Russisches Leben – 4. St. Petersburg und seine Merkwürdigkeiten.

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,
Schon im 13. Jahrhundert hatten die Schweden verschiedene Festungen und Verschanzungen in den Gegenden Ingermanlands, dessen Hauptstadt einst Narwa war und jetzt St. Petersburg ist. Die handelssüchtigen Republikaner von Groß-Nowgorod, deren Statthalter damals Alexander Newskij war, sahen mit Neid und Verdruss auf die festen Plätze der Schweden. Daher waren sie auch fast im steten Kampfe mit ihnen. Endlich bemächtigte sich Peter der Große im Anfange des 18. Jahrhunderts der ganzen Gegend und gründete das nunmehrige so berühmte St. Petersburg an der Newa, wo sonst nur einige Fischerhütten standen. Welch ein Unternehmen, hier im Moorraste eine solche Stadt zu erbauen! Hunderttausende von Menschen, die der Zar aus allen Gegenden seines Reiches hieher befohlen, kamen bei der Arbeit ums Leben. Es schien, als ob der Tod mit seiner Hippe da gestanden und viele Hunderte täglich niedergemäht hätte. Die durch das Aufwühlen des sumpfigen Bodens verpestete Luft, der Mangel an Lebensmitteln und aller notwendigen Pflege und die ungeheure Anstrengung der Arbeit selbst, rafften die Menschen in Menge hinweg. Zu all diesem Ungemach kam nun noch, dass die Schweden. Alles aufboten, den begonnenen Bau wieder zu zerstören.

Mit ähnlichen Widerwärtigkeiten hatten, ein halbes Jahrhundert später, die ersten deutschen Kolonisten zu kämpfen, welche Katharina II. nach Russland lockte und ihnen die öde Steppe an der Wolga im Saratow’schen Gouvernement zu ihrer Niederlassung anwies. Diese armen Leute hofften, laut ihres Kontraktes, Häuser, Ställe, Scheunen u. dgl. m. fertig zu finden; fanden aber bei ihrer Ankunft daselbst nicht einmal das Material zum Bauen vorhanden. Während sie sich nun an die schwere Arbeit machten, alle unumgänglich notwendigen Gebäulichkeiten ins Dasein zu bringen, wurden sie von den Kirgisen und andern wilden Steppenvölkern, die wie ganze Herden von Raubtieren umherstrichen, in Furcht und Schrecken gesetzt und an der Arbeit verhindert. Zum Glücke hatten viele der deutschen Bauern ihre Feuergewehre mitgebracht, vermittelst deren sie den wilden Menschen wenigstens soviel Respekt einflößten, dass sie sich nicht allzu nahe herbei wagten. Die russischen Bauern, welche zu ähnlichen Niederlassungen gezwungen worden, waren nicht so glücklich; sie hatten keine solche Waffen, und daher fielen nicht wenige von ihnen, samt ihren Weibern und Kindern in die Hände dieser Barbaren, von denen sie fort in die Sklaverei geschleppt wurden. Wenn Peter der Große wirklich im Sinne hatte, die Haupt- und Residenzstadt seines Reiches hier an der Newa gründen zu wollen, so ist das unbegreiflich; denn die Gegend ringsumher ist nicht nur all zu stiefmütterlich von der Natur ausgestattet, sondern der finnische Meerbusen von Kronstadt herauf und der 292 Quadrat-Meilen große Ladogasee von oberhalb Schlüsselburg die Newa herab, bedrohen auch St. Petersburg alljährlich mit einer Überschwemmung, wovon die Stadt schon oft heimgesucht worden ist. Dem Zaren schien der Ort wohl am günstigsten für eine Hafenstadt, die zugleich eine offene Pforte werden sollte und geworden ist, durch welche Russland nach ganz Europa eingeht. Beim Bauen dieser seiner Lieblingsstadt war er täglich eigenhändig beschäftigt. Einmal, so wird erzählt, erblickte er einen hohen dicken Stamm, der halb in die Erde gerammelt war und der oben ein Zeichen hatte, das mit der Axt eingehauen zu sein schien. Was soll das bedeuten? fragte er einen Arbeiter, der aus hiesiger Gegend gebürtig war. So hoch stand im Jahre 1680 das Wasser, antwortete der finnische Bauer. Der Zar erschrak, denn er stellte sich vor, wie gefährlich ein solcher Wasserstand seiner Stadt werden müsste, der die einstöckigen Gebäude, wie sie damals fast alle gebaut wurden, überfluten würde. Sto delajet! was ist zu machen, dachte er endlich, hunderte von Häusern sind schon aufgebaut, und die Stadt muss nun einmal hier stehen! Der Selbstherrscher aller Russen aber wusste sich augenblicklich zu helfen. „Frjosch, Sukinsün!“ (Du lügst, Hundesohn!) sagte er zu dem Bauern, „so hoch kann und darf das Wasser nicht steigen!“ Damit hieb er den Stamm mit eigener Faust nieder, als wolle er dadurch das Übel ein für alle Male beseitigen. Und das schien geholfen zu haben – wenigstens für so lange als der große Zar lebte; denn erst drei Jahre nach seinem Tode, 1728, wurde St. Petersburg von der ersten großen Überschwemmung heimgesucht. Das Meer trieb seine Fluten die Newa hinauf und überschwemmte die junge Stadt; viele Menschen kamen dabei ums Leben. Ein Jahr darauf, 1729, wurde die Stadt abermals von einer Überschwemmung heimgesucht. Das Unglück wiederholte sich in den Jahren: 1735, 1740, 1742, 1777. Wenn im Herbste Tag und Nacht gleich sind, pflegen hier heftige Stürme zu wüten, welche das Meer die Newa hinauf werfen. Im Jahre 1824 erreichte das Wasser in der Stadt eine ganz außerordentliche Höhe; mehr als tausend Menschen kamen dabei um, und der materielle Schaden, den es anrichtete, wurde auf mehrere Millionen Rubel angeschlagen. Nach dem Tode Peter II., der die alte Zarenstadt Moskau zu einer Residenz gemacht, und unter dessen kurzer Regierung die Reaktion ihr Haupt erhob, um die alte Bojarenwirtschaft wieder einzuführen, kam Anna, Tochter von Peter des Großen Bruder, Iwan Alexejewitsch, auf den Thron, welche wieder in St. Petersburg ihre Residenz aufschlug und die Leitung der Regierungsgeschäfte deutschen Männern anvertraute. Während ihrer zehnjährigen Regierung wurde die neue Stadt sehr verschönert. Ganz besonders aber waren es Elisabeth I. und Katharina II, welche den Glanz der Residenz an der Newa erhöhten. Auch Paul I. und besonders Alexander I. taten ihr Möglichstes, um St. Petersburg zu einer der schönsten Städte Europas zu machen. Kaiser Nikolaus aber überragt sie in dieser Hinsicht alle, denn unter seiner neunundzwanzigjährigen Regierung tauchten die Prachtpaläste wie die Grasspitzen auf einer Wiese hervor. In allen Kunstwerken der Architektur, die er aufführen ließ, spiegelt sich ein großer Charakter. Ein Dichter sagt von ihm: „Er türmt auf Finnlands Moore: Tempel, Säulen und Kolosse, die der Wunderwerke Griechenlands und Roms spotten.“ Finnlands Moor nennt der Dichter den hiesigen sumpfigen Boden, weil die Finnen, deren Herkunft und Abstammung noch nicht an das helle Licht der Geschichte gezogen ist, schon in der Urzeit die hiesige Gegend bewohnten. Die Liven und Esten gehören zu der großen Familie der Finnen. Riesenmäßig ist die Reiterstatue Peters des Großen, die Katharina II. errichten und auf dem Isaaksplatze aufstellen ließ. Der berühmte französische Bildhauer Falconet machte das Modell und leitete auch den Guss des kolossalen Werkes. Peter I., in alt russischer Tracht, einen Lorbeerkranz auf dem Haupte, sitzt, nach alter Sitte, ohne Steigbügel auf einem kolossalen Rofsse, das auf den Hinterfüßen steht, um einen Felsen hinan zu springen. Der Sinn dieser Stellung des Pferdes ist klar: Felsen, die übersprungen werden mussten, lagen dem großen Zaren überall im Wege. Auch die List, der Neid, die Widerwärtigkeiten, die er zu bekämpfen und zu überwinden hatte, sind in der großen Schlange versinnbildet, welche sich dem Pferde zwischen die Hinterfüße gemacht, als wolle sie es im Sprunge hindern oder es zum Falle bringen. Der kolossale und meisterhafte Guss, Ross und Reiter, steht auf einem 17 Fuß hohen und 30.000 Zentner schweren Granitblocke. Dieses riesige Meisterwerk muss gesehen werden, um es bewundern zu können. Allein was das Kolossale betrifft, so steht es der Alexandersäule, einem Denkmahle, das Kaiser Nikolaus seinem ruhmreichen Bruder errichten ließ, weit nach. Denn diese Säule besteht aus einem einzigen, fein polierten Stücke Granit, das über 80 Fuß Höhe und gegen 14 Fuß im Durchmesser hat. Samt dem Fußgestelle aber, das mit großartigem Bildwerke aus Bronze geschmückt ist und dem metallenen Engel, der oben, ein Kreuz in der Hand, dasteht, erreicht das ganze Werk eine Höhe von 154 Fuß. Die Isaakskirche ist auch ein so kolossales Werk, dem in dieser Beziehung nur die St. Peterskirche zu Rom gleich kommt. Sie ist ganz aus Granit erbaut. Drei Säulenhallen umschließen sie rund um, und bilden gleichsam Stockwerke. Die große Kuppel ist mit Kupferplatten, gedeckt, welche echt, d. h. im Feuer vergoldet sind; vier kleinere ebenfalls vergoldete Kuppeln, umgeben sie. Diese Kirche hat eine Höhe von 317 Fuß. Unter ihr sind dreißig und einige Öfen angebracht, um sie im Winter angenehm zu heizen. Welch’ ein Unternehmen, diesen Millionen Zentner schweren Koloss auf einen moorastigen Boden zu stellen! Ein Dichter singt und ein Prosaiker hätte dasselbe sagen können, dass man ganze Wälder ausrotten musste, um das Fundament zu machen, auf das man den granitenen Riesen türmte. Ohne der andern 166 Kirchen und Kapellen und der Tausenden von Prachtpalästen hier zu gedenken, erwähnen wir noch der St. Peter- und Pauls-Kathedrale, welche Peter der Große auf dem linken Newa-Ufer erbaute und die älteste Kirche der Stadt ist. Ihre Höhe beträgt mit dem Turme 340 Fuß. In dieser Kirche ruhen die Gebeine der Kaiser und Kaiserinnen und ihrer Familien von Peter dem Großen an, mit Ausnahme Peters II., der sich Moskau zur Residenz wählte und dort begraben liegt. Zur rechten Hand stehen in Reihen die Särge des großen Zaren, seiner Gemahlin Katharinen I., seiner Tochter Elisabeth I.; dann die der Anna I., Peters III. und seiner Gemahlin Katharinen II.; zur linken ruhen die Gebeine Pauls I., Alexanders I. und ihrer Gemahlinnen, ferner die der Großfürsten, Konstantins und Michaels. Der Turm dieser Kirche, den man auch schlechtweg den Festungsturm nennt, enthält ein herrliches Glockenspiel. Er ist viereckig, seine pyramidenförmige Spitze ist hölzern, und ganz mit im Feuer vergoldeten Kupferplatten gedeckt; von vier Säulenreihen, eine auf der andern ruhend, getragen. Sein Stil erinnert an die Vorliebe, welche Peter der Große für die holländische Bauart im Allgemeinen hatte, er ist ganz nach holländischem Geschmacke gebaut. Auf der Spitze des Turmes ruht eine kupferne stark vergoldete Kugel, und auf dieser steht ein metallener, im Fluge begriffener Engel mit einem Kreuze in der Hand. Auch diese beiden Stücke sind stark vergoldet. Ein alter Geheimrat, der schon unter der Regierung Katharina II. ein Amt im Dienste des Staates bekleidete, erzählte mir unter andern auch folgende drollige Geschichte. Katharina II. fiel es ein, den metallenen Engel von diesem Turme herabnehmen zu lassen. Demzufolge versammelten sich die vorzüglichsten Architekten, größtenteils Ausländer, und nahmen den Turm mit der auf seiner Spitze stehenden Figur in Augenschein. Ihre Meinung war nun, dass die Herabnahme des Engels nicht anders bewerkstelligt werden könnte, als vermittelt eines Gerüstes, das rings um den Turm aufgeführt werden müsste. Sie bezeichneten diese Arbeit als so schwierig und kostspielig, dass die Kaiserin endlich fragte, was der Spaß denn wohl kosten könnte. Als die Herren. Alles genau berechnet hatten, sagten sie, es seien wenigstens 20.000 Rubel Silber dazu erforderlich. „Aber wäre denn die Sache nicht auf eine andere einfachere Art auszuführen?“ fragte die Kaiserin, der solche Summe doch etwas zu groß vorkam. Jetzt machten die Herren den Turm mit dem Engel nochmals zum Gegenstande ihrer gründlichen Betrachtung, waren aber am Ende doch Alle einstimmig, dass das Werk nur nach ihrem vorhin gemachten Plane vollbracht werden könnte. So soll es unterbleiben! sagte die Kaiserin. – Wir müssen hier der außerordentlichen Geschicklichkeit des gemeinen Russen zu allen technischen Arbeiten Erwähnung tun. An praktischem Verstande übertrifft er vielleicht noch den Engländer und Amerikaner. Mit seinem Beil, das ihm zugleich Hammer und Säge ist, stellt er in kürzester Zeit ein hölzernes Haus hin, und mit einem Ding, das eher einem dicken Nagel, als einem Meißel oder Stemmeisen ähnlich ist, versieht er den Giebel des Daches auch noch mit einem bewundernswerten Schnitzwerke. Die Weißbinder und Maurer in verschiedenen Städten der Rheinprovinz, welche, um ein Häuschen anzustreichen, mit einer Last von schlanken Stämmen, Brettern und Stricken angezogen kommen, und ein paar Tage mit Aufstellung des Gerüstes zu tun haben, würden sich wundern, wenn sie einen russischen Bauern ein drei, vier, fünf Stockwerk hohes Haus anstreichen sähen. Ein schlanker Baumstamm, durch den er die nötige Anzahl Löcher gebohrt, in welche er 2. Fußlange starke Stecken so hinein geschlagen hat, dass die Enden von Beiden Seiten höchstens zwei Hand breit hervorstehen, ist ein Gerüste, auf dem er, wie auf einer Leiter, höher und niedriger steigend, die höchsten Häuser stuckaturt und anstreicht. Diese originelle Leiter hat er am Fuße mit einem 2 Ellen langen Querholze in Form eines Kreuzes versehen, damit sie fester stehe. Er allein oder ihrer zwei wälzen das Ding Schritt für Schritt die ganze Breite des Hauses entlang. Man kann sich einen Begriff von den außerordentlichen Fähigkeiten machen, die, vielleicht mit sehr wenigen Ausnahmen, in allen russischen Bauern liegen, wenn man bedenkt, dass der Leibherr, ohne seine Leute genau zu kennen, zu dem einen sagt: „Du wirst Schuster, zum andern, du wirst Maler, Musikus, Bildhauer, Schauspieler usw.“ und dann jeder in seinem Fache das leistet, was man, eingedenk solchen Zwanges, nicht von ihm erwarten könnte. Wird ein solcher Bursche am Ende noch Soldat, so ist der Oberst oder Hauptmann im Stande und sagt zu einem Schuster: Du wirst Schlosser! und zu einem Schneider: Du wirst Schmied oder Tischler! und so müssen sie in den neuen Fächern binnen kurzem ein gutes Stück Arbeit liefern, sonst gibt es abscheuliche Hiebe. Schlimm genug ist es freilich, dass der gemeine Russe in der Regel mit dem Stocke zur Erlernung eines Handwerks, und wenn er es versteht, auch zur Lieferung eines guten Stückes Arbeit angetrieben werden muss. Geschieht das nicht, so wird er Fuhrmann, Krämer oder Schacherer, wozu er, wie der Jude, die meiste Lust hat. Ist er aber Handwerker und selbstständig, so pfuscht er, weil er den Stock eines Meisters dann nicht zu fürchten hat. Katharina II. war eine geniale russische Regentin; sie brachte zwei sich widerstrebende Kräfte in Einklang, indem sie sich Russen zu Werkzeugen ihrer Macht wählte, und doch das ausländische Element in allen Regierungsangelegenheiten walten zu lassen verstand, und dabei ihre ausländische, rein deutsche Herkunft, so vollkommen vergessen zu machen wusste, dass der russische Adel wie der Bauer von ihrem ganzen Tun und Wesen entzückt war und schwor, sie sei eine echte Russin, nicht nur in ihren Anordnungen und Handlungen, sondern auch in Bezug auf ihre Geburt. – Von allen den 69 Großfürsten, Zaren, Kaisern und Kaiserinnen, die seit Rurik bis auf Nikolaus I. den russischen Thron inne hatten, wusste kein einziger sich so populär zu machen, als eben dieses geniale Weib. Sehr bezeichnend für den Widerwillen gegen ihre rein deutsche Herkunft, ist folgende Anekdote. Ihr Leibarzt, ein Engländer, schröpfte sie einmal. „Aber schröpfen Sie mich so, dass kein deutscher Blutstropfe in mir bleibe,“ sagte sie zu ihm. Unter dem Volke erwarb sie sich den vielsagenden Namen: Mátuschka (Mutter oder auch Mütterchen) der in der russischen Sprache überaus herzlich klingt und mit dem sie vom gemeinen Manne stets genannt wurde. Als das Projekt von der Herabnahme jenes metallenen Engels in St. Petersburg und auch hier und da in der nächsten Provinz bekannt geworden, erschien eines Morgens im Winterpalast ein Bauer und gab an, diese Figur herab zu nehmen, sei nitschewó, d. h. eine große Kleinigkeit. Nach vieler Mühe und tausenderlei Fragen, welche die Kammerdiener und Kammerherren an ihn richteten, gelang es ihm endlich, der großen Zarin vorgestellt zu werden. „Und du wärst wirklich im Stande, dieses schwierige, ja, sogar gefährliche Werk auf eine leichte und sichere Art zu vollbringen?“ fragte sie ihn. „Tótschno taks, Mátuschka!“ (so ist es, Mütterchen!) antwortete der Bauer. – „Und wie viel würde es kosten?“ frug fiel weiter. – „Triste rublei!“ (300 Rubel!) erwiderte der Mann und der gemütlichen Zarin schien, als mache er dabei eine Miene, wie gewisse Handwerksleute zu tun pflegen, wenn sie zu verstehen geben wollen, dass bei der Arbeit, welche vornehme und reiche Leute bestellen, doch auch etwas verdient werden müsste. Sie konnte sich des Lachens nicht mehr enthalten und hüpfte behende ins Nebengemach, wo sie sich recht auslachte. Darauf erschien sie in Begleitung ihres Günstlings, des Fürsten Potémkin, wieder vor dem Bauern. „Und wie willst du die Sache bewerkstelligen ? fragte sie ihn. Aus der obersten Lichtöffnung des Turmes heraus werde ich mich an einem Seile bis oben an die Spitze ziehen, Mátuschka! sagte der Bauer.

Ce drôle là rappelle ce farceur qui voalait se tirer par ses propres cheveux du bourbier où il était tombé.

Der Bursche erinnert an jenen Spaßmacher, der sich an seinem eigenen Haarzopfe aus dem Moraste ziehen wollte, bemerkte Potémkin.

C’est à mourir de rire.
Es ist zum kranklachen! sagte die Kaiserin und hüpfte zum zweitenmale ins Nebengemach. „Also an einem Seile, das du an den Engel zu befestigen gedenkt, willst du dich hinauf ziehen?“ sagte sie, als sie wieder erschien. Totschno taks, Mátuschka! antwortete der Bauer. – „Aber wie wirst du im Stande sein, das Seil an den Engel zu befestigen? darin besteht ja eben die ganze und schwierige Aufgabe!“ – Dafür lass mich nur sorgen, Mátuschka, bemerkte der Bauer. Die Kaiserin fand so viel Vergnügen an dem unbefangenen Tun und Wesen dieses Mannes, dass sie befahl, ihn ans Werk zu lassen, aber auch dafür Sorge zu tragen, dass er bei einer Unternehmung nicht verunglücke. Doch wie er seinen Plan gemacht, führte er ihn auch glücklich aus, zum Erstaunen der hochweisen Architekten, die fast vor Scham und Ärger vergingen. Er baute sich am obersten offenen Punkte, zu dem man innerhalb des Turmes gelangen kann, ein Gerüste, d. h. er schob ein starkes zwei bis drei Fuß langes Brett hinaus, stellte sich darauf und warf mit gewaltigem Arm das Seil so lange nach dem Engel hinauf, bis die Schlinge, die er auf eine praktische Art eingerichtet hatte, am Ende hängen blieb, rutschte gleich einem Matrosen hinauf und vollbrachte das Werk. Der Leser darf voraussetzen, dass die Kaiserin den Mann auch fürstlich belohnte.

Schon in den ersten Tagen unseres Aufenthalts in St. Petersburg besuchten wir die sogenannte Kunstkammer auf Wassiliostrow, dem Stadtteile jenseits der Newa. Hier in einem eigens dazu angefertigten Zimmer sitzt Peter der Große in Lebensgröße, angetan mit einem hellblauen, reich mit Silberstickereien verzierten Rocke, gestickten Strümpfen und langer weißer Halsbinde unter einem Thronhimmel auf einem Lehnstuhle. Unser Führer erzählte, dass vor Jahren diese sitzende Figur, durch ein verborgenes Triebwerk in Bewegung gesetzt, plötzlich aufstand, und eine majestätische Verbeugung machte, sobald Jemand in das Zimmer trat; seitdem aber einmal eine Dame durch die Bewegung der Androide vor Schrecken in einen schlimmen Zustand versetzt wurde, habe man das Werk geändert, und die Figur bleibt seitdem immer unbeweglich in ihrem Lehnstuhle sitzen. Was dieses plastische Kunstwerk besonders interessant macht, ist die sprechend ähnliche Gesichtsbildung wie überhaupt das Gelungene des aus Wachs modellierten Brustbildes mit dem eigenen langen Haar des großen Mannes. Es wurde sieben Jahre nach seinem Tode vom Grafen Rastrelli bossiert. Viele Kleidungsstücke und Waffen, die der große Zar selbst getragen, wie auch die Drehbänke, auf denen er drechselte und viele Gegenstände, die er angefertigt, werden nebst einer ungeheuren Menge von Kunst- und Naturprodukten in diesem großartigen Kabinette, das in mehrere Abteilungen zerfällt, aufbewahrt und dem Fremden gezeigt. Unten in einem Saale, wo sich eine Menge merkwürdiger anatomischer Präparate befinden, stehen auch zwei Lakaien Peters des Großen in ihrer eigenen Haut, die man ihnen nach ihrem Tode abzog und ausstopfte. Der eine, ein wahrer Goliath, soll Koch bei dem Zaren gewesen sein.

Ferner besuchten wir den Winterpalast (das Schloss, welches der Kaiser mit seiner Familie im Winter bewohnt) und die mit ihm in Verbindung stehende Eremitage und besahen die hier aufgehäuften hunderte von Millionen Rubeln im Werte stehenden Kostbarkeiten. An den Gemälden der größten Meister aus allen berühmten Schulen, die sich hier nebst vielen Tausend andern in bedeutender Anzahl vorfinden, konnten wir uns nicht satt genug sehen. Wir kamen auch in ein kleines von einem alten Garde-Unteroffizier bewachtes Kabinett, wo eine Menge von Juwelen in Glaskästen dem Auge entgegen strahlen und wo sich auch die Krone Nikolaus I. befindet, deren Reif und feinen Bügel vor lauter Perlen und Brillanten gar nicht zu sehen sind. Neben ihr steht das Zepter mit dem fast in Größe eines Fasaneneies strahlenden Solitär auf der Spitze. Eine Beschreibung aller Kunstprodukte und Kostbarkeiten, welche St. Petersburg enthält, würde schon allein ein ganzes Buch ausmachen; sie kann nicht im Plane unseres Werkes liegen, da es der Raum desselben nicht gestattet. Was Mode, Luxus, Vergnügungssucht usw. betrifft, so erinnert die Residenzstadt an der Newa ganz an die berühmtesten Städte Mitteleuropas. Wir fanden den Ausspruch in diesem Sinne bestätigt, nämlich dass derjenige noch nicht in Russland war, der sich bloß in St. Petersburg aufgehalten hat. Schon nach zwei Wochen meiner Ankunft hier selbst nahm eine große wissenschaftliche Arbeit meine Zeit dermaßen in Anspruch, dass ich während meines anderthalb Jahre langen Aufenthalts nicht einmal der Hauptstraßen dieser ungeheuren Stadt kundig wurde, und ich mich um die russische Sprache gar nicht bekümmern konnte und daher auch so viel wie nichts von ihr verstehen lernte, wodurch ich aber am Ende in eine Widerwärtigkeit geriet, die mein Glück und Leben bedrohte, und welche ich nunmehr dem Leser erzählen werde.

Reiterstandbild Peter I.

Reiterstandbild Peter I.

Das heutige Russland

Das heutige Russland

Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

Russischer Geistlicher

Russischer Geistlicher

Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Kosaken

Kosaken

Mutterliebe

Mutterliebe

Ganz privat - Teestunde am Samowar

Ganz privat - Teestunde am Samowar

Russisches Bauernmädchen

Russisches Bauernmädchen

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Zar Peter der Grosse

Zar Peter der Grosse