserm grässlichen Hunger zu erquicken, und uns zu trösten, dass wir Glauben behalten.

„Vertrauen Sie auf ihn, er wird Sie nicht verlassen!“ sagte ich. „Welcher Mensch war in seinem Leben nicht in einer bedauernswürdigen Lage, aus der er fast keinen Ausweg sah! denn ach, wie mannichfaltig sind unsere Leiden auf Erden! Wie Mancher war in seinem Leben in einer Gefahr, aus der ihn, nach menschlichen Ansichten, kein Erschaffener zu retten vermochte; aber wie unendlich verschieden find unsere Ansichten und Mittel von denen des Allmächtigen! Wie Viele haben in diesem Leben aus dem Kelche unsäglicher Schmerzen getrunken, und siehe da! als die Not am größten und die Schmerzen am heftigsten waren, kam Hilfe von oben, dem Vater der Barmherzigkeit. Vertrauen Sie fest auf Gott! Er wird den Gläubigen nicht verlassen! Die Zeit einer schweren Prüfung ist für Sie gekommen und sie wird auch vielleicht, wird gewiss bald mit Gottes Gnade wieder vorübergehen. Der Ihnen so manches Mal geholfen hat, der hilft Ihnen auch aus dieser traurigen Lage. Das Sprichwort: Ist die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten, ist aus der Erfahrung gegriffen.“ – „Ja“, sagte er mit bewegter Stimme, „über das Sprichwort: Not lehrt bieten, habe ich heute recht viel nachgedacht. Ach, wie langmütig ist doch Gott! Wenn es uns wohl geht, denken wir in der Regel wenig an ihn. Wie trocken ist unser Gebet, wenn wir keine Hauptsorgen haben! und wie selten ist in diesem Falle sogar das trockene Gebet! Wahrhaftig, wir würden nie inbrünstig beten können, wenn es uns die Not nicht lehrte. Ich habe heute recht viel an den ehrwürdigen Paul Gerhard und an ein schönes Lied: Befiehl du deine Wege usw., gedacht.“
„Also kennen Sie auch die Leidensgeschichte dieses frommen Mannes?“ sagte ich. „Wie sollte ich sie nicht kennen! Aber wie man in der Regel nur dann erst den ganzen und schönen Wert der Gesundheit kennen lernt, wenn man hoffnungslos darnieder liegt, also nimmt man auch gewöhnlich dann erst wahren Anteil an dem Leiden unseres Nächsten, wenn man selber vor Not nicht weiß, wo aus noch ein, oder wenn man seine eigene überstandenen Leiden sich recht lebhaft vorstellen kann. O, das Leiden macht auch eine Stufe in der Schöpfung der harmonischen Vollkommenheit aus, denn nichts ist schöner und rührender, als die Güte im Leiden, und die allerschönste Freude des Lebens ist, ein treuer Gefährte des Mitleids. Und kann, ohne selber zu leiden oder gelitten zu haben, ein solcher treuer Gefährte des Mitleids sein?“

„Es scheint“, sagte ich, „als ob Gott uns so mancherlei Leiden zuschicke, um uns zu lehren und beständig zu erinnern, dass diese arme Erde, der Wohnort aller Trübsal, unsere wahre Heimat nicht ist; dass die Welt einem Betrüger gleicht, der so viel verspricht und wenig hält, und wir uns deswegen beständig sehnen möchten nach Gott und seinen Wohnungen, die er für uns bereitet hat. Glückselig ist daher der Mensch, dessen Erziehung und Handlungen auf die wahre Religion gegründet sind; denn es gibt unvermeidlich heftige Schläge des Schicksals im Leben, die nur durch die Verheißungen des Erlösers, ertragen werden können; eine natürliche Geduld und Entsagung, ertragen sie nicht, ohne die Seele zu erniedrigen, ertragen sie nicht, so viele Beispiele man auch gegen diese Wahrheit aufzustellen sich bemühet. Vertrauen Sie, armer Mann, fest auf Gott! er ist noch immer derselbige Allgütige, der dem, von allen Menschen verlassenen Paul Gerhard, allen Leidenden vor ihm und nach ihm aus großer Not geholfen hat, und der auch Sie aus Ihrer Not erlösen wird. Gott hilft noch einem Jeden, im Schoße der Christenheit. Geborenen und Erzogenen, der den Glauben an die Erlösung, die durch Christum geschehen ist, nicht verloren hat, und dessen eingedenk, nicht verzagt in der Stunde der Prüfung, die wir nun einmal bestehen müssen. Wenn Gott, der Vater aller Wesen, auch gegen die gnädig und barmherzig ist, denen er das Geheimnis der Erlösung noch nicht geoffenbaret hat, so hat der Christ doch viele Vorzüge vor diesen, weil wir das offenbarte Geheimnis nur als die größte Gnade Gottes betrachten können. Welchen hinlänglichen Trost im Leiden hat der Christ vor jenen! Daher ist denn auch die größte Pflicht und Weisheit, diese Gnade nicht aus Stolz von sich zu weisen, damit dereinst nicht Juden und Heiden auftreten und uns verdammen! Vertrauen Sie fest auf Gott, seine Macht ist groß und hilft uns wunderbar; aber unterlassen Sie in der schweren Zeit der Prüfung nicht, ihre Kräfte mit denen des Allmächtigen vereint wirken zu lassen! d. h., tun Sie Alles, ungeachtet Ihrer gegenwärtigen Ohnmacht, in natürlichen Mitteln, tun Sie, was sie vermögen, und Gott wird mit helfen. So steht es z. B. in Ihrer eigenen Macht: die Räder Ihres Fuhrwerks, so oft Sie an ein Wasser kommen, zu begießen. Tun Sie es nicht, so tut es auch Gott nicht, und zwar deswegen tut er es nicht, weil eine solche Handlung von Ihnen verrichtet werden kann, denn die Kräfte der Geschöpfe müssen, wo sie etwas vermögen, den Kräften des Allmächtigen vorhergehen. Als Gott den Lazarus auferweckte, sprach er: „Hebet den Stein weg.“ Da er den Toten auferwecken konnte, hätte er ja auch durch einen einzigen Wink den Stein vom Grabe schaffen können; allein das tat er nicht, weil es die Menschen vermochten. Welch’ eine unerschöpfliche Tiefe der evangelischen Moral! Sie lächeln? und denken vielleicht: wenn es Regen gibt, so hat ja Gott ohne meine eigene Mitwirkung das Werk vollbracht. Wenn er aber nach seiner Weisheit noch lange keinen Regen gibt, so wird Ihr Fuhrwerk, dem man es ansieht, in dieser schrecklichen Hitze bald zusammen stürzen. Sehen Sie nicht, in welchem Zustande. Ihre Kibitke ist?“

„Ach ja! ich seh’ es wohl. Dass ich doch so gar übel d’ran bin!“ seufzte er tief auf. „Ich hatte noch einen Eimer aus Eisenblech, den ich aber vor einigen Stunden verkaufen musste; denn das arme Pferd zog seit vier Uhr und war ganz entkräftet: ich kaufte Hafer und Heu für das Geld.“

Jetzt richtete ich wieder mein Auge auf das Pferd und die Kibitke und auf die Drei, die darin saßen und dachte: die könnten es dem armen Tiere doch auch etwas leichter machen, und bei so schönem Wetter ein wenig zu Fuße gehen. Wem die ferneren Äußerungen dieses armen notleidenden Mannes etwas wunderbar vorkommen möchten, der bedenke, dass uns oft Dinge wunderbar erscheinen, die doch im Grunde ganz natürlich und einfach sind; das Wunderbare dieser wird uns klar, sobald die optische Täuschung schwindet, oder die befangene Einbildungskraft uns verlässt, indem der Schein des Wunderbaren gewöhnlich nur eine Folge dieser letzteren ist; das wirklich Wunderbare, die fernere Rede dieses armen Mannes, wird uns begreiflich, wenn wir bedenken, wie groß die Macht gewisser Neigungen ist, die den Menschen oft unwillkürlich beherrschen, die Macht einer Neigung, über welche uns der Mann schon sein Geständnis abgelegt hat. Selbst in unseren Schwachheiten herrscht eine Kraft, durch welche wir die ganze Größe unseres Leidens, wenn auch nur auf Augenblicke, was jedoch schon ein großer Gewinn ist, unseren äußeren und inneren Sinnen zu entrücken vermögen. „Wer ist denn der Mann da in der Kibitke mit der Ohrenbinde?“ fragte ich leise.

„Es ist mein Schwager, ein Mensch, der die deutsche, französische und russische Sprache von Grund aus versteht, folglich recht anständig leben könnte; aber seine Liederlichkeit hat ihn ganz und gar heruntergebracht, ich nahm ihn nur aus Mildtätigkeit mit, auf dass er nicht vor Hunger umkomme.“

Jetzt näherte ich mich der Kibitke; der Mann sah sehr elend aus. Sind Sie krank? fragte ich ihn. Sie sehen ja so leidend aus.

Ja, sagte er mit finsterer Miene, meine Krankheit rührt einzig und allein daher, dass ich seit zwei Tagen nichts gegessen habe.

Gütiger Gott! dachte ich, der nimmt seinen armen Schwager mit, um ihn vor dem Hungertod zu sichern, und kann dem armen Schlucker seit zwei Tagen nichts zu essen geben. Nun, so kaufen Sie sich doch Etwas zu essen. . . . sagte ich, und ging wieder zu dem Alten.

Ist es erlaubt zu fragen, wo Sie heute über Nacht geblieben sind? fragte er mich. Ich bezeichnete ihm das Dorf.

Ei, da sind Sie gut gegangen! ich möchte mit Ihnen nicht um die Wette gehen! versetzte er.

Ja, sagte ich, die Not lehrt Alles: Beten, Marschieren, ohne Bett schlafen u. dgl. m.

Ich merkte aus seiner Erzählung, dass ich mich, seinen Stand betreffend, in meiner Vermutung nicht geirrt hatte, dennoch war ich einige Male im Begriff ihn zu fragen, welches Fach er denn eigentlich betreibe; allein er ließ mir gar keine Zeit, diese Frage an ihn zu richten; so sehr war er im Eifer zu erzählen. Mit der größten Behutsamkeit suchte er alle grammatischen Fehler, die man im Sprechen leicht begeht zu vermeiden oder sie sogleich zu verbessern. Er bewies in der Tat, eine ausgebreitete Belesenheit, und sprach über manchen Gegenstand mit viel natürlichem Verstande. Galt es irgend einen Begriff zu verdeutlichen, eine Aufgabe, nach welcher er zu haschen schien, so wurde eine Sprache schwülstig was mir Anfangs Vergnügen machte, späterhin aber zum Überdruss wurde. Endlich gewann ich einen Augenblick Zeit und fragte ihn, welches Geschäft er in St. Petersburg betrieben habe, und was denn sein eigentlicher Beruf sei. „Herrenkleiderverfertiger!“ sagte er mit einer Miene, wie er siezu machen pflegte, wenn er einen Begriff zu verdeutlichen suchte.

Wozu diese Umschweife? sagte ich, oder wollen Sie etwa dadurch Ihrem Fache eine schönere Benennung geben? Wo sollten aber unsere Schriftsteller am Ende all das Papier hernehmen, wenn sie aus dreisilbigen Wörtern achtsilbige machen wollten? Also ein Mannschneider sind Sie? oder schlechtweg ein Schneider. Höchst sonderbar! versetzte er, dass man selbst von gebildeten Leuten diese unlogische und in gewisser Hinsicht sogar unästhetische Bezeichnung für Männer unseres Faches hören muss! Das Wort Schneider, wenn man Einen unserer Kunst damit bezeichnen will, ist kein klarer Begriff – denn nach den logischen Prinzipien ist ein Jeder, der mit einem schneidenden Werkzeuge Körper zerteilt, ein Schneider, daher: Steinschneider, Bretterschneider, Leistenschneider, Stempelschneider usw. Alle genannten Subjekte sind Schneider; aber die Produkte ihrer Wirkung sind verschieden in ihrer Art. Sprechen wir ein Urteil über dieselben in der Art, wie sie sich beschäftigen, so kommt einem Jeden nur Ein Prädikat zu, das Prädikat ist bei Allen eins und dasselbe, nämlich: schneiden, aber ihre Objekte sind ganz verschieden in ihrer Art, nämlich: Stein, Stempel, usw.; daher müssen auch die Objekte als Bestimmungswörter dienen, wenn wir die Subjekte von einander unterscheiden wollen. Sie sehen also hieraus, was das Wort Schneider mit dem Bestimmungsworte: Mann, für ein auffallendes Subjekt sein müsse! – Sie verstehen ja das Wort meisterhaft zu definieren, sagte ich; aber was sollte man denn für ein Wort statt einer gebrauchen, da fiel doch zugeben müssen, dass das Wort Herrenkleiderverfertiger viel zu schwerfällig ist. Ich wollte es aller Welt beweisen, sagte er, dass das schon ziemlich gebräuchliche Wort: Kleiderkünstler, nötigenfalls auch mit den Bestimmungswörtern: Herren, Damen, unserem Fache entsprechend ist.

„Sie wären also im Stande, die Herren Schneider zu Künstlern zu erheben?“ – „Warum denn nicht? Es ist in der Tat nichts weniger als künstlerisch, den missgeschaffenen Kindern der Menschheit, den verunstalteten Schöpfungen der plastischen Natur – denjenigen, die weder dem Bildhauer, Maler, noch dem Dichter, ich meine im ästhetischen Sinne, zum Muster dienen können, nämlich krummen, verwachsenen Personen eine gute Fasson zu geben!

Welch’ ein angenehmer und lehrreicher Dialog! dachte ich. Diese Unterredung war am Ende in eine akademische Vorlesung übergegangen, ich war nichts als Zuhörer und wagte meinen Dozenten gar nicht zu unterbrechen; denn das wäre eben so unweislich als grausam gewesen; unweislich, weil er vielleicht durch meine Fragen veranlasst worden wäre, seinen gelehrten Vortrag abzubrechen; grausam, weil es schon ein großer Gewinn für den Unglücklichen ist, wenn er auch nur einen Augenblick ein Schicksal vergisst.

Sie werden in Orel gewiss recht gute Geschäfte machen, sagte ich endlich, denn ein Mann, der so viele und mannichfaltige Kenntnisse besitzt wie Sie, und der mit so vielem Verstande über Gegenstände, die gar nicht sein Fach betreffen, sprechen kann, der muss auch ohne Zweifel seine Kunst, für welche ihn die Vorsehung bestimmt hat, meisterhaft verstehen. Diese gute Meinung, die ich von ihm hatte, gefiel ihm sehr, er machte eine vergnügte Miene dabei.

Ich hätte dem armen Manne noch gern länger zugehört, denn ich sah, wie er während eines Erzählens und Schilderns so ganz fein hartes Schicksal vergessen hatte; allein es war mir am Ende doch unmöglich, ihn länger anzuhören. Ich verließ also diese bedaurungswürdigen Reisenden, legte noch sechs Werst schnellen Schritts zurück, als ich in ein Dorf kam, wo ich einkehrte, um ein Mittagsmahl einzunehmen. Zu meinem großen Leidwesen musste ich hier wahrnehmen, dass die Fastenzeit, welche 2 Wochen dauerte, schon begonnen hatte. Es waren die 2 Wochen vor Peter und Paul. Bekanntlich hält der gemeine Russe seine Fasten sehr strenge, weder Milch, Butter, Eier u. dgl. m. genießt er. Fischsuppe, wo diese sich machen lässt, Kartoffeln, Grütze und Kohl, gewürzt mit kaltem Hanföl, sind gewöhnliche Fastenspeisen des gemeinen Russen. Im Sommer sind Gurken, wo sie gut gedeihen, eine leckerhafte Speise für den gemeinen Mann; sie werden in der Regel aus der Faust gespeist, wie in andern Ländern die Äpfel. Mein gestriger Wirt hatte das Fleisch, welches er mir am Abend auftrug, noch vom dritten Tage aufbewahrt; denn während der ganzen Fasten kocht der russische Bauer, wenn er auch zu denjenigen gehört, welche Herberge halten, nichts dergleichen. Der Hunger trieb mich einige Male an, von dem mit Fastenöl bereiteten Essen der Bauern zu kosten; allein so wenig ich auch davon genoss, wurde es mir doch so übel darauf, dass ich mehrere Tage hindurch solche Speisen nicht ansehen konnte. Die Ursache hiervon mag wohl in dem Hanföl liegen, das gewöhnlich alt und trübe und dem Geruch des Nichtrussen so sehr zuwider ist. Ich habe noch keinen Ausländer gekannt, der die Fastenspeisen des russischen Bauern hätte mit Appetit essen können. Die Worte jenes armen Schneiders, dass das Spazierengehen, wie es Seume nannte, in Russland kein besonderes Vergnügen gewähren könne, wurden mir auf einmal klar. Späterhin wurde ich auch manchmal, besonders von Altgläubigen, einen Sünder gescholten, weil ich in der Fastenzeit nach Butter, Milch u. dgl. fragte, so heilig ist dem gemeinen Russen das Gebot seiner Fasten.

Den Wirtsleuten an den Landstraßen, welche von vielen Ausländern befahren werden, ist es nicht mehr auffallend, wenn sie einen Njemez in der Fastenzeit Fleischspeisen essen sehen; sie sind sogar froh, wenn sie ihm Eier, Milch oder Butter verkaufen können. Der Bauer dagegen, der selten oder gar nicht mit dem Ausländer in Berührung kommt, würde große Augen machen, wenn er Einen in den vier Perioden der Fasten, oder an den Freitag- und Mittwochstagen des ganzen Jahres, Fleisch essen sähe. Obgleich ich nun auch manches mal einen Sünder gescholten wurde, so kam dies auf allen meinen Reisen in Russland doch nur selten vor; denn der russische Bauer im allgemeinen ist sehr gut von Herzen und tolerant. Sehr groß in diesem Punkte ist der Unterschied zwischen ihm und einem Schweden.

Aus dem russischen Volksleben

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Heiratsmarkt im Petersburger Sommergarten

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Volksbelustigung der Russen

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In Petersburg gab es Studentenrevolten

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