Russisches Leben – 12. Über die heidnischen Russen. Nach Dr. Frähn, weiland Akademiker zu St. Petersburg

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.
Autor: Simon, Johann Philipp (?-?), Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Reisebericht, Russische Geschichte, Religion, Christentum, Cholera, Nowgorod, Hansezeit, Slawen
Über die Sitten und Gebräuchen der alten heidnischen Russen wusste man bis in die neuere Zeit äußerst wenig Zuverlässiges, und man weiß auch heut zu Tage nur wenig davon. Nestor, der Mönch im Kloster zu Kiew, war der erste, der über russische Geschichte schrieb. Er lebte im 11. Jahrhundert, und beleuchtete jenen Punkt nur schwach, sei es, weil es ihm an glaubwürdigen Nachrichten fehlte, oder weil ihm die Sache nicht wichtig genug schien. Das berühmte russische Geschichtswerk Karamsins war schon bereits gedruckt, als der Orientalist, Akademiker Dr. Frähn zu St. Petersburg, in Jarkuts geographischem Lexikon, Etwas, das den oben genannten Punkt näher beleuchtet, zu Tage förderte. Karamsin war darüber voll der äußersten Freude. Es ist nämlich die Erzählung des arabischen Schriftstellers, Ibn-Foszlan, der sich zur Zeit der Regierung Igors als Gesandter eines Kalifen in Russland befand. Wir teilen, nach der Übersetzung des berühmten Akademikers Frähn, einiges im Auszuge hier mit. Der arabische Gesandte erzählt also: „Russ, aus Rs geschrieben, ist ein Volk, dessen Land an das der Slawen *) und Türken grenzt. Sie haben ihre eigene Sprache, und eine Religion und ein göttliches Gesetz, worin sie mit keinem andern Volke etwas gemein haben. Ihre Kopfzahl schätzt man gegen 100.000. – Wird einem von ihnen ein Sohn geboren, so wirft ihm der Vater ein Schwert, hin und spricht: „Dein ist nur das, was Du mit deinem Schwerte erwirbst.“ Wenn ihr König (melik) zwischen zwei Widersachern einen richterlichen Ausspruch tut und diese damit nicht zufrieden find, spricht er zu ihnen: „Richtet unter euch selbst mit euren Schwertern.“ – Wessen Schwert dann das schärfste ist, dessen ist der Sieg. –

*) Damals waren viele Slawen von dem Fürsten von Nowgorod und Kiew noch nicht unterworfen; die unterworfenen aber hatten sich mit den Skandinaviern vermischt und hießen daher, nach Ruriks Namen, Russen.

Ich sah die Russen, wie sie mit ihren Waren angekommen waren und sich am Fluss Itil (Wolga) gelagert hatten. Nie sah ich Leute von so großem Körperbaue; sie sind hoch wie Palmbäume, fleischfarbig und rot. Sie tragen keine Kamisöler, auch keine Kaftane. Bei ihnen trägt der Mann ein grobes Gewand, das er um eine Seite herum wirft also, dass ihm ein Arm frei bleibt. Jeder führt eine Art, ein Messer und ein Schwert bei sich. Ohne diese Waffen sieht man sie niemals. Ihre Schwerter sind von europäischer Arbeit (efrandschije). Die Weiber haben auf der Brust eine kleine Büchse angebunden, sie besteht aus Eisen, Kupfer, Silber oder Gold. An diesem Büchschen ist ein Ring und an dem ein Messer ebenfalls auf der Brust befestigt. Um den Hals tragen sie silberne und goldene Ketten. Wenn der Mann nämlich 10.000 Dirhem (Silberstücke) besitzt, lässt er seiner Frau eine Kette machen; hat er 20.000, so bekommt sie zwei Ketten; und so erhält sie, so oft er 10.000 Dirhem reicher wird, eine Kette mehr. Daher befinden sich oft eine ganze Menge Ketten an dem Halle einer russischen Frau. – –

Die Russen sind die unsaubersten Menschen, die Gott erschaffen hat. Sie reinigen sich nicht – – wie wenn sie wild herum laufende Esel wären. – – Sie waschen sich (zwar) regelmäßig mit dem schmutzigsten Wasser, das es geben kann, Gesicht und Kopf. Morgens nämlich kommt das Mädchen und bringt eine große Schale mit Wasser, die es vor seinen Herrn hinstellt. Der wäscht sich darin Gesicht und Hände, alle seine Haare wäscht er und kämmt sie mit dem Kamme in die Schüssel aus. Darauf schnäuzt er sich und spuckt in dasselbe Gefäß, und lässt keinen Schmutz zurück, sondern tut ihn in dieses Wasser ab. Wenn er, was nötig war, verrichtet, trägt, das Mädchen die Schüssel mit demselben Wasser zu dem, der ihm zunächst ist. Der macht's wie jener. Sie aber fährt fort, die Schüssel von dem einen weg und zu dem andern hinzutragen, bis sie bei allen, die im Hause sind, herum gewesen ist, von denen jeder sich schnäuzt und in die Schüssel spuckt und Gesicht und Haare in derselben wäscht. – –

Sobald der Russen Schiffe an einem Ankerplatz gelangt sind, geht jeder von ihnen ans Land, hat Brot, Fleisch, Zwiebeln, Milch und berauschendes Getränke bei sich und begibt sich zu einem aufgerichteten hohen Holze, das ein menschliches Gesicht hat und von kleinen Statuen derselben Art umgeben ist, hinter welchen sich noch andere hohe Hölzer aufgerichtet befinden. Er tritt zu der hohen hölzernen Figur, wirft sich vor ihr zur Erde nieder und spricht: „O, mein Herr! ich bin aus fernem Lande gekommen, führe so und so viele Mädchen (Sklavinnen zum verkaufen) mit mir und von Zobelfellen (semmur) so und so viel Felle“; und wenn er so alle seine Handelsware aufgezählt, fährt er fort: „Dir habe ich diese Geschenke gebracht!“ legt dann, was er gebracht, vor die hölzerne Statue und sagt: „ich wünsche nun, du beschertest mir einen Käufer, der brav Gold und Silberstücke hat, der mir abkauft Alles, was ich möchte, und der mir in keiner meiner Forderungen zu wider ist.“ – Dieses gesagt, geht er weg. Wenn nun sein Handel schlecht geht, und sein Aufenthalt sich sehr in die Länge zieht, so kommt er wieder und bringt ein zweites und abermals ein drittes Geschenk. Und hat er noch immer Schwierigkeiten in allem, was er wünscht und treibt, so bringt er einer von den kleineren Statuen ein Geschenk dar und bittet sie um Fürsprache, indem er sagt: „Dies sind ja unsere Herren, Frauen und Töchter.“ Und so fährt er fort, jede Statue, eine nach der andern anzusehen, sie um Fürsprache anzuflehen und sich vor ihr in Demut zu verbeugen. Oft geht dann sein Handel leicht und gut und er verkauft alle seine mitgebrachten Waren. Dann sagt er: „Mein Herr hat mein Begehr erfüllt. Jetzt ist meine Pflicht, ihm zu vergelten.“ Darauf nimmt er eine Anzahl Rinder und Schafe, schlachtet sie, gibt einen Teil des Fleisches den Armen, trägt den Rest vor jene große Statue und vor die um sie herum stehenden kleinen, und hängt Köpfe der Rinder und Schafe an das Holz auf, das in der Erde aufgerichtet steht. In der Nacht aber kommen die Hunde und fressen Alles auf. Dann ruft der, der es hingelegt, aus: „Mein Herr hat an mir sein Wohlgefallen, er hat alles aufgespeist!“ – –

Wird einer von den Russen krank, so schlagen sie ihm, entfernt von sich, ein Zelt auf; in dasselbe legen fiel ihn, und lassen neben ihm Wasser und Brot zurück. Nahe zu ihm treten sie dann nie, sprechen auch nicht mit ihm, ja, was noch mehr ist, sie besuchen ihn nicht einmal in all der Zeit seiner Krankheit, besonders, wenn es ein Armer oder Sklave ist. Wenn er genesen und von seinem Krankenlager aufsteht, so begibt er sich zu den seinigen zurück. Stirbt er aber, so verbrennen sie ihn; ist es jedoch ein Sklave, lassen sie ihn, wie er ist, bis er endlich eine Beute der Hunde oder Raubvögel wird. – –

Ertappen sie einen Dieb oder Räuber, so führen sie ihn zu einem hohen dicken Baume, schlingen ihm einen dauerhaften Strick um den Hals, knüpfen ihn damit an den Baum auf und lassen ihn hängen, bis er durch Wind und Regen aufgelöst, in Stücke zerfällt.“ – –

Der gemütliche Araber fährt fort, indem er von der Totenfeier eines heidnischen russischen Fürsten erzählt, die er mit angesehen; da uns aber das Bild hiervon noch weit unliebenswürdiger vorkommt, als jene altrussische Methode, sich zu waschen, so wagen wir es nicht, es hier nach zu erzählen.

Karamsin war über diesen Beitrag zur russischen Geschichte so hoch erfreut, dass er ihn, da sein Werk schon über die Hälfte gedruckt war, dem achten Bande desselben beifügte, obgleich der Beitrag in den ersten Band gehört hätte.

Igor hatte einen unglücklichen Kriegszug gegen Konstantinopel unternommen, indem ein ganzes Heer eine förmliche Niederlage erlitt. Glücklicher war er zwei Jahre darauf, als er abermals dahinzog und einen eben so vorteilhaften Vertrag für sich, wie einst sein Vetter Oleg, von dem griechischen Kaiser erzwang. Durch diese Feldzüge kamen schon viele Christen nach Kiew, und mancher von den Russen hatte sich taufen lassen.

Bei seinem Tode hinterließ Igor einen Sohn, Namens Swiätoßlaw. Da dieser aber noch sehr klein war, führte Olga, seine Mutter, die Regentschaft, (945). Im Jahr 957 trat Swiätoslaw, noch sehr jung, die Regierung an, nachdem Olga sich bereits im Jahr 954 zu Konstantinopel hatte taufen lassen, wobei sie den Namen Helena erhalten. Ihr Sohn aber blieb Heide, indem er der Mutter, auf deren Vorstellungen, ein Christ zu werden, antwortete, er dürfe sich von seinen Feldherren nicht auslachen lassen. Doch duldete er die Christen in Kiew. Swiätoslaw war einer der abgehärtesten und tüchtigsten Kriegsleute, die je gelebt haben. Er hielt sich weder Wagen noch ein Feldbett; die Decke eines Pferdes war sein Bett, der Sattel sein Kopfkiffen, der Bogen des Himmels sein Obdach. Seine Speise war Pferdefleisch oder Fleisch von wilden Tieren, das er auf glühenden Kohlen röstete. Seinen Kriegern war er Muster und Vorbild. Er eroberte ganz Bulgarien, das ehemalige untere Mösien der Römer, zwischen dem nördlichen Balkan und der Donau. Unglücklich im Kampfe mit den Griechen, erlitt sein Heer eine förmliche Niederlage und er selbst wurde auf der Heimkehr nach Kiew an den Wasserfällen des Dnjepr von den Petschenegen, einem tartarischen Volksstamme, erschlagen. Karamsin nennt ihn den Alexander des Nordens. Er hinterließ drei Söhne: Namens Jaropolk, Oleg und Wladimir. Unter sie hatte er das Land geteilt, als er nach Bulgarien zog und dort ein Hoflager nahm. Wladimir, nach seinem Tode der Große genannt, erhielt den Staat Nowgorod. Das war die erste unglückliche Zerstückelung des Reiches, die später so oft wiederholt wurde - und so traurige Folgen für das ganze Land hatte.

Karamsin sagt von dieser Teilung des Reiches folgendes: „Und so führte er den unseligen Gebrauch ein, den Söhnen besondere Teilfürstentümer zu verleihen, die Ursache aller Drangsale, die späterhin Russland so hart trafen.“ – Nach dem Tode Swiätoslaws herrschten seine drei Söhne, jeder in seinem Fürstentum. Es kam bald zum Kriege zwischen den beiden älteren, Oleg kam dabei um, und Wladimir floh vor dem ältesten aus Nowgorod übers Meer zu den Skandinaviern. Jaropolk führte nun zwei Jahre lang die Alleinherrschaft. Da kehrte Wladimir mit einer Menge tapferer Norweger zurück, entflammte die Nowgororder zum Kriege gegen seinen Bruder, schlug ihn, und ließ ihn in Kiew ermorden. Wladimir nahm das Christentum an, wie wir bereits gesehen haben. Er ließ Klöster bauen, Schulen errichten und tat außerordentlich viel zur Ausbreitung des Christentums und zur Aufkeimung der Kultur. Wild und grausam wie er als Heide war, wurde er als Christ sanft wie eine Taube, und ein liebreicher Vater aller Armen. Nie bewirtete er seine Großen, ohne der Armen tätig zu gedenken, denn auch für sie war jedes mal der Tisch in seinem Palaste gedeckt. Damit aber auch die Kranken und Schwachen die nicht erscheinen konnten, nicht ausgeschlossen blieben, ließ er Fleisch, Fische, Brot, Gemüse, Meth und Kwass in den Straßen umher führen und fragen: „Wo sind Kranke, Schwache und Notleidende, damit sie Speisen erhalten?“ – Selig! rief er immer aus, sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Er schaffte auch die Todesstrafe ab, die er indes, auf den dringensten Rat der geistlichen und weltlichen Behörden wieder einführte. Unter seiner Regierung erhob Russland sich zu einer ungeheuren Macht. In allen seinen Kriegen war er glücklich und eroberte viel fremdes Land. Aber zum Unglück für das Reich, teilte auch er das Land unter seine elf oder zwölf Söhne, die zwar unter dem ältesten, als dem Großfürsten, nach Lehnsrecht stehen sollten, was aber nicht oder doch nur immer auf kurze Zeit geschah. Unter diesen zwölfen machte sich Swiätopolk, der eigentlich nur Wladimirs Neffe war, durch ein schlechtes Herz und einen dreifachen Brudermord in der russischen Geschichte sehr berüchtigt. Er war der Sohn des ermordeten Jaropolk. In den grässlichen Bruderkriegen trug endlich Jaroslaw, ein Sohn Wladimirs, der fürstlicher Statthalter in Nowgorod war, den Sieg über alle andern davon, und machte sich zum Alleinherrscher von ganz Russland. Wladimir starb 1015, nachdem er 35 Jahre regiert hatte. Sein Leichnam wurde in der Zehendkirche zu Kiew beigesetzt.

Eine, in ihren Folgen höchst wichtige Begebenheit trug sich unterdessen in Nowgorod zu.

Rurick und Wladimir hatten viele Skandinavier mit ins Land gebracht, und viele waren auch so gekommen, weil sie in Russland gute Aufnahme fanden, indem der Fürst seine Leibwache immer aus ihnen bildete. Diese gewaltigen Haudegen waren aber nicht gekommen, um zu gehorchen, sondern vielmehr um zu befehlen. Der Fürst machte sie auch zu den ersten Beamten im Staate, sie bildeten den hohen Rat, und der Herrscher musste so gar seine Macht und eroberte Beute mit ihnen teilen. Ohne ihre Einwilligung schloss der Fürst nicht einmal Frieden mit den Griechen und andern Völkern.

Lange hatten die geborenen Nowgoroder mit Neid und Verdruss auf sie gesehen, und ihnen Rache geschworen. Endlich im Jahr 1018, wie der Chronist erzählt, rotteten sich die Nowgoroder in Massen zusammen und erschlugen fast die ganze Leibwache Jaroslaws, die der Übermacht erliegen musste.

Das war grade zu der Zeit, als der Brudermörder Swiätopolk, der sich des großfürstlichen Thrones bemächtigt hatte, von Kiew aus im Begriffe war, gegen Nowgorod zu ziehen, um auch noch Jaroslaw aus dem Wege zu räumen. Dieser hatte zwar noch keine Gewissheit hiervon, aber er ahnte es wohl. Um so schmerzlicher musste ihm der Verlust seiner Leibwache sein, auf deren Treue und Tapferkeit er sich verlassen konnte. Außer sich vor Zorn und Wut, beschloss er ihren Tod zu rächen. Er lud alle Großen, die den Aufstand geleitet hatten, freundlich zu sich in seine Burg ein, um sie zu bewirten. Sie gingen in die Falle; er ließ sie alle ermorden. Kaum war das geschehen, so erhielt er Kunde von der Absicht jenes Bösewichts. Was sollte er jetzt anfangen? die Nowgororder waren empört über den Meuchelmord an ihren Mitbürgern. Doch die Analen der Republiken, sagt Karamsin, zeigen uns gewöhnlich die kräftige Wirkung menschlicher Leidenschaften, Ausbrüche des Edelmutes und nicht selten den rührenden Triumph der Tugend mitten unter Empörungen und Verwirrungen, die einer Volksherrschaft eigentümlich sind. Jaroslaw wollte entfliehen übers Meer zu den Skandinaviern; aber das Volk, entrüstet über den dreifachen Brudermord Swiätopolks, eilte ihm nach und sprach: „Du hast unsere Brüder zwar getötet, aber wir verzeihen dir und sind alle bereit, mit dir zu ziehen gegen den Brudermörder. Hast du kein Geld, nimm alles was wir haben!“ und damit zerhieben sie das Fahrzeug, auf dem er entfliehen wollte. An der Spitze eines starken Heeres, zog nun Jaroslaw seinem schändlichen Bruder entgegen, schlug ihn und zog siegreich in Kiew ein, wo er so große Kriegssteuer erhob, dass jeder aus seinem Heere einige Pfund Silbers erhielt. Swiätopolk war zu einem Schwiegervater Boloslaw, dem Könige von Ungarn geflohen. Dieser setzte ihn wieder auf den Thron von Kiew; erntete aber den abscheulichsten Undank dafür; denn Bösewichter kennen keine Dankbarkeit. Jaroslaw vertrieb ihn zum zweiten male aus Kiew, und diesmal kam der Schändliche auf der Flucht um. Jetzt machte sich der Sieger zum Alleinherrscher von ganz Russland. Zuerst vernichtete er die Macht der Petschenegen, dieser gefährlichen Feinde Russlands, und darauf begann er sich groß als Staatsmann zu zeigen. Er erhob Kiew zu einem solchen Glanz, dass man es das zweite Konstantinopel nannte. Er gründete auch viele neue Städte, und für das Aufblühen der Kultur tat er außerordentlich viel. Selbst übersetzte er mehrere theologische Schriften ins Slawonische. Er verstand, wie der Annalist sagt, fünf oder sechs Sprachen. Den Nowgorordern aber gab er aus Dankbarkeit seinen siebenzehnjährigen Sohn zum Statthalter und verlieh ihnen die ausgedehntesten Freiheiten (1026), in Folge deren diese Republik immer mächtiger wurde, und sich 6 Jahrhunderte hindurch in ganz Europa berühmt gemacht. Nowgorod hatte zwar bis zu seinem Untergange (1478) einen fürstlichen Statthalter, der aber ohne Einwilligung des Senats und des Volkes nichts beschließen durfte. So groß Jaroslaw auch als Gesetzgeber und Staatsmann war, so beging er doch auch denselben Fehler, den sein Vater und Großvater begangen hatten, denn auch er teilte das Reich unter seine fünf Söhne. Issjässlaw, der ältere, erhielt den großfürstlichen Thron von Kiew, die andern sollten unter ihm stehen nach Lehnsrecht. Kurz vor seinem Tode ermahnte er alle andern, dem älteren zu gehorchen und in Eintracht mit ihm zu leben. Jarosslaw starb 1054, nachdem er 35 Jahre als Großfürst regiert hatte. Sein Leichnam wurde in einen marmornen Sarg gelegt und in der Hauptkirche zu Kiew beigesetzt. Nach seinem Tode geht Russland mit raschen Schritten der tiefsten Erniedrigung entgegen. Bruderkriege brechen aus, die das Land drei Jahrhunderte hindurch verheeren, zweimal wird der Großfürst Issässlaw durch seine Verwandten vom Thron gestürzt und vom Könige von Polen wieder darauf erhoben. Russland wankt in seinen Grundfesten, und geht während dreier Jahrhunderte hindurch seiner Auflösung entgegen; denn seine Einheit wird sogar in der Idee vernichtet, indem schon Andreas, Fürst von Susdal, es wagte, sich den großfürstlichen Titel zu geben.

Dieser Fürst hatte seine Residenz in Wladimir, während Issjässlaw III. (starb 1157) ohnmächtig auf dem Thron zu Kiew saß. Auf diese Weise wurde es den Mongolen leicht, in das uneinige, durch Bruderkriege verheerte und ermattete Reich einzubrechen, und ganz Russland mit einem schmählichen Tribut zu belegen. Nur allein der Freistaat Nowgorod empfand nichts von diesem Elend. Er war durch innere Einigkeit und seinen Handel so reich, so blühend und mächtig geworden, dass selbst die Mongolen, nachdem sie alle russischen Hauptstädte in Asche gelegt hatten, es nicht wagten, ihn anzugreifen. Daher zahlte er den Mongolen auch viele Jahre keinen Tribut, bis der Großfürst Alexander Newskij ihn dazu veranlasste, indem dieser dadurch den Zorn des habsüchtigen Mongolenchans zu beschwichtigen und dessen Gnade für das ganze übrige unterjochte Russland desto leichter zu erlangen hoffte. So musste der Besieger der deutschen Ritter an der Newa jetzt, als Großfürst von Russland, seinen Nacken unter das verhasste Mongolenjoch beugen! Wir werden in einem besonderen Kapitel von der Mongolen-Herrschaft in Russland erzählen. Nowgorods Verfassung wurde auf folgende Weise gehandhabt.

Es hatte einen Namestnik, einen Prinzen von Geblüt, der Statthalter des Großfürsten und Oberbefehlshaber des freistaatlichen Heeres war; ferner einen Posadnik oder, wie es scheint, auch mehrere zu gleicher Zeit, die in ihrem Amte ungefähr das waren, was die Konsule bei den Römern waren, oder auch, was die Bürgermeister in den deutschen freien Städten sind; ferner einen Tausendmann oder Volkstribunen, der die Handlungen des Statthalters und der Posadniks zu überwachen hatte. Vielleicht fand er auch im Kriege an der Spitze von tausend Mann, oder sein Amt im Staate dehnte sich über so viel Mann aus, daher sein Name. Aus den Grundbesitzern erster Klasse wurden die Bojaren erwählt, eine Würde, mit der man in andern russischen Staaten den höchsten Adel bezeichnete; denen folgten im Ansehen die Kaufleute und ihnen das Volk. Diese Republik war Anfangs nur wie ein Leibgedinge des Großfürsten und wie ein Staat im Staate zu betrachten; bei dem Verfall des großfürstlichen Ansehens aber entwickelte sie immer mehr und mehr ihre republikanische Form, und ihre Verfassung war am Ende rein demokratisch. Sie blieb zwar in einem gewissen Verhältnisse zum Großfürsten; aber es trennten sich die beiden hohen Staats würden: Nowgorod hatte in der Person des Fürsten den fürstlichen Statthalter, in der der Posadniks aber die Oberhäupter der Republik. Dieser Freistaat hatte auch eine Art von Geschworenengericht, wie Karamsin jagt; denn in den Jaroslawischen Gesetzen steht geschrieben, dass der Ankläger bei jedem Gerichtshandel mit dem Beklagten zur Untersuchung von 12 Bürgern erscheine, Geschwornen, die jeden Rechtshandel nach ihrem Gewissen erwogen.

Nowgorod verdankte seine Unabhängigkeit, seine Macht und seinen Handel, mit dem es sich so unermessliche Reichtümer erworben, nur dem Freibrief Jaroslaws, auf den es sich auch immer berief, wenn irgend ein Großfürst seine Rechte antasten wollte. Das schmähliche Joch, das die Mongolen den Russen auferlegt hatten, war für Nowgorod sehr günstig, denn da es davon verschont blieb und es später durch reiche Geschenke – anders nannte es den Tribut nicht, den es gab – sich mit den Chanen abfand, so fehlte auch den russischen Großfürsten die Macht, seine Unabhängigkeit anzutasten; allein eben dieses Joch war es doch auch, das dem Freistaate den Untergang bereitete. Denn die fremden Zwingherren konnten nicht eher aus dem Lande vertrieben werden, als bis Russland sich einigte und kräftigte und alle seine Fürstentümer wieder unter ein Zepter gebracht worden waren. Vergebens trachteten fast alle Großfürsten während zweier Jahrhunderte hindurch, dieses Werk zu Stande zu bringen. Endlich gelang es dem Fürsten von Moskau, Johann Wassiljewitsch, mit dem Beinamen Górdij; er brach die Macht der Mongolen, vernichtete aber auch 1478 diesen Freistaat, aus dem er darauf, wie die Annalisten erzählen, dreihundert Wagen mit Gold, Silber und andere Kostbarkeiten nach Moskau führen ließ. Seit dem sank Nowgorod immer tiefer und tiefer von einer stolzen Höhe herab, und ist heutzutage eine unbedeutende Gouvernementsstadt mit 15.000 Einwohnern.

Nun wollen wir den Leser wieder zu dem guten Braunschweiger führen. Nachdem ich zwei Stunden in Nowgorod umher kutschiert war, und die meisten historisch merkwürdigen Plätze und Gebäude in Augenschein genommen hatte, kehrte ich zu meinem Reisegefährten in die Herberge zurück. Er lag noch auf derselben Bank. Nun, haben Sie ausgeruht? fragte ich ihn. So ziemlich! sagte er. So lassen Sie zu essen geben, was hier zu haben ist, darauf wollen wir weiter gehen, bemerkte ich. Während des Essens machte er mir nochmals Vorstellungen, mich zu bewegen, in Nowgorod über Nacht zu bleiben, denn er sprach wieder von den 25 Werst, die in einer Tour gemacht werden müssten und von dem Sumpf auf der einen, und dem Kanal auf der andern Seite dieses Weges; allein es half Alles nichts, ich konnte mich nicht entschließen, hier zu nächtigen.

Nun, wenn’s einmal sein muss, ist’s Zeit, dass wir uns auf den Weg machen, sagte er. Und so brachen wir auf Fünfzehn Werst wurden schnellen Schritts zurückgelegt; aber jetzt drang die ungeheure Müdigkeit mit Gewalt auf uns ein, kein Obdach war zu sehen; die Erde war nass vom Taue, die Luft wehte feucht von Sumpf und Kanal uns an. Ich weiß mich keiner Nacht zu erinnern, selbst aus den Nächten keine, als ich einmal auf der Nordsee einen viermal vierundzwanzig Stunden dauernden Sturm aushalten musste, die mir so lang und schrecklich vorkam, als eben diese, die ich auf dem Wege von Nowgorod bis zu jener Kreisstadt zubrachte. Der Braunschweiger sah mich zuweilen mit einem erzwungenen Lächeln an.

Ich bot meine letzten Kräfte auf, ihm meine ungeheure Müdigkeit und Ungeduld zu verbergen. Es wurden noch ein paar Werst zurückgelegt, und jetzt sah ich, dass er eine finstere Miene machte, die mich mit Recht beschuldigte, dass ich allein schuld an diesen fast unerträglichen Strapazen sei, die er doch aushalten musste. Es schien mir, als ob ein schweres Felleisen ihn niederdrücke. Sie sind wohl recht müde, Herr Georg, sagte ich, unser langes Schweigen unterbrechend. „O ja!“ versetzte er, „ich bin wohl recht müde! aber verstellen Sie sich nur so viel. Sie können . . . . ich sehe doch, dass Sie nicht minder müde sind. Ja, ja, mein Herr! wenn wir uns die Cholera recht bald in den Magen schaffen wollen, müssen wir recht oft solche Nächte durchmarschieren! Es weht uns ja eine allerliebste kühle Luft von beiden Seiten an! auf der Erde ist's, wie Sie wohl empfinden, hübsch weich und zart zu gehen. Wenn man müde ist, muss man sich setzen oder legen. Aber wo sollen wir das tun? etwa auf der weichen Erde oder in dem betauten Schilf? Da könnte uns ein Schläfchen wohl recht erquicken! Haben Sie Lust dazu? die Nacht ist noch lang und bis zu jener Kreisstadt ist's noch weit! Noch 8 Werst.... freilich, eine Kleinigkeit für einen Mann, der 60 bis 70 Wert täglich zu machen im Stande ist!“

„Herr Georg, ich bin für meinen Eigensinn hinlänglich bestraft! nur Sie tun mir von Herzen leid, dass Sie sich meiner Hartnäckigkeit halber, dieser ungeheuren Beschwerde unterworfen haben. Es ist die langweiligste und schrecklichste Nacht meines Lebens! ich vergehe vor Müdigkeit und Ungeduld! Noch 8 Werst. ... eine jede scheint mir jetzt lang wie die Ewigkeit, und doch ist es unmöglich, dass wir in dieser moorastigen Gegend ausruhen könnten“, rief ich aus.

Nun, nun! sagte der Braunschweiger, gedulden Sie sich noch ein wenig, wir kommen bald an ein neues Haus, das, wie mir scheint, der Vollendung bald nahe sein muss, man baute daran, als ich vor einigen Monaten hierdurch reiste, da können wir doch besser ausruhen, als auf der feuchten Erde oder in dem betauten Schilf. Es muss Ihnen abscheulich schaurig sein in dem feinen Frack?!

Wir konnten. Beide fast nicht mehr gehen, als wir an das Haus kamen, das schon Fenster und Dielen hatte; wir legten uns nieder. Ich war für meinen Eigensinn hinlänglich bestraft. Ein heftiges Frösteln an allen meinen Gliedern schien die Annäherung eines bösartigen Fiebers zu verkünden. Ich konnte keine halbe Stunde hier aushalten. Wir machten uns wieder auf den Weg. Endlich wurde uns das Städtchen sichtbar. Wir erschraken nicht wenig, als wir auf der Brücke den Schlagbaum, der ziemlich in der Stadt war, mit Soldaten besetzt sahen. Der Braunschweiger erkundigte sich, was dies zu bedeuten habe. Hier muss Alles, was aus Moskau und der dortigen Gegend kommt, Quarantäne halten, war der Bescheid. Ich erinnerte mich sogleich der Worte jenes gescheiten Kolonisten. Wir kamen an den Schlagbaum, und wurden zu unserer großen Freude über die Grenze gelassen. Gleich hinter demselben sahen wir das Schild eines Traiteurs, auf dem gemalt war: ein Billard, eine Teemaschine (Samowar, Selbstkocher), Bauern, die Tee trinken, Kellner, die sie bedienen, Tische mit Tassen und Backwerk, und ein Fisch auf einem Teller, in der Lage, wie er im Wasser schwimmt. – Hier kehrten wir ein; denn es war mir viel zu weit, nach dem Posthause zu gehen, obgleich es ziemlich in der Nähe war, und erhielten Kaffee und ein genießbares Fastenessen, das auf mein Verlangen mit reinem Baumöl zubereitet wurde. Ich aß ein wenig, dann legte ich mich nieder. Der Braunschweiger aber verfügte sich in die Küche, wo er mit den Köchen plauderte, und die Fischpasteten, deren beständig gebacken wurden, in Augenschein nahm. Der Bursche schien mir gar nicht so müde zu sein, als ich es mir vorgestellt hatte. Nach einer Weile kam er wieder herein, stellte sich vor mich und sagte: „Wir haben eine abscheuliche Nacht verlebt, und zwar durch Ihren Eigensinn; allein ich bin Ihnen doch großen Dank dafür schuldig . . . “

Ich sah ihn schweigend an, seine Worte schienen mir von einem ironischen Lächeln begleitet zu sein.

In allem Ernst! fuhr er fort, ich bin Ihnen großen Dank für Ihren Eigensinn schuldig! . . . es wird mir nämlich versichert, dass man mit jeder Minute den Befehl erwarte, auch alle Kommende aus St. Petersburg der Quarantäne zu unterwerfen. Wären wir diese Nacht nicht durchmarschiert, so hätte uns das Los treffen können. Ich aber habe keinen Groschen Geld, folglich hätte ich in dem Quarantänehaus halb verhungern können! Nun das hätte ich doch nicht geduldet, sagte ich. Das nächtliche Marschieren hatte keine schlimme Folge für meine Gesundheit, denn nach fünf Stunden Ruhe fühlte ich mich wieder recht wohl.

Ich reiste noch einige Tage in Gesellschaft dieses Mannes und habe in dieser Zeit mehr russisch von ihm gelernt, als in St. Petersburg in einem ganzen Jahre. Diese erlernten Wörter kamen mir späterhin sehr zu Nutzen. Die Bauern in den Dörfern sowohl, als auch die, welche uns auf der Landstraße begegneten, mögen wohl Betrachtungen zwischen uns beiden angestellt haben. Ich mit dem neumodischen Fracke, dem Seidenhut, und dem Pfefferröhrchen machte einen gewaltigen Abstecher gegen meinen armen Freund, der einen groben schäbigen Oberrock, ein Felleisen, eine Mütze, die jenem entsprachen und einen derben Knotenstock trug. Wie ganz anders, als in dieser Zeit, mochte wohl die Hauptstraße Russlands einige Tage vor und nach einer Krönung ausgesehen haben! (Seit Errichtung der Eisenbahn ist es auch ziemlich öder auf diese einst so lebendigen Straße) Keine Diligencen noch ein anderes Fuhrwerk dieser Art kamen mir mehrere Tage lang vor Augen, außer einigen alten Kibitken; die Posthäuser waren fast beständig leer, es wollte sich keine Fahrgelegenheit für mich finden; ich habe mich aber auch wenig darum bekümmert, denn ich hatte, ungeachtet jener schrecklichen Nacht, Geschmack am Marschieren gefunden. Da die Posthäuser an dieser Hauptstraße, in welchen es nach deutscher Weise zu essen und zu trinken gab, die einzigen in ihrer Art waren, und da mir der Braunschweiger so lieb geworden war, beschloss ich, nicht über Smolensk, sondern über Moskau nach Kiew zu reisen, ungeachtet dies ein Umweg von vielleicht dreißig Meilen ist. Ein guter Geist hat mich zu diesem Entschlusse gebracht!

Eines Tages, als ich und mein armer Freund in einem Posthause zu Mittag speiste, sagte er zu mir: „Ich müsste allzu unverschämt sein, wenn ich Ihnen nicht bemerken würde, dass es Ihnen doch zu teuer zu stehen kommen möchte, wenn Sie mich auf diese Art bis Moskau frei halten wollten. Freilich kenne ich weder Ihre Kasse, noch die Mittel, dieselbe, wenn sie leer ist, wieder zu füllen; allein wie mich dünkt, müssen Sie doch gerade keinen Geldüberfluss besitzen. Sie haben noch eine große Reise vor sich. Was würden Sie anfangen, wenn Ihre Kasse leer würde? Unser Einer schlägt sich auf einem hundert Meilen weiten Wege ohne einen Groschen durch – Sie dagegen scheinen zu solchen Haudegen nicht zu gehören. Vielleicht ist allein das Geld vermögend, sich mancher Widerwärtigkeiten zu überheben, die Ihnen noch bevorstehen könnten. Möge Sie Gott dafür behüten! Ich habe einen russischen Magen und danke dem Himmel, wenn er mir nur Fastenessen gibt! Wie gesagt: ich müsste allzu unverschämt sein, wenn ich noch einmal mit Ihnen in ein Posthaus einkehrte.“

Jetzt betrachtete ich im Geiste meine Kasse, stellte mir Alles, was der Mann sagte, lebhaft vor, und ich muss gestehen, ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei. Nun so lassen Sie sich in den Herbergen jedesmal Fastenessen auf meine Rechnung geben! Dies wird meine Kasse wohl noch ertragen, sagte ich.

Auch dieses Anerbieten ist nichts weniger als großmütig, antwortete er, ich will es annehmen; doch nur unter der Bedingung, dass Sie mir auf Ehre versichern, Sie seien vollkommen im Stande dazu. Ich gab ihm diese Versicherung. Am andern Tage nahm ich wieder meine Einkehr in einem Posthause; mein armer Gefährte aber in einem Bauernwirtshause, das sich in der Nähe befand.

Das Essen wollte mir gar nicht schmecken, mir ward wehmütig zu Mute; denn ich hatte mich seit den paar Tagen so sehr an diesen Mann gewöhnt, dass es mir war, als könne ich gar nicht essen und reisen ohne ihn. Seine immerwährend heitere Laune, seine Höflichkeit gegen mich, sein in der Tat feiner Witz, seine Erzählungen aus dem letzten Feldzuge, den er als Braunschweiger Jäger mitgemacht hatte, und endlich sein ausgezeichneter Appetit, wodurch er auch den meinigen, desto besser beförderte: dies Alles machte mir den Mann interessant und lieb. Nach dem Essen ging ich zu ihm in das Bauernwirtshaus, er war gerade mit einer großen Schüssel Erbsen beschäftigt; ein Krug mit Hanföl stand vor ihm, den er aber nicht anrührte. Sie haben ja doch keinen russischen Magen, sagte ich, auf das Fastenöl deutend. Obgleich der russische Bauer, antwortete er, in der Regel eine Fastenspeisen in purem Wasser kocht – dieselben also weder gesalzen noch geschmalzen sind, so kann ich solche Speisen doch dann nur mit Hanföl essen, wenn es recht frisch ist. Frisches Hanföl ist aber beim gemeinen Russen gewöhnlich das, was wir Ringeltauben nennen. – Das Öl ist mir zu fett und zu stark von Geruch. Ich würze das Essen reichlich mit Salz. –

Es kam nun bald die Zeit, dass ich nicht nur allein essen, sondern auch allein reisen sollte. Als ich eines Nachmittags nach gepflogener Ruhe mich, wie gewöhnlich, zum Marschieren anschickte, sagte er: „Ihre Gesellschaft war mir die angenehmste, die ich auf allen meinen Reisen genossen habe; allein der berühmte Läufer des Kurfürsten von Trier oder der ewige Jude mag mit Ihnen reisen! ich vermag es nicht mehr. Bisher wollte ich Ihnen meine Schwäche nicht zeigen; jetzt aber muss ich Ihnen gestehen, dass ich mich fühle, wie ein Geräderter sich fühlen mag, ehe er den eigentlichen Todesstreich empfängt, – das ist genug gesagt. Wir haben täglich 60 bis 65 Werst zurückgelegt; nun aber ist die Zeit gekommen, dass ich Gott danke, wenn ich deren 25 bis 30 zurücklegen kann!“

Ich will Ihnen dies gern glauben, Herr Georg, sagte ich, würde ich Ihren warmen Rock und Ihr Felleisen tragen müssen, und Sie, leicht wie ich, daher gingen, so würde ich auch vielleicht in dieselbe Klage ausbrechen. So lieb und wert Sie mir nun auch geworden sind, und so sehr ich es wünschte, dass Sie mit mir bis nach Moskau reisen möchten, so ist es mir doch unmöglich, mich mit 30 Wert täglich zu begnügen; Sie wissen, ich habe Ursache, so schnell als möglich nach Kiew zu eilen.

Ich fühle dies recht gut, erwiderte er, und will Ihnen keine Vorstellungen machen, Sie etwa zu bewegen, noch ferner mit mir zu reisen; denn solche Vorstellungen würde ich Ihnen meines eigenen Vorteils halber machen, wenigstens würde es doch so scheinen, und das sei fern von mir! Ich verehre. Sie so hoch, dass ich mich um keinen Preis zu einer so niedrigen Handlung herabsetzen möchte. Reisen Sie recht glücklich! Ich werde für Sie beten, dass der Herr Sie mit seiner Gnade begleiten möge. Sie werden, so lange mein dankbares Herz schlägt, freundlich darin leben! Wenn Gott die Wünsche meines Herzens erhört, werden Sie ewig glücklich sein. Das ist gegenwärtig Alles, womit Ihnen der arme Tuchmacher seine Dankbarkeit beweisen kann. -

Sie sind mir gar keinen Dank schuldig, Herr Georg, sagte ich, sondern Sie haben meinerseits auf Dankbarkeit zu rechnen; sollte sich aber Jemand früher oder später für eine Gefälligkeit, die ich ihm erwiesen, mir zum Danke verpflichtet halten, so wünschte ich keinen schöneren Lohn, als eben solchen.

Ich sah ihn an, seine Lippen bebten und ein feuchtes Auge rührte auch mich bis zu Tränen. Der Drang nach Kiew war aber zu gewaltig in mir, als dass ich mich hätte entschließen können, meine Reise in 30 Werst täglich zu teilen. –

Wie mir so mancher Umstand auf dieser Reise merkwürdig bleiben wird, so wird es auch der bleiben, dass mir ein unbekanntes Etwas, die fernere Gesellschaft dieses Mannes gegen meinen Willen nicht nur gleichgültig machte, sondern mich auch plötzlich antrieb, ihn, der mir noch vor einer Stunde unentbehrlich auf meiner Reise zu sein schien, sobald als möglich zu verlassen. Sonderbar ist es, dass mir der Mann gerade in dem Augenblick gleichgültig wurde, als er mir versicherte, seine Kräfte erlaubten es nicht, ferner mit mir zu reisen, da es die höchste Zeit war, wenn ich einer abscheulichen Schmach überhoben sein sollte. Ich hatte in Moskau einen wirklichen Freund, bei dem ich zu wohnen beschloss, als mir der Gedanke in den Sinn kam, nicht über Smolensk nach Kiew zu gehen. Der Braunschweiger, dem das Haus meines Freundes, den ich in St. Petersburg kennen gelernt, bekannt war, versprach mich zu besuchen, im Fall ich bei seiner Ankunft in Moskau noch da wäre. Er hielt Wort. So trinken Sie noch eine Flasche auf unser baldiges frohes Wiedersehn!... sagte ich, darauf schieden wir auseinander.

Ich mochte zwei Werst schnellen Schrittes zurückgelegt haben, als mehrere Kosaken mir begegneten, die mich scharf ins Auge fassten. Ich ging ihnen langsamen, aber sicheren Schrittes vorüber, es schien, als ob sie mich anreden wollten; allein sie taten es zu meiner größten Freude nicht.

Kaum waren sie aus meinen Augen verschwunden, als ich einen Mann, der quer übers Feld, wahrscheinlich aus einem Dorfe kam, auf mich zueilen sah. Zu mir herangekommen fragte er mich etwas auf russisch, das ich aber nicht verstand. Seine Gesichtsbildung sagte mir, dass es ein Kind
aus dem Hause Israels sein müsste. Von Gestalt war er ein halber Riese, sein Bart spielte ins Rötliche und passte zu den groben Zügen seines Gesichtes und dem bösen Blicke seines trüben Auges vollkommen, um der ganzen Gestalt ein unheimliches Ansehen zu geben. Wäre er mir in einem Walde begegnet, es hätte mir vor ihm bange werden müssen. Seine Kleidung war indes ziemlich sauber und nach westeuropäischem Schnitte. Sie verstehen deutsch! sagte ich zu ihm, wenn Sie mich daher etwas zu fragen haben, so müssen Sie deutsch sprechen. „Ah, Sie sind ein Deutscher! dachte ich es mir doch! Im ersten Augenblicke aber“, fuhr er fort, „hielt ich Sie für einen jungen russischen Edelmann, der des schönen Wetters wegen einen Spaziergang zu Fuße machen möchte.“ – Das hatten sich wahrscheinlich die Kosaken auch vorgestellt, dachte ich. – Als das Schicksal es bestimmte, dass ich meine besten Kleider auf dieser Reise anhaben sollte, hatte es gewiss einen Zweck dabei vor Augen und zwar nicht den allein, dass ich diese Kleider, die mir so viel Geld gekostet hatten, schneller als es sonst geschehen wäre, ruiniere, sondern auch noch einen andern ... Wohnen Sie in dieser Gegend? fragte mich der Rotbart weiter. Nein, sagte ich, ich wohne in St. Petersburg und bin auf einer Reise nach Moskau begriffen. „Wo ist denn Ihre Equipage?“ Die habe ich vorausgeschickt, weil ich ein wenig zu Fuße gehen will, sagte ich etwas böse zu ihm. Er aber ließ sich dadurch nicht abschrecken, denn es war ein äußerst zudringlicher Mensch. Schade, meinte er, dass er eine viertel Stunde von hier an einem Edelmann noch eine Operation zu machen hätte, sonst würde er mich bis Twer begleiten, denn er müsse auch dahin. Ich wollte ihm durch kein Wort begreiflich machen, dass ich seine Begleitung durchaus nicht wünsche, und so trabte er neben mir vorwärts. Wie man hört, sagte er, muss die Cholera in St. Petersburg schrecklich wüten?. . . Wie geht es wohl den Ärzten, sind sie glücklich im Heilen dieser bösen Krankheit? Das kann ich Ihnen nicht sagen, gab ich zur Antwort, denn ich hatte keine Zeit, mich darüber zu erkundigen. Da wäre wohl ein glänzendes Geschäftchen zu machen, fuhr er fort, wenn man ein unfehlbares Mittel wüsste, die Cholerakranken zu heilen. Wissen Sie nicht, wie die renommiertesten Ärzte bei dieser Krankheit zu Werke gehen und welche Mittel sich dabei als die besten bewährt haben? Darüber kann ich Ihnen gar keinen Bescheid geben, sagte ich, denn ich habe weder Cholerakranke gesehen noch habe ich etwas über die Mittel vernommen, welche die Ärzte mit gutem oder schlechtem Erfolg anwenden. – Schade! schade! brummte er sich in den Bart, wenn man doch ein unfehlbares Mittel wüsste . . . man könnte sich nicht nur aus seiner fatalen Lage heraus reißen, sondern es ließe sich dabei auch noch ein hübsches Kapitälchen machen! Wie wollte ich die reichen Geizhälse zwiebeln, wenn ich ein solches Mittel wüsste und sie von mir geheilt werden wollten, wie wollte ich sie zwiebeln! meinte er. Sie wollten es zwar gern, sagte ich lachend, aber es ist dafür gesorgt, dass Sie es nicht können! – Ja, Sie haben gut schwätzen, fuhr er fort, ich habe eine schlimme Zeit verlebt, denn kein Teufel litt den ganzen Winter hindurch weder an Hühneraugen noch an Frostbeulen, und so habe ich nichts verdient. Jetzt aber in der Hitze, da gibt’s mosóli! (auf russisch Leichdörner) die Füße schwällen auf und die Schmerzen stellen sich ein. Gott Lob! dass wird endlich Hitze haben! sagte er und rieb sich vergnügt die plumpen Hände. Haben Sie keine Hühneraugen? fragte er mich. Ich sah ihn böse an und wollte ihm sagen, dass, wenn ich deren hätte, ich seinen groben Händen nicht einmal meinen Stiefel, geschweige meinen Fuß anvertrauen würde; allein ich verbiss diese Worte auf der Zunge und sagte: nein, ich habe keine Hühneraugen, wünsche mir auch mein Lebtage keine, und wenn es in meiner Gewalt stünde, würde ich alle Menschen von den abscheulichen Schmerzen, die sie verursachen, auf immerdar befreien. Gott sei Lob und Dank! sagte er, dass auch Sie nur wollen – aber nicht können, sonst würde ich keinen Groschen mehr verdienen! Damit schlug er einen Fußsteig ein, der wahrscheinlich nach dem Dorfe führte, wo jener Edelmann wohnte, um dessen Füße in die Kur zu nehmen. Ich wünschte ihm alles Böse auf den Weg, weil er den Menschen die abscheulichsten Schmerzen von der Welt wünschte, damit er nur brav Geld verdiene. Da ich aber gegen keinen Menschen lange einen Groll haben kann, so versöhnte ich mich im Geiste gleich wieder mit ihm, indem ich mir das bunte Spiel des Lebens, wobei der Aufgang des Einen, den Untergang des Andern erheischt, zum Gegenstande der Betrachtung machte, und so fand ich es denn ganz natürlich, dass nicht allein die Hühneraugen-Operateurs und Zahnärzte, sondern auch die Totengräber um ihr täglich Brot bitten, ja, dass auf der skandinavischen Halbinsel, wo es viele für Seefahrer gefährliche Stellen gibt, allda jährlich Schiffe scheitern, was den Bewohnern dieser Gegenden Nutzen bringt, die Leute sogar täglich in der Kirche den lieben Gott bitten, ihren Strand zu segnen.

Aus dem russischen Volksleben

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Moskau - Wirtshausleben

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