Russisches Leben – 17. Die zwei unglücklichen Ärzte

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Moskau, russische Geschichte, Nowgorod, Hanse, Hansa, Hansezeit, Deutsche
Als ich zum ersten Male über die Brücke in Moskau ging, erinnerte ich mich unwillkürlich jener Gräuelszene, die hier im Jahre 1485 Statt fand. In Nowgorod, zumal seit dieser Staat die höchsten Gipfel seiner Macht erstiegen und der Stapelplatz des persischen und indischen Handels und in den hanseatischen Bund aufgenommen worden war, befanden sich hier eine Menge von Deutschen, wie bereits erwähnt, namentlich reiche Kaufleute aus Lübeck, Bremen und andern freien Städten, welche hier das Ehrenbürgerrecht hatten, und die glänzendsten Geschäfte machten, ohne dass sie die Pflichten der Untertanen zu erfüllen hatten. So stand es ihnen z. B. frei, sich an einem Kriege mit dem Freistaate zu beteiligen oder nicht, es stand ihnen frei, in diesem Falle wie in jeder andern Zeit, nach Deutschland zurückzukehren, ohne dass ein Opfer irgend einer Art von ihnen verlangt wurde. Da der Glanz und die Unabhängigkeit dieses Staates in ihrem eigenen Interesse lag, so nahmen sie in der Regel freiwillig Anteil am Kriege. Als der Fürst von Moskau beschlossen hatte, sich Nowgorod zu unterwerfen, schickte er zuerst eine Gesandten dahin, die Alles versuchten, auf dass die Republikaner sich ihm freiwillig und ohne Blutvergießen unterwerfen möchten, und da dieses nicht gelang, kam es zum Kriege. Die Deutschen schlossen sich nicht aus, sondern zogen mit in die Schlacht gegen den moskowitischen Despoten. Karamsin malt die Vorbereitung zum Feldzuge und auch die Schlacht selbst mit poetischen Farben, indem er sagt: Trompeten und Pauken ertönten. Die fremden Gäste nahten in feierlichem Zuge; voraus die Musikbande in rotseidenen Mänteln, paarweise hinter ihnen die in Nowgorod anwesenden Bürger der zehn freien deutschen Städte, prachtvoll gekleidet und in silbernen Becken Gold und Edelsteine tragend. Langsam bewegte sich der glänzende Zug nach der Wiädins-Stätte,*) und legte die Becken voll Kostbarkeiten auf deren Stufen nieder.

*) Ein Denkmal, welches die Nowgororder ihrem Helden Wiädim errichteten, der, wie wir bereits erwähnt, den Aufstand leitete, um die Stadt wieder frei zu machen von dem Fürsten Rurik, der despotisch zu herrschen begann; aber von dessen scharfem Schlachtschwert getroffen, entseelt niedersank. Wir erinnern hier an das, was wir auf Seite 131 gesagt haben. Diese marmorne Bildsäule stand vor Jaroslaws Palaste, wo die Bürger sich immer versammelten und über Krieg und Frieden und alle Angelegenheiten berieten.

Ein Ratsherr aus Lübeck nahm das Wort und sprach zu der hier versammelten Volksmenge also:

„Bürger und Edle! Die freien deutschen Männer, welche in Euren Mauern wohnen, haben gehört, dass ein mächtiger Feind diese Stadt bedroht. Geraume Zeit schon verknüpfte uns der Handel und überzeugte uns von Eurer Biederkeit und lehrt uns Euren Edelsinn schätzen. Wir Deutsche sind dankbar und helfen gern den Freunden in der Zeit der Not. Daher bitten wir Euch, Bürger und Edle, nehmt die Gabe der gutgesinnten Herzen Eurer fremden Gäste, freundlich an, mehr um uns selbst damit zu ehren, als weil Ihr sie nötig habt. Gebt uns auch Waffen und die Genehmigung, unter Nowgorods Fahnen mit Euch zu kämpfen, denn verachten müsste uns die große Hansa, wenn wir an Eurer Gefahr nicht den tätigten Anteil nähmen. Wir sind hier sieben Hundert an der Zahl. Alle ziehen wir mit Euch! und bei der deutschen Treue und Ehrlichkeit sei es geschworen: mit Euch siegen oder sterben wir!“ –

Da erhielten sie Waffen, und weil sie eine abgesonderte Schaar bilden wollten, gab man dieser den Namen: „Schaar der Edelherzigen.“ Und diese Schaar bildete im Heere die dritte Abteilung, der Ratsherr aus Lübeck stand an der Spitze. Zwei verschlungene Hände über der Flamme eines Altars waren das Zeichen ihrer Fahne, mit der Inschrift: Freundschaft und Dankbarkeit. Die Abteilung machte mit den beiden ersten den Kern des Heeres aus. So rückten die Republikaner, unterstützt durch diese wackere Schar, dem moskowitischen Despoten entgegen. Es kam zur Schlacht. Die Nowgororder siegten, 50 moskowitsche Bojaren nahmen sie gefangen. Aber Verräterei gab am Ende den Moskowitern den Sieg. Ein schwer verwundeter nowgorod’scher Held entging der Gefangenschaft, und heimgekommen, erzählte er den in Nowgorod zurückgebliebenen Bürgern also: „Unsere Scharen stürzten mit dem Schlachtrufe: „Wer vermag etwas gegen Gott und Groß-Nowgorod?“ auf den Feind. Dem furchtbaren Kampfe erbebte die ganze Ebene des Schlachtfeldes, in Strömen floss das Blut. Manche Schlacht habe ich erlebt, aber wie diese sah ich nie eine. Russen kämpften gegen Russen, beide wollten die slawische Abkunft beurkunden. – Ach, kein Kampf ist so fürchterlich als der zwischen Brüder! Ob Tausende fielen, die ersten Reihen blieben immer vollzählig. Jeder beeiferte sich, die Lücke eines Gefallenen auszufüllen, und mitleidslos schritt er über des Bruders Leichnam hinweg, um ihn wenigstens zu rächen. Einer eisernen Mauer gleich, stand Johanns Heer, gleich den Sturmeswogen des Meeres aber stürmten Nowgorods Männer gegen dasselbe an. Für den Ruhm kämpfte Moskau, wir für Ruhm und Freiheit! Dem Feldherrn folgend, der nur immer den Fürsten von Moskau suchte, drangen wir endlich vor. Johann war von seinen Tapferen umgeben, aber unser junger Feldherr machte sich Bahn, schwang ein großes Schlachtschwert über Johanns Haupt, und – ließ den Arm wieder sinken . . . Da hieb der kräftige Arm von Johanns Waffenträger dem jungen Helden aufs Haupt, dass die Helmstücke umher flogen. Noch einmal wollte er hauen, aber Johann selbst hielt den Schild über den jungen Helden. Die Gefahr, welche unsern Führer bedrohte, verdoppelte unsere Kraft – und bald brachten wir Johanns Zentrum in Verwirrung, und wir riefen Sieg! Sieg! Aber in demselben Augenblicke ertönte hinter uns Johanns Name und wir sahen den moskowit’schen Feldherrn, der unsern linken Flügel umgangen hatte, Dmitrij – sonst der Tapfere – jetzt der Verräter – hatte Nowgorod verraten! Des Feldherrn Befehle zuwider, hatte er seine Schaar in einen Sumpf geführt und so dem Moskowiter Raum gegeben, uns zu umgehen. Unser junger Held flog nach dem linken Flügel, um der Betrogenen Mut wieder aufzurichten; allein nur zum Heldentode konnte seine Anwesenheit die Tapferen noch begeistern. Er kämpfte helmlos, aber jeder Nowgororder diente ihm als Schild. Mitten unter Moskaus Scharen erblickte er den Verräter Dimitrij, er ereilte ihn und spaltete ihm den Schädel. Das war seine letzte Tat; er fiel von Cholmskijs des Moskowiters Schwert. An den Ufern der Schelona schleuderte er noch ein Schwert in die Wellen und starb.

Der Erzähler, ein Held und schwer verwundet, schwieg, sein Blick ruhte nochmals auf der Wiätims - Säule und darauf schloss er das Auge auf ewig. – „Zählt die Bürger und Edlen, kaum die Hälfte kehrte zurück – die andern liegen alle um die Fahne des Vaterlands gefallen“, sprach ein anderer Tapferer. „Zählt auch uns!“ rief der Führer der „Edelherzigen Schaar;“ von 700 Brüdern ist nicht der dritte Teil mehr übrig, die andern sanken neben dem jungen Nowgorod’schen Helden!“ – Karamsin. Marfa. Possadniza.

Johann rückte nun mit seinem Heere auf die Stadt Nowgorod los, welche die Bürger in guten Verteidigungszustand gesetzt hatten, und belagerte sie. Hunger und Verrat lieferte auch bald die Stadt in seine Gewalt. Er zeigte sich gegen die Bürger zwar großmütig, aber nebenbei hielt er auch ein schreckliches Blutgericht. Viele Bojaren ließ er zu Tode foltern, andere schickte er in die Verbannung, und dreihundert Fuhren beladen mit Gold und Kostbarkeiten ließ er nach Moskau führen. (1478)

In Nowgorod lebten also schon im zwölften und dreizehnten Jahrhundert viele Deutsche. In Moskau aber, dass indes erst im vierzehnten Jahrhundert eine bedeutende Stadt wurde, fingen die Ausländer erst unter Johanns, eben dieses Fürsten und seines Enkels, Johanns des Schrecklichen Regierung an, sich zu zeigen, obgleich schon Johann Kalita (1328–1340) manche, besonders deutsche Ritter ins Land zog, auf dass sie ihm mit Rat und Tat beistünden in einem Kriege, den er mit den Mongolen anzufangen gedachte. Die gelehrtesten russischen Geschichtsforscher behaupten, dass auch der Stammvater des Hauses Románow, ein deutscher Ritter, zu dieser Zeit nach Russland gekommen sei, wo ihn Johann Kalita zum Bojaren machte und mit Gunstbezeugungen überhäufte. Einer seiner Sprösslinge, Michail Fedorowitsch, kam durch die Wahl der Bojaren und des Volkes, 1613 auf den Zarenthron. Johann, der Besieger der Nowgoroder und der Mongolen berief schon viele Ausländer ins Land, Baumeister, Gelehrte und Ärzte. Jene schauderhafte Scene, deren wir oben erwähnten, fand unter seiner Regierung Statt.

Ein deutscher Arzt, Namens Anton praktizierte in Moskau und war stets glücklich in seinen Kuren. Das flößte einer fürstlichen Tatarenfamilie, die in Moskau lebte und deren Vater krank war, Vertrauen ein, diesen Arzt zu Rate zu ziehen. Anton versprach ein Möglichstes zu tun, um den kranken Fürsten wieder herzustellen, hatte aber das Unglück, dass er ihm unter den Händen starb. Auf Verlangen der Anverwandten des Verstorbenen lieferte der Großfürst Johann den Arzt in die Gewalt der schändlichen Tatarenfamilie, die den unglücklichen Mann unter der Brücke des Moskaustromes förmlich schlachten ließ.

Einem Arzte aus Venedig, Namens Leo, gewöhnlich Meister Leo genannt, ging es, fünf Jahre später (1490) nicht viel besser. Johann, ein Sohn eben jenes Großfürsten, litt an einem nagenden Schmerze, wahrscheinlich an Gicht in den Füßen. Meister Leo erbot sich, den Kranken zu heilen und bürgte mit seinem Kopfe für dessen Wiedergenesung. Der Zar ließ ihn gewähren. Der Arzt brannte dem Kranken die Füße mittelst gläserner Flaschen, die mit heißem Sand angefüllt waren und gab ihm den Saft verschiedener Kräuter zu trinken. Nach langen Leiden starb der Prinz. Johann ließ den Arzt ins Gefängnis werfen und nach sechs Wochen öffentlich hinrichten. In dieser barbarischen Handlung sah das russische Volk nur einen Akt der Gerechtigkeit. Aber alle Ausländer in Moskau, namentlich die Ärzte, bekamen einen höllischen Respekt vor den kranken Großen.

Eines Tages besuchte ich mit meinem Freunde das oben erwähnte Dreifaltigkeitskloster, welches das größte, reichte und berühmteste Kloster von ganz Russland und von Außen wie eine Festung des Mittelalters anzusehen ist, denn es hat, wie der Kreml in Moskau, eine starke Mauer, von der es umgeben ist, und auf der sich mehrere Wart- oder Beobachtungstürme erheben, und steht wie jener, inmitten der Stadt Troizkoi-Sergiew, die man sonst auch nur einen Marktflecken nennt. Weltberühmt ist das Glockenspiel, welches sich hier in der Himmelfahrtskirche befindet. Seine Klänge, ein harmonisches Donnergetöse, müssen gehört werden, um sich einen richtigen Begriff davon machen zu können, eine Beschreibung davon ist unmöglich. Prachtvoll ist die Dreieinigkeitskathedrale, deren ganzes Dach mit Kupfer gedeckt und echt vergoldet ist. In dieser Kirche ruht der Leichnam des heil. Sergiew oder Sergius, des Gründers dieses Klosters, zu dem alljährlich Hunderttausende von rechtgläubigen Russen wallfahrten. Die Stadt Moskau, und namentlich dieses Kloster erinnert uns an die grauen Taten Johanns des Schrecklichen. Wir werden in einem besonderen Kapitel einige derselben erzählen. Sergiew bewog den Großfürsten Dimitrij IIII. Johannowitsch, dem Chan Tochatmik den Krieg zu erklären, indem er ihm einen vollständigen Sieg verhieß. Die Prophezeiung ging in Erfüllung, Dimitrij schlug in einer Schlacht am Don die Tataren dergestalt aufs Haupt, dass man sich dem süßen Glauben hingeben konnte, der Ungläubigen Macht sei für jetzt und immerdar in Russland vernichtet. Dieses Glück trat indes, wie schon bemerkt, erst ein Jahrhundert später ein. Wenigstens aber ist Dimitrij, der für die gewonnene Schlacht den berühmten Namen „Donskoj“ erhielt, wie bereits erwähnt, als der erste Besieger der Mongolen und Tataren zu betrachten. Aus Dankbarkeit überhäufte der Großfürst das Troiza*)-Kloster mit kostbaren Geschenken und vergrößerte seine Ländereien ganz außerordentlich.

*) Troiza heißt Dreieinigkeit.

Damit war eigentlich der Grund gelegt zu dem ungeheuren Reichtum, den dieses Kloster einige Jahrhunderte hindurch besaß und zum Teil wohl auch noch besitzt, doch nur zum Teil, denn Katharina II. ließ die meisten Besitzungen desselben dem Staatsschatze zufließen. Das Kloster hatte 106.000 Bauern und ein dieser Zahl entsprechendes Grundgebiet. Nach Sergiews Tode (starb 1392) verwandelten die Tataren auf ihrem Verheerungszuge, der bis Moskau ging, dieses Kloster in einen Schutthaufen. Aber bald wurde es wieder neu aufgebaut und stark befestigt. Seitdem diente es. Vielen zu einem sichern Zufluchtsorte gegen innere und äußere Feinde. Dem Bilde des heiligen Sergiew, das, wie alle russische Heiligenbilder auf Holz gemalt ist, schreibt man eine Wunderkraft zu, weshalb denn auch die rechtgläubigen Russen aus allen Gegenden des Reiches hierher wallfahrten. Alexei Michailowitsch und sein Sohn, Peter der Große, führten dieses Bild als Paladium in den Kriegen gegen die Schweden überall mit sich. Dieser letztere fand in dem Kloster Troiza eine sichere Zufluchtsstätte während des schrecklichen Aufstandes der Strelzi oder Strelizen. Eine Hauptszene aus dem furchtbaren Aufstande der Strelzi ist im Bilde dargestellt und in ganz Europa bekannt, nämlich die, wie die Mutter Peters des Großen in diesem Kloster ihren jungen Sohn auf den Stufen des Altars gegen die Rasenden schützt. „Nicht hier an geweihter Stätte wollen wir ihn ermorden, denn er wird uns ja nicht entgehen!“ sagt einer der Stralzi, und so lassen die andern ihre Schwerter fallen und sinken an den Stufen des Altars nieder. So wurde der junge Prinz Peter gerettet.

Beim Ausbruch des Krieges mit den Franzosen führte man unermessliche Schätze, die bis dahin in Moskau aufbewahrt wurden, hierher, während man sich dabei benahm, als wären dieselben nach Nichnei-Nowgorod transportiert worden. Hätte das Napoleon gewusst, er hätte diese Kostbarkeiten im Werte von mehreren hundert Millionen Rubel gewiss nicht unberührt gelassen.

Moskau - Basilius-Kathedrale

Moskau - Basilius-Kathedrale

Moskau - Armenküche

Moskau - Armenküche

Moskau - Bettler vor der Kirche

Moskau - Bettler vor der Kirche

Moskau - Droschkenkutscher

Moskau - Droschkenkutscher

Moskau - Empfang im Kreml

Moskau - Empfang im Kreml

Moskau - Feuerwehr im Einsatz

Moskau - Feuerwehr im Einsatz

Moskau - Händler

Moskau - Händler

Moskau - Kaiserkrönung

Moskau - Kaiserkrönung

Moskau - Wirtshausleben

Moskau - Wirtshausleben

Moskau - Verkäuferin von Salzheringen

Moskau - Verkäuferin von Salzheringen

Moskau - tanzende Soldaten

Moskau - tanzende Soldaten