Russisches Leben – 6. Die seltsame Verkettung der Umstände.

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,
Die Sonne ging unter und in dem goldenen Gewölke des Abends tauchten alle Türme im byzantinischen Style erbaut, tauchten alle Luftschlösser aus dem kaiserlichen Dorf, Zarskoje Seló, hervor. Wir wollen dem Leser über dieses Dorf, das jetzt schon zur bedeutenden Stadt geworden, einiges hier sagen. Peter der Große ließ im Jahre 1710 ein paar hölzerne Gebäude hier errichten, auf welche Weise er den Grund zu der nunmehrigen Stadt legte, die gegenwärtig schon 12.000 Einwohner zählt. Im Jahre 1716 erhielt das damalige Dorf seinen Namen durch die Erbauung einer Kirche hier selbst. Die Dörfer in Russland gehören, mit wenigen Ausnahmen, samt ihren Bewohnern, teils der Krone, teils den Adeligen (Gutsherren). Die meisten, zumal solche Dörfer, die nur aus ein paar Hütten bestehen, haben keine Kirche, daher wird ein solches „Deréwnjä“ genannt. Hat ein Dorf eine Kirche, so heißt es. Seló. Die Bauern haben sogar noch eine dritte Benennung; denn wohnt in einem Kirchdorfe auch noch der Gutsherr, so nennen sie es Selzó, welches Wort jedoch slawonisch ist und im Russischen Seló, bedeutet. Peter der Große tat viel zur Verschönerung des zarischen Dorfes. Aber seine Nachfolgerinnen taten außerordentlich viel, um seine Umgebung zur reizendsten Gegend zu machen. Kaiserin Elisabeth ließ im Jahr 1744 den prachtvollen 1.200 Fuß langen Palast hier bauen, den Katharina II. mit großem Aufwande innerlich und äußerlich verzieren ließ. Großartig ist die Skulpturarbeit, die man daran verschwendet hat. Hier befindet sich auch das berühmte, sogenannte Bernsteinzimmer, dessen Wände von oben bis unten mit Bernstein bekleidet sind.

Mit unbeschreiblicher Pracht ist dieser Zauberpalast ausgeschmückt worden, dessen Äußeres schon auf den inneren Luxus schließen lässt. Der daran grenzende Park ist ungeheuer groß und wäre wohl geeignet, einen Dichter zu begeistern, der den Frühling besingen möchte. Die Teiche und Seen, größtenteils durch die Kunst erzeugt, sind voller kleinen Schiffe, die den verschiedenen Wasservögeln, deren es eine Menge hier gibt, zu Wohnungen dienen. Eine förmliche Admiralität leitet die Aufsicht über die Masse dieser kleinen Fahrzeuge.

Säulengänge, Triumphbögen, Obelisken und andere Denkmäler ließ Katharina II., deren Lieblingsort Zarskoje Seló war, ihren berühmten Feldherren und Günstlingen hier errichten, von denen die beiden Grafen Georg und Alexei Orlow die ersten waren. Jenem errichtete sie einen Triumphbogen für die weisen Anordnungen, die er während der Pest zu Moskau 1771 traf, und diesem eine Säule mit Schiffsschnäbeln, für den Sieg über die türkische Flotte im Meerbusen von Tschesma (1770), wo er den Oberbefehl hatte. Früher befand sich auch das kaiserliche Lyceum hier, in welchem unter andern russischen Zelebritäten der berühmteste russische Volksdichter, Alexander Puschkin, seine Bildung erhielt. Selten wird wohl ein Fremder St. Petersburg verlassen, ohne Zarskoje Seló mit allen seinen Herrlichkeiten besucht zu haben. Nur für mich hatte dieser Ort jetzt keinen Reiz; ich sehnte mich nach den Kibitken, diesen elenden Fuhrwerken. Aber wo waren sie? Das wird die Zeit lehren! Also hat der Mann dich wirklich belogen! seufzte ich, einsam meine Schritte nach Zarskoje richtend. Dass er dich belogen hat, entscheidet für dein Schicksal, ob für dein gutes oder böses, das wird die Zeit lehren, so sprach eine ahnungsvolle Stimme in mir.

Vor Zarskoje Seló sah ich mehrere Wege, und da sie mir ganz unbekannt waren, wollte ich nicht weiter gehen, sondern beschloss, hier auf Herrn Röhr und seine Kibitken zu warten. – Ich setzte mich nieder und dachte über Folgendes nach: Er hat dich zwar auf diesem Wege vorausgeschickt – Zarskoje liegt nun vor dir; wenn es aber noch einen andern Weg gibt, der von dieser Straße abführt, und er ihn einschlüge, so könntest du hier lange auf ihn warten. – Indem ich so in Gedanken versunken dasaß, ging mir ein Offizier der Garde-Kavallerie vorüber und diesen redete ich in deutscher Sprache an. Der Offizier betrachtete mich einige Augenblicke schweigend, dann sagte er auf schwedisch, dass er nicht deutsch spreche. Ich fragte ihn also in schwedischer Sprache, die ich damals so ziemlich sprach, wobei mich das Dänische sehr unterstützte. „Ich bin erst vor Kurzem aus Finnland hierher gekommen und kann Ihnen gar keinen Bescheid über das geben, was sie wissen möchten, so gern ich’s auch täte; aber ich will Sie zu unserem Rittmeister führen, der ist ein deutscher Graf, und was mehr ist – er ist ein ganz vortrefflicher Mensch“, sagte der Offizier in einem überaus herzlichen Tone. Es war schon neun Uhr Abends. Der Rittmeister ist ein ganz vortrefflicher Mensch, folglich auch ein vernünftiger Mann, er wird dir mit Rat und Tat beistehen, so dachte ich und ging mit dem Offizier.

„Ich bin in einem Kadettenkorps meines Vaterlandes erzogen worden, wo ich das wenige Deutsch, das ich in meiner Kindheit verstand, förmlich vergessen habe“, sagte unterwegs der Offizier. – Wird denn die deutsche Sprache in den Ritterakademien nicht gelehrt? fragte ich. „O ja! sie wird gelehrt; aber der Kadett hat zu wenig Zeit und in der Regel auch zu wenig Lust, diese schwere Sprache zu erlernen. Lesen und Schreiben, das ist gewöhnlich der einzige Gewinn, den man aus einem mehrjährigen Unterrichte zieht; aber mit dem Sprechen will es gar nicht gehen, ungeachtet man auch Gelegenheit hat, diese Sprache praktisch zu erlernen. Es verlassen wohl wenig Offiziere die Akademie, welche nicht etwas französisch sprächen. Dies kommt aber daher, dass die meisten Kinder des russischen Adels mit bei weitem mehr Vorkenntnissen der französischen, als der deutschen Sprache, die Akademie beziehen. – Was ist das für ein russischer Edelmann, der nicht französisch spricht. Die deutsche Sprache dagegen ist etwas, das dem Salonton viel entbehrlicher ist. Indes sieht man die Schönheit und Wichtigkeit dieser Sprache in jeder Beziehung, immer mehr und mehr ein. Und so wird man jetzt schon schwerlich einen Russen aus den höheren Ständen finden, der sie nicht verstände. Für den Mann der Wissenschaften ist sie ganz unentbehrlich; das lehren uns schon die schwedischen und französischen Schriftsteller. Deutschland ist ja das Vaterland der Philosophie. Welch’ eine unermessliche Menge von Begriffen mögen die deutschen Gelehrten wohl entdeckt und in ihrem Schriftentume niedergelegt haben! Und nun ihre herrlichen Dichter! Vor Kurzem las ich das Schiller’sche Glockenlied, freilich nur in französischer Prosa. Wie leid tut es mir, dass ich dieses poetische Meisterwerk nicht im Original lesen kann! denn wo bleiben in einer Übersetzung die schöne Form, die Töne, die blumenreichen Ausdrücke, die Nebenideen? ...

Aber sehen Sie, dort kommt ja unser Rittmeister uns entgegen!“

Die strenge Disziplin der Russen schien den jungen Offizier bei dem Erscheinen seines Chefs aus der poetischen Betrachtung zu scheuchen; denn er brach plötzlich ab von den Schönheiten des Schiller’schen Gedichts.

Der Rittmeister war wohl noch zwanzig Schritt von uns entfernt, als er mich auf eine höchst seltsame Art freundlich grüßte. – Zu uns herangekommen, erfasste er meine Hand und sagte: „Willkommen mein Lieber! wie geht es Ihnen? Welchem Zufall, der Sie hierher geführt, habe ich das Vergnügen zu verdanken, Sie zu sehen?“ – „Ihr freundschaftliches Betragen in Wort und Gebärde, Herr Rittmeister, sagte ich, setzt mich wirklich in Erstaunen, es bekundet. Ihre schöne Seele und flößt mir eine unbegrenzte Hochachtung gegen Sie ein. Ich bin Ihnen fremd, Sie sehen mich, wie mich dünkt, zum ersten mal im Leben? womit habe ich ein solches Entgegenkommen verdient? ein Entgegenkommen, mit welchem derjenige zufrieden sein könnte, der Ihnen Proben wahrer Freundschaft bestanden.“ Sie sind ein Deutscher! ich sah Ihnen dieses sogleich an, und ich liebe meine Landsleute, es sind in der Regel ehrliche Kerle! – „Aber es herrscht auch im Menschen eine geheime Neigung“, fuhr er fort, die uns unwillkürlich antreibt an dem Teil zu nehmen, was sonst einen andern angeht, und das ist mit Ihnen der Fall!“ – „Sie setzen mich wirklich in Erstaunen, Herr Rittmeister! Sie sprechen, so ich nicht irre, von der Zusammenstimmung verborgener Eigenschaften zweier oder mehrerer Seelen? müssen aber solche Eigenschaften sich nicht vorher in Handlungen zeigen, damit sie von außen auf die Seele einwirken können? Im andern Fall könnte wohl die natürliche Gefühlsübereinstimmung. Statt haben; doch das Mitgefühl gegen einen Andern, noch nicht. – Und wenn auch Lavaters System allgemein gültig wäre, und ich in meiner Gesichtsbildung das Gepräge jener Eigenschaften trüge – Sie haben mich ja in der Ferne so freundlich gegrüßt!“ – „Erzählen Sie da, was sie wollen!“ rief der Graf lächelnd aus, „in mir aber steigt der Wunsch auf, Sie näher kennen zu lernen. Vor allen Dingen sagen Sie mir nun, was führte. Sie eigentlich hierher? und warum wollten Sie mir das Vergnügen machen, mich zu besuchen? denn dass Sie mich besuchen wollten, oder dass Sie wenigstens nach mir fragten, das sah ich an der Gebärde meines Offiziers, Ihres Begleiters.“ – Jetzt erzählte ich ihm so kurz als möglich, was mit mir geschehen war. Ich dächte, wenn sie Postpferde nähmen und ihnen nachsetzten? sagte er, indem er der Meinung war, dass die Kibitken des Herrn Röhr doch schon voraus sein könnten. – Und dadurch das Ding viel schlimmer machen als es wirklich ist, Herr Rittmeister, versetzte ich. „Wie so? der Mann wird sie doch nicht belogen haben, was könnte ihm dies nützen?“ Herr Röhr samt seiner Frau ist ja noch zurück, antwortete ich, ich verließ sie beide am Stadttor, und die Straße ist ja nicht so breit, dass sie mir am hellen Tage vorbeifahren könnten, ohne sie gewahr zu werden. Oder gibt es etwa einen Nebenweg, den sie einschlagen könnten? – „Sie haben Recht!“ sagte der Graf, sich aus einem tiefen Nachdenken empor richtend, „der Mann samt seinen Kibitken ist gewiss noch in der Nähe von St. Petersburg, aber sie werden ohne Zweifel bald hier vorbeipassieren, das Wetter und die Straße sind ja herrlich und die ganze Nacht bleibt’s hell*) das macht ihnen Lust zum Fahren.

*) Bekanntlich sind die Sommernächte in St. Petersburg und seiner Umgebung so hell, dass man fast die ganze Nacht hindurch Bücher lesen kann, zumal bei freundlichem Wetter.

Erwarten Sie also ihre Reisegesellschaft hier! Sie müssen sich aber einen Standpunkt wählen, von wo aus Sie einen Jeden, der den einen oder den andern Weg passiert, ins Auge fassen können; und diesen Ort finden Sie in meiner Wohnung. Sehen Sie dort den Balkon an meinem Gastzimmer? Vermittelt seiner hohen freien Lage können Sie nicht nur Alles ringsumher betrachten, sondern er gewährt auch dem Auge eine Aussicht in die weite Ferne!“ Indem der Rittmeister diese Worte sprach, drehte er sich um und zeigte mit der Hand auf die Straße gen St. Petersburg hin. „Sehen Sie! da kommt ihre Reisegesellschaft“, sagte er lebhaft, „sehen Sie dort in der Ferne die Fuhrwerke?“ – Ich richtete mein Auge dahin und sah etwas, den Kibitken Ähnliches. – „Nun kommen Sie schnell mit mir nach Hause“, fuhr er fort, „der Tee wird fertig sein und auch ein Gläschen Punsch wird Ihnen wohltun, wenn Sie die Nacht durchfahren müssen. Unterdessen schreibe ich ein paar Zeilen an meinen Onkel, der in Nowgorod wohnt. Der brave Alte wird Sie gewiss gut aufnehmen, wenn Sie ihm das Schreiben von mir überbringen.“ – Ich bedankte mich herzlich für diese Freundschaft; machte aber die Bemerkung, dass jene Fuhrwerke die nämlichen sein möchten, die ich früher sah und welche mich immer weiter von St. Petersburg lockten. „Sie können dadurch, dass Sie auf meinem Balkon ein wenig warten, gewiss nichts verlieren, es mögen ihre Kibitken sein oder nicht! Sie sind doch ohne Zweifel müde? und da ruhen Sie dann ein wenig aus. Kommen Sie nur mit!“ Und so ging ich mit ihm. In seiner Wohnung angekommen, befahl der Graf seinen Dienern sogleich den Tee zu reichen. Wir setzten uns auf den Balkon, und hier sah ich die Aussage des Rittmeisters, die hohe freie Lage betreffend, vollkommen bestätigt. Die Fuhrwerke kamen immer näher und näher, mein Auge ruhte fast unverwandt auf ihnen. Wir mochten keine 15 Minuten auf dem Balkon gesessen haben, als ich mich in der Mitte einer Menge Offiziere befand, von welchen einer nach dem andern sich hier eingefunden hatte; es waren mehr Deutsche, und Finnländer als Russen.

„Sie haben sich schon weit in der Welt umgesehen“, sagte der Rittmeister, „und gewiss schon manches Abenteuer bestanden? erzählen Sie uns doch etwas! Nicht wahr, meine Herren, Sie schenken unserem lieben Gast Ihre ganze Aufmerksamkeit?“ Dies wurde einstimmig bejaht. Ich erfüllte seinen Wunsch. Aber wie mir schien, wollte es mit dem Erzählen nicht so recht gehen; jedoch wurde viel gelacht und dabei viel Tee und Punsch getrunken. Ich trank nur ein Glas, man war bescheiden mich nicht zu nötigen, als ich mehr zu trinken abgelehnt hatte. Endlich fuhren die Kibitken, die mir der Rittmeister vorhin gezeigt hatte, vorüber; aber es waren nicht die, welche ich suchte. Von jetzt an fuhren beständig solche und andere Fuhrwerke hier vorbei: auf Kibitken folgten vier- und sechsspännige Gallawagen und auf diese wieder Kibitken, aber das, was ich zu erspähen dachte, sah ich nicht! „Was ist die Ursache dieser lebhaften Passage?“*) fragte ich. – So was ist hier im Sommer nichts Neues! antwortete der Graf, aber vielleicht kommt der Kaiser. – „Werden Sie hierüber nicht vorher in Kenntnis gesetzt?“ –
„Gewöhnlich, aber zuweilen erscheint Se. Majestät auch plötzlich, ohne ihn vermutet zu haben.“

*) Bekanntlich existierte damals die Eisenbahn von St. Petersburg nach Zarskoje Seló noch nicht.

Meine Uhr zeigte mir, dass Mitternacht vorbei war, als die letzten Kibitken, welche ich in dieser Nacht sah, vorüberfuhren. „Obgleich mir nichts leichter scheint“, hub der Rittmeister, unser einige Minuten langes Schweigen unterbrechend, an, als dass Sie Ihre Kibitken wieder finden können, die unmöglich weit von hier sind, so sagt mir doch ein seltsames Gefühl, es sei auch eben so schwer. Sie sehen mich mit einem erstaunungsvollen Lächeln an und denken vielleicht: die Kibitken sind ja keine verlorenen Stecknadeln, die man auf einem solchen Wege schwerlich wiederfindet? ich selbst muss lächeln über den sonderbaren Gedanken, der in mir aufsteigt, aber eins, dem andern widersprechende Gefühl beherrscht mich, wenn ich an die sonderbare Handlungsweise des Herrn Röhr denke, und so wünsche ich fast, dass Sie mit diesem Manne nicht reisen möchten, wenn Sie ihn auch wieder finden sollten. Ei, da richte ich einen Menschen, ohne dass ich hinlängliche Beweise habe, ihn anzuklagen. Sie, mein Lieber, haben vielleicht eben so viel Schuld als er, weil Sie sich zuerst von den Kibitken entfernt haben. Doch Sie werden Ihre Wagen wieder finden und mitreisen, denn Ihr Pass ist ja einmal nach Kiew gerichtet. Was sollten sie jetzt in St. Petersburg machen, wo die abscheuliche Cholera schon einen fürchterlichen Anfang gemacht hat, wie ich heute erfuhr. Schon der Gedanke an diese entsetzliche Seuche ist der Natur des Menschen furchtbar. Wenn Sie Herrn Röhr nicht wiederfänden und Sie Ihren schon nach Kiew gerichteten Pass wieder gegen einen Aufenthaltsschein vertauschen müssten, um wieder in St. Petersburg zu bleiben, – welche Umstände! welche Schwierigkeiten vielleicht in dieser argen Zeit! Ihre lebendige Einbildungskraft, die ich an Ihnen bemerkt habe, sähe vielleicht in der seltsamen Trennung von Ihren Effekten und von Ihrer Reisegesellschaft eine schlimme Vordeutung, und dieses könnte schädlich auf Ihr physisches Ich einwirken; denn Vorsicht und Furchtlosigkeit scheinen mir die besten Wege zu sein, dieser abscheulichen Krankheit zu entgehen.“ – Ich glaube an Gott und an den Erlöser der Welt, antwortete ich, und willige in seine heiligen Absichten ein, was er auch mit mir beschlossen haben möge. Recht so, keine Feigheit, sondern festes Vertrauen auf Gott ziemt dem Manne! sagte der Graf. Am Ende muss ich selber lachen über das komische Bild, das ich von den verlorenen Kibitken, von Pass, Cholera und Einbildungskraft malte. Das wäre ja der Geier, wenn wir die Kibitken nicht wiederfinden sollten! Wir wollen noch ein wenig warten, sie müssen sich bald zeigen! und kommen sie nicht bald, dann wollen wir zu anderen Maßregeln greifen. . ., fügte er hinzu.

Sie nehmen es mir aber nicht übel, fuhr er fort, wenn ich Ihnen noch etwas sage, das ich nicht unterdrücken kann? – Sagen Sie. Alles, Herr Graf, was sie auf dem Herzen haben! denn ich bin überzeugt, dass es lehrreich für mich sein wird. – „Ihre schmeichelhafte und doch so herzliche Meinung, die Sie von mir haben, Ihr Glauben an Gott und Tugend flößen mir Mut ein, es Ihnen zu sagen. Nun, so hören Sie mich gefälligst an. Es ist geschehen, und Sie an Ihren Fehler, den Sie unstreitig dadurch begingen, dass Sie in jenem kritischen Augenblicke noch zu Ihren Freunden fuhren, zu erinnern, könnte Ihnen nichts nützen, da es die Sache nicht ungeschehen machen kann; im Gegenteil, es könnte Ihnen zum Vorwurf gereichen und Ihnen Wunden schlagen, wenn Sie deren noch keine fühlten. Ich will Ihnen diesen großen Fehler nicht zum Vorwurfe machen; aber der Vernünftige wird immer aus seinen eigenen begangenen und Anderer Fehler Nutzen zu ziehen wissen, wenn man ihn auf eine überzeugende und doch schonungsvolle Art darauf aufmerksam macht. Ihr Fortgehen in jenem bedenklichen Augenblicke war der größte Fehler, den Sie begehen konnten. Könnte er nicht über Ihr ganzes zukünftiges Schicksal entscheiden? Es ist mir entfallen, welcher Schriftsteller den Ersten Fehler des Menschen – aus welchem sich eine Menge der widerwärtigsten Verhältnisse entwickeln können – mit dem Ersten Anstoße eines Baches vergleicht. Und dieses Bild, möge es nimmer auf Ihr Schicksal anwendbar sein! – Wie der Bach durch den Ersten Anstoß eine andere Richtung, und endlich den krummen oder schlangenförmigen Lauf annahm, also nahm Ihre schon vorgezeichnete Reise eine andere Richtung, und zwar einzig und allein durch jenen Fehler, den Sie begangen haben. Ich aber wünsche es eben so sehr, als ich es hoffe, dass dieser Fehler nicht die Wirkung, wie der erste Anstoß des Baches, habe; allein das, was wir Schicksal nennen, treibt oft mit dem Menschen ein graues Spiel, ohne dass wir dadurch Ursache hätten, an der Liebe Gottes gegen die Menschen zu zweifeln, oder gar an eine absolute Notwendigkeit zu glauben, wie der Mohamedaner – und leider, viele Christen! denn es geschieht im Grunde doch nichts, ohne dass es durch irgend eine Handlung veranlasst worden wäre. Dass Sie Herr Röhr vorausschickte, ohne, wie es scheint, selber zu wissen, wo seine Kibitken waren, und Sie, in der Hoffnung, dieselben zu erreichen, immer weiter vorwärts schreiten, und zwar drei Meilen weit, das ist allerdings etwas auffallend; allein. Sie werden doch zugeben, dass Sie dies durch Ihren Abschiedsbesuch veranlasst haben?“ –

„Das könnte freilich nur ein Tor leugnen“, antwortete ich, „aber wer weiß, Herr Graf, wenn die Trennung von Herr Röhr wirklich Statt findet, und zwar durch meinen angeblichen Hauptfehler, ob sie nicht zu meinem Heile gereicht? Ich wenigstens, habe diese feste Zuversicht!“

„Da haben Sie einen ganz sonderbaren Glauben!“ rief der Graf lebhaft aus, „auf diese Weise ließen sich ja alle Fehler des Menschen, ohne Ausnahme, entschuldigen!“ – „Alle Fehler? nein. Herr Graf, nicht alle lassen sich auf diese Weise entschuldigen. Die Handlungen, ja das bloße Wollen des Menschen wird gelobt, verabscheut, belohnt und bestraft, sobald es vollkommen erwiesen ist, was der Wille des Menschen eigentlich zum Ziele hatte. Oft scheint dem Edlen eine Idee, welche durch seine Wirkung in die Tat übergehen kann, überaus wohltätig für gewisse Zwecke zu sein, ist aber oft grade das Gegenteil. Möge nun diese Sache durch die Vorsehung oder wie Sie wollen, durch andere Ursachen, an ihrer Entstehung verhindert werden, oder möge sie wirklich durch das Streben des Edlen, obgleich mit entgegengesetztem Erfolg, zu Stande kommen, so kann ihm dies bei Gott, der weiter nichts als unsere gute Absicht verlangt, nur zum Wohl gereichen: denn diejenigen allein werden selig gepriesen, die eines guten Willens sind, und eben deswegen, weil das Gelingen nicht von uns abhängt. Es wird täglich die Erfahrung gemacht, dass Mancher, dem es an allen möglichen Mitteln und Kenntnissen zu einer Sache, die er ins Leben treten lassen will, nicht gebricht, aber seinen Zweck verfehlt, ungeachtet er Mittel und Kenntnisse vernunftgemäß anwendete. – Umgekehrt sieht man Manchen ohne alle zur Erreichung eines Zweckes erforderliche Kenntnisse und dem natürlichen Gange der Sache gänzlich entgegen handeln, und siehe da! es gelingt ihm, was er beabsichtigt hatte, gelingt ihm, zum Erstaunen der Sachverständigen! Aus solchen Fällen mag wohl das Sprichwort entstanden sein: Er hat mehr Glück, als Verstand. So wird es wohl klar, dass das Gelingen nicht von uns abhängt, und es hängt eben deswegen wicht von uns ab, weil der Verstand des Menschen in vielen Stücken zu ohnmächtig ist, um vorher zu entscheiden, ob eine Sache, die ihm gut und nützlich für gewisse Zwecke scheint, es auch in ihren Folgen ist. Dem Christen gilt also der gute Wille: Alles!“ –

„Ich verstehe“, bemerkte der Rittmeister, „aber was hatten Sie zum Ziele, als Sie Ihre Effekten und Ihre Reisegesellschaft plötzlich verließen, da man Ihnen doch sagte, dass bald fortgefahren würde? Ihren Freunden von Ihrer bevorstehenden Reise Nachricht zu geben? Konnte dies in einem so bedenklichen Moment nicht durch einige Zeilen geschehen? zumal man Sie in den Stand setzen wollte, dies bewerkstelligen zu können.“ – „Ich würde mit Ihnen übereinstimmen, Herr Graf, wenn ich die volle Gewissheit von der unfehlbaren Überlieferung des Schreibens gehabt hätte. Durch meine Erfahrungen und die Umstände der Dinge hatte ich Ursache, einen Zweifel darein zu setzen. Ich bin wohl weit entfernt, gegen die gewiss aufrichtige Bereitwilligkeit jener Dame ein Misstrauen zu hegen; allein sie selbst konnte das Schreiben doch nicht eigenhändig überliefern – sondern sie hätte es durch andere Hände befördern müssen.*) Bedenken Sie, Herr Graf, das Gerücht von der Cholera in St. Petersburg hatte in jener Gesellschaft einen panischen Schrecken verursacht, man dachte an nichts weiter, als ans Fortfahren, ihre glühende Sehnsucht nach der Ferne war in ihren Mienen, in jedem ihrer Worte bemerkbar. Mein Schreiben würde also fremden Händen anvertraut worden sein. Es befindet sich aber Jemand unter meinen Teuren, dem mein plötzliches Verschwinden in einer so schlimmen Zeit unbeschreiblich traurige Stunden verursacht hätte.

*) Bekanntlich existierte damals die Stadtpost in St. Petersburg noch nicht.

Solche Stunden möchte ich jener schönen Seele um keinen Preis der Welt verursachen. Nur derjenige, der nie von schönen Seelen geliebt wurde, der also auch zu keiner Gegenliebe verpflichtet ist, sie zu erwidern, könnte den Grund meines Verfahrens verwerfen. Er mag es tun! Ein Jeder handle nach seinem Willen. Mich dünkt, wer die Liebe und Sorgfalt, mit der man ihm begegnet, nicht zu würdigen versteht, verdient auch nicht, dass er mit solcher Sorgfalt behandelt werde. Sie sehen, Herr Graf, dass mein Zweck aus guten Beweggründen hervorging, und dass er auch meiner Aufopferung würdig ist. Dies ist mein Trost, der mich hoffentlich aufrecht erhalten wird, möge sich mein Schicksal gestalten, wie es wolle. Ich blieb auch dem Grundsatze, den ich bei allen meinen Handlungen nicht aus dem Auge zu verlieren strebe, getreu, nämlich, ich tat. Alles, was in meinen Kräften stand: ich gab dem Fiaker, der mich zu meinen Lieben fuhr, mehr, als er verlangte, damit er sein Pferd schneller als gewöhnlich antrieb; ich hielt mich bei meinen Freunden nicht länger als drei Minuten auf; auch würde ich mich am Stadttore keinen Augenblick von Herrn Röhr entfernt haben, weil jetzt kein Umstand mehr vorhanden war, der mich hätte dazu bewegen können. Da es aber der Wunsch dieses Mannes war, sei es aus welchem Grunde es wolle, mich zu entfernen, und ich gleichsam aus Bescheidenheit seiner Aussage Glauben beimessen musste: so habe ich die feste Zuversicht, dass die Trennung von ihm und seiner Familie, wenn die Statt findet, nur zu meinem Heil gereichen wird.“ – „Aus ihrer Schilderung sehe ich“, versetzte der Graf lächelnd, „dass Ihr Glaube sich mit der gesunden Vernunft nicht gut vertragen kann, und dass das Wort Zufall in dem Wörterbuche Ihres Lebens nicht existiert; warum musste Sie denn die Vorsehung mit Herrn Röhr bekannt machen, wenn seine Gesellschaft Ihnen nicht zum Heil gereichen kann? warum Sie mit ihm einig werden lassen, zusammen zu reisen, um Sie bald darauf wieder auf eine so seltsame Art von ihm zu trennen? Widerspricht das nicht den Eigenschaften der Allwissenheit und Unabänderlichkeit Gottes?“ „Hierauf könnte ich Ihnen, Herr Rittmeister, Manches antworten. Allein es würde mich zu weit führen, indem ich mit Zuversicht an das Gebet glaube, und das ist kein Gegenstand, über den man mit einem so rüstigen und jungen Kriegsmanne wie Sie sind, sprechen könnte. Überdies fühle ich in mir auch gar nicht die Kraft, Sie von der Wahrheit desselben zu überzeugen. Das will ich den Lehrern und Predigern des Evangeliums überlassen!“ sagte ich schließlich. „Erlauben Sie mir“, versetzte lebhaft der Graf, „Ihnen bemerken zu dürfen, dass, was diesen Punkt betrifft, Sie sich sehr in mir irren; denn dieser Gegenstand ist viel zu heilig und erhaben, als dass der Kriegsmann sich seiner schämen sollte. Und fürs Andere sind grade Sie es, dessen Meinung ich darüber vernehmen möchte, denn Alles, was Sie bisher sagten, wenn ich Ihnen auch zum Teil widersprach, interessierte mich mehr, als Sie vielleicht je ahnen werden. „Da es Ihnen nun gleichgültig sein kann, sich mit mir, bis wir der Kibitken ansichtig werden, über diesen oder jenen Gegenstand zu unterhalten, so hoffe ich, dass sie meine Bitte erfüllen, wodurch Sie mir eine wirkliche Freundschaft erweisen werden“, sagte er. Lange lehnte ich eine Bitte freundlich von mir; allein er brachte mich am Ende doch dazu; es schien ihm in Ernst außerordentlich viel daran gelegen zu ein.

„Sie bemerkten, Herr Graf“, sagte ich, „es widerspräche der Allwissenheit und Unabänderlichkeit Gottes, dass er mich diesen Mann finden und mit ihm einig werden ließ, mit ihm zu reisen, um später, wenn seine Gesellschaft zu meinem Heile nicht gereichen kann, mich auf eine so auffallende Art wieder von ihm zu trennen, vorausgesetzt, dass die Trennung zu Stande kommt. „Allerdings!“ versetzte der Graf, „denn ist's nach Ihrem Glauben nicht so, als habe Gott, da er Sie mit dem Manne zusammenführte, nicht gewusst, ob sie gut oder schlecht mit ihm reisen würden, sondern er habe es erst später erfahren, dass seine Gesellschaft für sie nichts taugt, und dass er daher gleich Anstalt traf, Sie wieder von ihm zu trennen? – wir nehmen den Fall an, dass dieses letztere geschieht, – aber lassen Sie Ihre Glaubensgründe hören“, schloss der Graf mit außerordentlicher Spannung.

„Der Erlöser der Welt“, sagte ich, „versichert uns mit Ja und Amen! dass wir Alles, was wir in einem Namen den Vater bitten, empfangen werden. Im Gegensatze muss es demnach heißen, dass wir es nicht erhalten werden, wenn wir nicht so bitten. Das ganze menschliche Leben beweist uns zwar deutlich, dass der Vater im Himmel weiß, was wir bedürfen, und dass er es uns auch gibt, ohne dass wir ihn eigentlich darum bitten, wie wir das an Menschen bestätigt finden, die vielleicht niemals den Vater im Namen Jesu gebeten haben; allein jener Ausspruch ist nun einmal durch Christum geschehen, folglich muss er auch seine Bedeutung haben, und es muss Fälle im Leben geben, wo wir irgend Etwas, das uns Not tut, nur dann vom himmlischen Vater erhalten, wenn wir ihn im Namen seines eingeborenen Sohnes darum bitten. – Wie aber, wenn ich beim ersten Entschluss zu reisen, den Vater nicht um das, was zu einer solchen Reise heilsam ist, gebeten hätte? – so würde mich Gott auch meiner eigenen Kraft haben überlassen können; denn es heißt nun einmal: „Bittet, so werdet ihr empfangen“; und so konnte mir Verderben bevorstehen; denn der Erschaffene vermag aus eigenen Kräften dem Verderben nicht zu widerstehen, wie wir das an den gefallenen Engeln, von welchen die heil. Schrift so viel spricht, deutlich sehen: die wollten durch eigene Kräfte tüchtig sein, ließen von Gott ab, und so sich selbst überlassen, stürzten sie ins Verderben, ohne dass Rache oder Zorn Gottes, welche Eigenschaften wir wohl in Gott nicht suchen können, dabei betätigt waren. Wie aber, wenn ich, nachdem ich die Bekanntschaft des Herrn Röhr gemacht hatte und mit ihm zu reisen einig geworden war, den Vater wirklich im Namen seines Sohnes um das Heil zu meiner Reise gebeten hätte? denn auch die, welche in der elften Stunde kamen, wurden der Gnade teilhaftig – und in diesem Fall konnte Gott, kraft seiner Allwissenheit und Allmacht, und zufolge der Versicherung eines eingeborenen Sohnes, meiner Reise, wenn sie in jener Gesellschaft mir nicht zum Heil gereichen kann, eine andere Richtung geben. Wahrhaftig, das Gebet ist die erste Pflicht des Christen! durch das Gebet vermögen. wir viel, durch Unterlassung desselben, nichts! Aber Sie lächeln, Herr Graf?“ – „Durchaus nicht!“ sagte er, „aber mir fällt dabei ein, was Kant vom Gebet sagt, nämlich, es sei Bedürfnis der Schwäche; denn was soll ein bloß erklärtes Wünschen gegen ein Wesen, das keine Erklärung der inneren Gesinnungen des Wünschenden bedarf?“ – „Aber was hat denn Kant, was haben alle Philosophen vor und nach ihm über die geoffenbarte Religion bewiesen? Nichts! Ihre Systeme oder vielmehr ihre Irrtümer sind zusammengestürzt, oder sie werden durch andere Irrtümer dieser Art noch ihren Sturz erleiden. Was wusste Kant von dem Dasein Gottes? Weiter nichts, als dass es sich nicht leugnen lässt; – das aber kein erschaffener Verstand zu ergründen vermag. Wie unnütz war es doch, dass dieser Philosoph mit vielem Aufwand großen Scharfsinns bewies, dass er nur das wusste: dass er nichts wusste. – Die wilden Völker, welche uns die Geschichte aufweist, wussten mehr, als Kant zu wissen äußerte: sie hatten das Bewusstsein von der Existenz eines höheren Wesens, das wir Gott nennen. Woher nun dies Bewusstsein, das man bei den rohesten Völkern, und sonst auch auf allen Stufen der Kultur des menschlichen Geistes, zu allen Zeiten findet, da doch ein objektives Wissen von Gottes Dasein, wie Kant lehrt, nicht möglich ist? – Also muss die Idee im Menschen von der wirklichen Existenz Gottes eine Mitgift von Gott, herrühren oder sie muss dem Menschen durch die Offenbarung des wirklich da seienden Gottes verliehen sein. In der bloßen Idee von dem notwendigen Dasein eines Wesens, das wir Gott nennen, liegt noch kein hinlänglicher Trost für den so unzähligen Leiden unterworfenen Menschen, weil wir dadurch noch nicht wissen, ob dies Wesen: Geist, Person, frei, heilig – Gott ist. – Wie nichts ohne Ursache geschieht, so geschieht auch nichts ohne Zweck. Unsere Leiden auf Erden müssen auch notwendig einen Zweck haben. – Die Offenbarung Gottes gibt uns die zuversichtliche Hoffnung, dass wir durch die Leiden, denen wir, so lange wir auf Erden leben, unterworfen sind, unendlich glücklicher werden können, als wir es würden, wenn wir denselben nicht unterworfen wären; denn da der herzensprüfende und nierendurchsuchende, von Ewigkeit bis zu Ewigkeit schauende Gott wusste, dass wir, zufolge unseres Abfalls von ihm, leiden und sterben müssen: so ward dieses Abfallen die Quelle nie endender Seligkeit für uns, indem Gott in der Person des Sohnes uns wieder mit sich zu versöhnen und ewig mit sich zu vereinigen beschloss. Aber doch nur unter den Bedingungen, die der Heiland allen Menschen ohne Ausnahme macht – sie sind jedem in den christlichen Lehren Unterrichteten bekannt. Nach diesen Bedingungen zu leben, fällt dem an die Sinnenwelt geketteten Menschen so außerordentlich schwer. Es ist dies als eine Strafe zu betrachten, welche der Mensch durch ein freiwilliges Abfallen von Gott, sich selber auferlegt hat.

Ja, aus unserm Abfallen von Gott entsprangen unsere Leiden; es entsprang mit ihnen aber auch die Quelle ewiger Seligkeit für uns. Doch der Wille ist frei, und der Mensch hat vor sich: Leben und Tod, was er will, wird ihm gegeben, und die Lehren Christi sind zu vergleichen mit dem Wegweiser an einer Straße, der uns den Weg wohl zeigt, aber Niemanden zwingt ihn zu gehen.

Wem Christus der gekreuzigte Gottessohn zur Erlösung der Menschen ein Hirngespinnst schwachköpfiger Toren, ein Unverstand oder gar ein aberwitziges Märchen ist, der weist die Glückseligkeit, an welcher er Teil nehmen könnte, wenn er nur wollte, aus Überklugheit von sich, und ihm geschieht wie er will! Und wer Christum, in dem alle Kreatur ihren Anfang nahm, zum bloßen Tugend- und Sittenlehrer, der uns nur für diese Welt Weisheit lehren wollte, herab würdiget, der weist ebenfalls die Glückseligkeit, aus freier Wahl von sich, weil er nur in diesem Leben und für dies arme Scheinleben auf Christum hoffet.

„Hofften wir nur in diesem Leben auf Christum“, sagt der in aller Weltweisheit kundige Apostel Paulus, „so wären wir die allerelendesten der Menschen.

Aus unserem Abfallen von Gott, entsprangen unsere Leiden. – Ohne Schmerzen sind uns keine Freuden denkbar. Je größer der Schmerz, desto größer die Freude, die ihm folgt. Wie groß müssen demnach auch unsere Leiden auf Erden sein, denen eine nie endende, alle Trübsal überwiegende Herrlichkeit folgt? Und so sehen wir denn das menschliche Elend hienieden überall und in tausend Formen. Aber uns zum Troste und zur Stärkung offenbart Christus uns den ewigen Ratschluss Gottes. Wie gütig ist dieser Gott, den er uns lehrt! Wir können ihm unsere Leiden klagen, können zu ihm beten, dass er uns stärken möge in der unvermeidlichen Trübsal. Jesus Christus, gegen den alle Licht verbreitenden Philosophen Nacht sind, hat uns das Gebet als die erste Pflicht des Christen anbefohlen, und hat uns durch sein Beispiel gelehrt, wie wir beten sollen. Was meinen Sie, Herr Graf, in welcher Lehre dürften wir wohl die Wahrheit zu suchen sein: in Kants oder in Christi Lehre?“ – „Das ist eine Frage, die sich wohl von selbst beantwortet“, versetzte der Rittmeister, „Kant ist ja auch keineswegs der Lehre des Evangeliums entgegen. Es kommt vor allen Dingen darauf an, wie wir den Geist des Gebetes auffassen. Das Evangelium, sagt Kant, fordert uns auf, den Vorsatz zum guten Lebenswandel nicht nur zu fassen, sondern ihn auch in Tätigkeit übergehen zu lassen, und dieser Vorsatz, mit dem Bewusstsein unserer Gebrechlichkeit verbunden, enthält einen beständigen Wunsch, ein würdiges Glied im Reiche Gottes zu sein; also keine eigentliche Bitte um Etwas, das uns Gott nach seiner Weisheit auch wohl verweigern könnte; sondern einen Wunsch, der, wenn er tätig ist, seinen Gegenstand: ein Gott wohlgefälliger Mensch zu werden, von selbst hervorbringt. Dieser Begriff vom Gebet ist vernünftig, er macht uns den Geist desselben klar; und diesen Geist scheint uns Christus zu lehren, als er befahl: im Geiste und in der Wahrheit zu beten.“ – „Gegen das Gebet“, sagte ich, „wie gegen andere Pflichten des Christen sträubt sich der hochmütige Verstand, weil es ihn zum Gehorsam gegen Gott auffordert, weil es ihn an ein Nichts erinnert. Daher kommt es denn auch, dass sich ein Jeder so gern ein eigenes System macht, das so ganz seinem Geschmacke entsprechend ist. Alles im Evangelium Enthaltene, was zu einem System passt, das nimmt er an, was nicht dazu passt, dass sucht er durch scharfsinnige Grübeleien zu verdrehen, dass es passe, oder wenn das nicht möglich ist, so verwirft er es. „Stürze dich hinab“, so sprach einst der Versucher, „denn es steht geschrieben: Gott hat seinen Engeln befohlen, sie sollen dich auf den Händen tragen, damit du mit Deinem Fuß an keinen Stein stoßest.“ „Also hat der Widersacher den Geist der heil. Schrift verdreht und ihn nach seinem Sinne und zu seinen bösen Absichten ausgelegt; so verdreht er den Sinn der heiligen Schrift auch noch heut zu Tage, und so wird er bis in die spätesten Zeiten dem Geist des Evangeliums eine falsche Deutung zu geben suchen.

„Du aber, wenn du betest“, sprach der Erlöser, „so gehe in deine Kammer und bete zu deinem himmlischen Vater“ – – – Jesus Christus ging noch ein wenig vorwärts, fiel auf sein Angesicht und sprach: mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst. – – – Darauf ging er zum zweiten Mal zu beten. – – – In diesen Tagen ging Jesus hinaus auf den Berg, um zu beten, und übernachtete im Gebete zu Gott. – Betet, dass dies nicht im Winter oder am Sabbath geschehe. Matth. 24, 30. –

Ich glaube, das sind der Beweise genug, die uns von Kants falscher Auffassung des Gebets überzeugen können! – Wenn je das Gemüt eines Menschen durch die Betrachtung der tiefen Weisheit Gottes in die dahin sinkende Stimmung, die Kant Gebet nennt, sich versetzte, so war es das Gemüt des Gottmenschen; aber dieser lehrt uns durch sein Beispiel, dass das, was Kant Gebet nennt, bei weitem nicht das Gebet ausmacht. Wenn je ein Mensch war, der das Bedürfnis der Schwäche nicht fühlte, so war es ebenfalls der Gottmensch, der von Ewigkeit her Eins mit dem Vater war, und aus dem alle Kreatur ihren Anfang nahm. Jesus Christus hat in seinem Leben auf Erden mehr getan, als einen bloßen Vorsatz zum guten Lebenswandel gefasst und diesen in Tätigkeit übergehen lassen; – und wenn, wie Kant sagt, hierin das Gebet besteht, so setzte Jesus Christus ein Gebet ohne Unterlass fort: und dennoch hatte er bestimmte Stunden, in welchen er an gewisse Orte ging, um allda mit Worten und Seufzern zu beten, wie die angeführten Stellen aus dem Evangelium beweisen. Es ist auffallend, dass Kant behaupten konnte: der Lehrer des Evangeliums habe den Geist des Gebets in einen bloß herzlichen Wunsch: Gott in allem unserem Tun und Lassen wohlgefällig zu werden, gesetzt. Allerdings ist dies ein sehr schöner Wunsch, zumal, wenn er in die Tat übergeht; aber warum will man behaupten, dass das Gebet keine eigentliche Bitte um Etwas enthalte, da das Gebet Christi doch so deutlich für diese Wahrheit spricht?“ – „Doch bin ich überzeugt“, sagte jetzt der Graf, „dass Sie die Begriffe, welche sich die gesunde Vernunft von der Gottheit macht, einem unbedingten Fürwahrhalten nicht aufopfern werden, und in sofern halten Sie auch die Eigenschaften des allmächtigen und allwissenden Schöpfers grenzenlos, d. i. unendlich?“ – „Allerdings! wenn Gott unendlich ist, müssen seine Eigenschaften es auch sein!“ – „Gut“, sagte der Graf, „so ist der Beschluss Gottes grenzenlos, also unabänderlich?“ – „Allerdings!“ – stimmte ich bei. „Wie soll nun der Mensch Gott um Etwas bitten, das er ihm nach einer weisen Absicht nicht zu geben beschlossen hat? denn Gottes Beschluss ist ja unabänderlich! Umgekehrt, wozu hat der Mensch erst nötig, um Etwas zu bitten, das Gott ihm nach seiner Liebe und Allwissenheit zu geben beschlossen hat, und ein Beschluss doch unabänderlich ist?“ – Schließlich will ich Ihnen, Herr Graf, hierauf folgendes bemerken: „Das Gebet Jesu Christi am Ölberge: „Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst;“ die Ermahnung Christi an seine Jünger, dass sie bitten möchten, damit das Kommende nicht im Winter oder am Sabbath geschehe; das Vater Unser, und überhaupt viele Stellen in der heiligen Schrift, beweisen, dass es Dinge gibt, die wir nur dann erhalten, wenn wir darum bitten. Wenn Gott unser Gebet nun nicht erhört, rührt es vielleicht daher, dass wir ihn nicht im Namen Jesu gebeten haben; denn er erhört unser Gebet nur dann, wenn wir ihn, wie Christus uns lehrt, bitten, wie das ganze Evangelium beweiset. Um aber im Namen Jesu wahrhaft zu beten, müssen wir an Christum, als an unsern Gott und Erlöser glauben. Erhört Gott unser Gebet nicht, so rührt es auch vielleicht daher, dass wir ihn um Etwas bitten, das er uns nach seiner Allwissenheit nicht geben will, weil es vielleicht zu unserem eigenen Schaden gereichte, daher ist unser Gebet auch nur dann Gott wohlgefällig, wenn wir es endigen mit dem Schlusse des Gebetes Christi am Ölberge: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Dies Geheimnis des Gebetes kann der erschaffene Verstand nicht begreifen, weil es in einem offenbaren Widerspruche mit sich selbst zu stehen scheint; weil es dem Verstande verborgen und nur den wahrhaft Demütigen offenbaret ist. Der von Ewigkeit zu Ewigkeit schauende Gott wusste ja, dass er des Kelches nicht überhoben werden konnte, indem Jesus Christus ihn zu trinken selber angeordnet hatte; und dennoch betete er: „Wenn du willst, so gehe dieser Kelch vorüber, usw.“ Möchten wir doch das ganze Tun und Leben Christi auf Erden als das betrachten, was Gott damit beabsichtigt hat, nämlich als ein Beispiel, das Jeder bis zu dem Grade nachahmen soll, als es ihm vermittelt der Gnade möglich ist, auf dass wir zeitlich und ewig glücklich werden. Wie die ganze Lehre Christi uns Licht über unser Sein und Werden gibt, so gibt uns auch das Gebet, besonders das am Ölberge, die Gewissheit, dass der Wille Gottes kein absoluter, sondern ein bedingter Wille ist, d. h., dass uns Gott Dinge gibt, wenn wir ihn darum bitten, und uns Dinge nicht gibt, wenn wir ihn nicht darum bitten; denn was hat die Weltweisheit dagegen einzuwenden, wenn wir annehmen, dass Gott unter der Bedingung unseres Gebetes, uns gewisse Gnade zu verleihen, und durch Unterlassung des Gebets uns diese Gnade nicht zu verleihen, beschlossen hat?

Somit muss, Herr Graf, der Grund, den Sie für den unabänderlichen Beschluss Gottes, der in der Tat nur ein bedingter ist, von selbst weichen.

„Wahrhaftig, wir würden uns so mancher Leiden überheben, wenn wir diese Hauptpflicht des Christen besser übten! wenn wir uns von den falschen Begriffen Gelehrter und Nichtgelehrter nicht verblenden ließen, sondern das Beispiel Jesu Christi zur einzigen Richtschnur unserer Gesinnungen und Handlungen machten!“ – „Glückselig ist der Mensch“, rief der Graf lebhaft aus, „der dies tun kann und tut! Glückselig preise ich auch Sie, wenn Sie diese Überzeugung haben und Sie Ihr Leben darnach einrichten. Führ wahr, eine solche Überzeugung, wenn sie in Handlungen sich kund gibt, kann den Menschen nimmer sinken lassen, sie wird ihn in allen Widerwärtigkeiten des Lebens aufrecht halten!“

Es war schon ein Uhr vorbei, als der Rittmeister von meiner misslichen Lage wieder zu sprechen anfing. Der letzte Offizier entfernte sich, mir eine gute Nacht und eine glückliche Reise wünschend.

„Ich bedaure jetzt sehr“, sagte er, „dass ich eben so unartig als leichtsinnig gegen Sie gehandelt habe!“ –

„Wie so, Herr Graf“, sagte ich, eine Hand erfassend und sie herzlich drückend, „haben Sie denn unartig und leichtsinnig gegen mich gehandelt? Sie sind mir mit so viel Liebe und Güte entgegen gekommen, dass ich Sie ewig dankbar verehren werde.“ „Ich muss erröten, dieses aus Ihrem Munde zu vernehmen“, sagte er und wiederholte:

„Ja, ich habe leichtsinnig gegen Sie gehandelt! Ich bin Ursache, dass Sie hier in meinem Hause verweilend, so viel von der kostbaren Zeit verloren haben! Ich hätte gleich anfangs ganz anders zu Werke gehen müssen! Aber unser Gespräch, dessen ich mich ewig erinnern werde, und die Hoffnung, dass Ihre Kibitken hier vorbeifahren würden, ließen meinen Vorsatz nicht in die Tat übergehen. Ich wollte nämlich schon vor zwei Stunden einen meiner Kürassiere auf den Weg nach St. Petersburg schicken, damit er Erkundigungen über die behexten Kibitken einzöge, und auf diese Weise hätten alle Zweifel: ob sie wirklich schon voraus seien, oder noch zurück, gehoben werden können. – Sind Ihre Effekten von großem Werte?... Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen dieselben ersetzen dürfte! ....“

„Meine Effekten, gütigster Herr Graf“, sagte ich, „sind von sehr geringem Werte. Aber ich bin fest überzeugt, dass ich sie wieder erhalten werde; denn die Kibitken können ja unmöglich voraus sein. Ich werde sie wiederfinden.“ Aber er bestand darauf, sie mir ersetzen zu dürfen. Ich konnte mich der Tränen nicht erwehren, welche die Teilnahme dieses edlen Mannes aus meinem Auge drängte. Er hatte schon eine Börse, die mit Gold angefüllt war, zur Hand genommen, legte sie aber, auf ein paar Worte, die ich zu ihm sagte, wieder bei Seite und sah mich eine Weile schweigend an. „Nun“, rief er nach einer Pause wieder lächelnd aus, „ich kenne noch ein Mittel, meinen begangenen Fehler wieder gut zu machen. Aber ich wünsche es so sehr, als ich es hoffe, dass Sie gegen meinen Vorschlag nichts einwenden werden!“ – „Ich bin überzeugt, Herr Graf, dass Ihr Vorschlag eben so einsichtsvoll als freundschaftlich ist, ich werde auf keinen Fall etwas dagegen einzuwenden haben.....“ – „So hören Sie ihn gefälligst an: Die Wohnung jenes Mannes, den sie in der Equipage bei Herrn Röhr am Moskauer Tor sahen, der aber, wie sie sagen, nicht mitreiste, sondern seinen Freund nur eine Strecke begleitete, der also gewiss weiß, wo Herr Röhr mit seinen Kibitken geblieben ist, die Wohnung dieses Mannes wissen Sie ja, da Sie ihn im Hause seines Freundes gesehen haben.“ – Ich bejahte dies. – „Gut! ich lasse sogleich meine Kalesche anspannen, Sie setzen sich hinein und fahren zu ihm selbst; schläft er, so wecken Sie ihn auf, ohne viel Komplimente zu machen, und fragen ihn nachdrücklich, wo denn der ganze Bettel geblieben ist. – Hat Herr Röhr Sie recht berichtet, d. h. sind die Kibitken wirklich schon voraus, so kommen Sie schnell hierher zurück, und in diesem Falle werden Postpferde für Sie bereit stehen, und müssten Sie vier, fünf und mehr Poststationen zu machen haben, um Ihre Reisegesellschaft zu erreichen: so werden sie durch meine Empfehlung in den Stand gesetzt sein, Ihre Eile ununterbrochen fortsetzen zu können. Ist aber der ganze Tross noch in St. Petersburg oder in der Nähe, so setzen Sie sich in Ihre Kibitke, oder Sie tun, was Ihnen gut dünkt. Wie gefällt Ihnen mein Vorschlag?“ – „Herr Graf“, sagte ich gerührt, „Sie geben mir aufs Neue einen Beweis ihrer schönen Seele! Einen bessern Rat und bessere Hilfe könnte ich in meiner widerwärtigen Lage nicht wünschen. Gott segne sie ewig dafür!“ –

Es vergingen keine sechs Minuten, da stand eine prachtvolle Equipage mit zwei stolzen Rossen vor der Türe des Rittmeisters. Jetzt dankte ich ihm; nicht ohne Tränen schied ich von ihm – – ich sah ihn nimmer wieder. . .

Ich setzte mich ein, und im schnellen Trabe flohen die stolzen Rosse auf der prachtvollen Straße nach St. Petersburg hin. Müdigkeit, der genoffene Tee und das Glas Punsch nötigten mich gegen meinen Willen in einen festen Schlummer, aus dem ich erst durch den Zuruf der Wache am Tor verscheucht wurde. Ich hörte von meinem Kutscher den Namen des Grafen und Rittmeisters nennen, und ohne dem wachehabenden Offizier gemeldet zu werden, fuhr ich wieder in die Residenzstadt St. Petersburg. Der Mann, dem ich diesen nächtlichen Besuch zu machen hatte, wohnte auf Wasilij-Ostrow,*) ich musste also über den Newa-Strom. Die Nachtzeit wird hier im Sommer großenteils zum Passieren der Schiffe, welche aus der See kommen und in See gehen, benutzt: es waren drei Joche der Isaaks-Brücke abgefahren, ich konnte also nicht über die Newa. Die Nachen, welche hier in der Nähe gewöhnlich zur Überfahrt bereit am Ufer stehen, waren größtenteils jenseits des Stromes, und denen, die sich diesseits befanden, fehlten die Fährleute.

*) Ein Teil von St. Petersburg jenseits der Newa.

Ich und mein Kutscher riefen so oft und laut, als wir es vermochten, dass sich irgend ein Fährmann zeige; aber Niemand, sowohl diesseits als jenseits, hörte oder wollte uns hören. Es war schon eine Viertelstunde verstrichen, ohne dass sich Jemand sehen ließ, der mich hätte übersetzen wollen. In dieser peinlichen Lage kam mir doch der edle Rittmeister nicht aus dem Sinn: wenn er seine Equipage oder seinen Kutscher früher nötig hätte, als es diese Fahrt gestattet? dachte ich, vielleicht mit unnützer Sorgfalt, – und es wurde ein Gefühl in mir herrschend, das mich unwillkürlich antrieb, den Kutscher mit feiner Equipage zurückzuschicken, da er mich doch nicht in die Wohnung jenes Mannes fahren konnte. – Indem ich so diesem Gedanken nachhing, erblickte ich in der Nähe mehrere Iswoschtschike, welche sich den nächtlichen Fahrten bestimmt hatten. Von diesen wird dich Einer nach Zarskoje Seló fahren, wenn es nötig ist, dachte ich; und ist es keiner von ihnen, so ist es ein Anderer; denn, wie schon früher gesagt, an solchen Lohnkutschern fehlt es in St. Petersburg niemals auf den Straßen, weder des Tags noch des Nachts. Ich folgte meinem Gefühl und machte dem Kutscher des Rittmeisters begreiflich, dass er zu seinem Herrn zurückfahren möchte, indem ich auf die schlafenden Iswoschtschike – sie schliefen wirklich auf ihren Droschken – zeigte, dass die mich schon fahren würden... Der Kutscher besann sich gar nicht lang; er rief noch einige Male recht laut, dass es irgend Jemand hören möchte, und dann fuhr er seines Weges. – Es war noch eine Viertelstunde vergangen, und ich hatte noch immer keine Aussicht, über die Newa gesetzt zu werden. Ich hatte mich schon ganz heiser gerufen; aber Niemand hörte. Endlich wollte ich Gewalt gebrauchen und einen der Nachen losbinden, die zu meinem Ärger sehr fest an das Ufer gebunden waren, um mich allein über den Strom zu wagen. Ich schrie noch einige Male. Plötzlich sah ich jenseits, wie ein Kopf sich in einem Nachen emporhob. Ich wiederholte meinen Ruf, und bald sah ich, wie der ganze Mensch sich aufrichtete. Der Mann stieß endlich das Fahrzeug vom Ufer und ruderte.... alle seine Bewegungen schienen auf Tag- oder Nachtlohn berechnet zu sein, wie denn das auch der Fall war. Himmel! die paar Minuten, die der Mann zu dieser Überfahrt brauchte, schienen für mich eine halbe Ewigkeit zu sein. Endlich war ich übergesetzt, ich zahlte vor Freude zwanzigfach über das Gesetzliche. – Jetzt suchte ich diesem Manne verständlich zu machen, er möge doch so lange auf dieser Seite bleiben, bis ich wieder zurückkäme, was bald geschähe, oder er möge wenigstens nicht jenseits schlafen. – Allein der Bursche verstand mich nicht oder wollte mich nicht verstehen, wie ich leider! bei meiner Zurückkunft erfahren musste. –

Ich kam in das Haus jenes Mannes; er war da und schlief; ich erinnerte mich der Worte des Rittmeisters und klopfte, ohne viel Komplimente zu machen, heftig an die Tür seines Schlafzimmers. Bald öffnete er selbst. „Mein Gott! was wollen Sie hier?“ rief er erstaunt aus, als er mich sah. „Ich will Sie fragen, wo Herr Röhr mit seinen Kibitken ist, war meine Antwort, wie Sie wissen, hat er mich gen Zarskoje Seló geschickt, mit der Versicherung, dass seine Kibitken schon voraus seien, und dass ich sie einholen sollte; ich aber sah keine Spur von ihnen und so geriet ich denn bis vor Zarskoje, wo ich von neun Uhr Abends bis nach Mitternacht auf der Lauer fand, von allerlei Gedanken gequält, denn nichts von der ganzen Reisegesellschaft zeigte sich mir.“ „Ja!... die sind alle auf der deutschen Kolonie (etwa eine Meile von St. Petersburg) über Nacht geblieben!“ stammelte er. „Folglich waren die Kibitken, als mich Herr Röhr vorausschickte, noch gar nicht zur Stadt hinaus, wie ich auch behauptete! und nun ist es offenbar, dass er mich belogen hat! sagte ich.“ – „Ja!.. das war seine Zerstreuung schuld!... ich glaube, dass er damals gar nicht wusste, was er mit Ihnen sprach...“ – „Ich hoffe doch, dass er den Verstand nicht verloren hat?“ – „Das wohl nicht! aber ich kann Ihnen versichern, dass er gewiss keine böse Absicht hatte, als er Sie, eigentlich gegen seinen Willen, voraus schickte. Er konnte sich späterhin über diesen einen Fehler fast gar nicht beruhigen. Eilen Sie doch recht schnell nach der Kolonie! im achten Hause linker Hand sind sie geblieben. Aber eilen Sie doch! Herr Röhr hegt um Sie die größte Sorge.“ – Jetzt eilte ich so sehr, als ich es vermochte. Ich kam wieder an die Brücke, es gingen noch fortwährend Schiffe durch, es war auch wieder kein Fährmann zu sehen, jener Bursche lag wieder im Nachen und schlief und zwar jenseits, als ob er es mir zum Schabernack getan hätte. Der Schlaf und der warne Ofen gehören vorzüglich zu dem, was der gemeine Russe keinen Augenblick versäumt, wenn er es genießen kann. Es verging abermals eine Viertelstunde ehe ich übergesetzt wurde.

Tarantaß - Russlands Postkutsche

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Armenisches Büffelgespann

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Russisches Sittenbild

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Eine Troika

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