Russische Volksmärchen in den Urschriften gesammelt und ins Deutsche übersetzt

Mit einem Vorwort von Jacob Grimm
Autor: Anton Dietrich, Jacob Grimm., Erscheinungsjahr: 1831

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Sagen und Märchen, Recken Ritter, Helden, Prinzessinnen, Tradition, Heimat, Überlieferung, Heldentaten
Vorwort.

Echte, der lebendigen Überlieferung des Volks angehörige Kindermärchen haben in unserer Zeit aus einem doppelten Grund Beifall gefunden. Jener faden und nüchtern ersonnenen Erzählungen, welche dem einfältigen Kindersinn in leeren, keine Wurzel schlagenden Bildern nichts als einen verdünnten Absud dürftiger Moral anboten, endlich müde, freute man sich, die verarmte Jugend in ihr Eigentum wieder einzusetzen und an dem noch unversiegten Quell der alten Phantasie zu laben. Zugleich aber wurde klar, dass die Poesie des Mittelalters, der man eben größere Aufmerksamkeit zuzuwenden begonnen hatte, selbst mit diesen Märchen zusammenhinge und die wechselseitige Aufklärung beider durch einander nicht vernachlässigt werden dürste. Indem also die unerwartete Fortdauer einzelner Züge und Richtungen der alten Dichtung in den Kindermärchen nachgewiesen wurde, gewann die Betrachtung dieser letzteren, wie die des mündlich lebenden Volksliedes, einen wissenschaftlichen Reiz, und der Gesichtspunkt der Sammlungen musste von nun an erweitert werden. Es kam darauf an, sich nicht nur der vollständig erhaltenen und für den Gebrauch der Jugend ausreichenden Märchen zu versichern, sondern auch aller Bruchstücke und örtlichen Abweichungen, so viel man ihrer habhaft werden konnte, zu bemächtigen. Und wenn in dieser Hinsicht bis jetzt der Sammlung noch kein Genüge geschehen ist, sondern es lange fortgesetzter Mühe und Anstrengung bedürfen wird; so scheint es doch, dass die vielfach angeknüpften Untersuchungen bereits sattsamen Grund und Boden gewonnen haben, und aus die bleibende Teilnahme des Publikums rechnen dürfen.

Unter diesen Umständen ist es vorzüglich wünschenswert, auch die Kindermärchen der übrigen Völker kennen zu lernen. Man weiß, dass bei Franzosen und Italienern fast die nämlichen im Gange gewesen sind, die bei uns Deutschen fortleben, weniger bekannt geworden ist, was die Spanier besitzen. Und doch hat keins dieser Völker in der Regel das seinige unmittelbar aus dem Eigentum des andern entlehnt, meistenteils erscheint, neben der Einstimmung im Ganzen, ein eigentümliches nationales Gepräge, das an den einzelnen Erzählungen grade gefällt, und über ihrer Verbreitung schwebt ein Dunkel, wie bei der Sprache und alten Dichtung insgemein. Sie dürfen eben darum auf ein sehr hohes Alter Anspruch machen, dessen Stufen sich nur durch die vielseitigste Vergleichung aller untereinander ermitteln lassen werden.

Vielleicht erwacht auch unter den slawischen Stämmen die Lust zu sammeln und aufzuzeichnen, was im Munde ihres Volks umgeht. Serben, Böhmen, Polen und Russen sind reich an Kindermärchen, deren treue und einfache Auffassung die Geschichte der europäischen Volksdichtung auf das erwünschteste fördern würde. Von den serbischen sind einige Proben, die nach weiterer Mitteilung begierig machen, durch den trefflichen Sammler der Volkslieder bekannt geworden. Der Herausgeber des vorliegenden Buchs lernte in Moskau gedruckte Volksblätter kennen, welche russische Kindermärchen enthalten, worüber er in seiner eignen Vorrede das nähere melden wird. Die Erzählung ist einfach und schmucklos, wenn schon nicht lebendig und frisch, wie sie sonst aus mündlichem Überliefern hervorzugehen pflegt; es scheint, dass die Bestimmung für den Druck unter der Hand ungeübter Aufzeichner ihnen geschadet habe. Doch fehlt es nicht an wiederkehrenden Formeln, die sich gewiss auf treue Beibehaltung gründen und dem Ganzen eigentümliche Färbung verleihen, zum Beispiel das Reiten durch sieben und zwanzig Länder in das dreißigste (S. 21. 22. 34.), das Wachsen nicht nach Tagen, sondern nach Stunden (S. 1. 70. 144.), die Beschreibung, wie das gefeite Ross zwischen Himmel und Erde zieht (S. 18. 20. 43.), der Zuruf an die Hütte: wende dich hinten zum Wald und vorne zu mir! (S. 21.). Ja zuweilen geht, wie in deutschen Märchen, die Formel in ständige Reime über (S. 47. 135.), deren Anführung mit den Worten des Originals in einer Anmerkung willkommen wäre, da sich in solchen Fällen die Übersetzung schwer zu helfen weiß. Auch besondere Vergleichungen, wie des Wachsens gleich dem aufschwellenden Teig (S. 144), des zu Bodenfallens gleich der Hafergarbe (S. 228.) und andere mehr gehören dem echtrussischen Märchenstil an. In einigen Erzählungen möchte man, nach ihrem ganzen Gang zu schließen, die Grundlage eines epischen Volksliedes, im Stil und Metrum der serbischen, vermuten, namentlich in Nr. 17. von Jeruslan und in Nr. 6. von Ilija und dem auf Eichen hausenden, seine Feinde todpfeifenden Räuber Nachtigall, welches zu den vorzüglichsten Stücken der Sammlung gezählt werden kann und auch wirklich seinem Inhalt nach in den altrussischen Heldenliedern, welche Hofrat von Busse verdeutscht hat (Leipzig bei Brockhaus 1819.), angetroffen wird.

Echtslawische Züge, die wenigstens in deutschen Märchen nicht begegnen, scheinen das Graben des Rosses aus dem Erdboden (S. 43.133.); die drei grünen Eichen (B. 25.133); das Kriechen durch das Ohr des Rosses (S. 47.135); das Halten auf den verbotenen königlichen Wiesen (S. 11. 74. 78. 85); die Personifikation des Kummers (S. 125). Auch der slawischen Sitte des Verbrüderns geschieht Erwähnung (S. 106. 219).

Die einzelnen Märchen selbst sind ungleichen Gehalts. Nr. 9. von der Ente mit dem Goldei, Nr. 1. von dem Wolf, Nr. 3. von den sieben Simeonen, erinnern ganz an deutsche Kindermärchen und gehören zu den bessern der Sammlung. Ebenso Nr. 13. von dem Narren Emeljan, der geradezu Pervonto im neapolitanischen Pentamerone, aber daher unentlehnt und sehr eigentümlich gefasst ist. Merkwürdig scheinen die Mutter der vier Winde in Nr. 8. und der Geist Prituitschkin in Nr. 12. Unbedeutend ist Nr. 16., und Nr. 15. hätte, als unmittelbar, aber sehr mager, aus dem bekannten Volksbuch von der schönen Magellona hervorgegangen, füglich wegbleiben können. Nr. 7. von Bowa, und Nr. 17. von Jeruslan, die ausgedehntesten und nicht eben die unterhaltendsten Erzählungen des Buchs, scheinen gleichwohl der Ausnahme wert, da sich Jeruslan, wie vorhin schon gesagt ist, aus einem Gedicht aufgelöst haben mag, und Bowa ohne Zweifel einer romanischen Quelle seinen Ursprung verdankt.

Nämlich Bowa ist nichts als der in dem Sagenkreise von Carl dem Großen bekannte Roman Buovo d'Antona (französisch Beuves de Hantone), der in mehreren Sprachen handschriftlich und gedruckt gefunden wird, und auch im vierten Buch der Reali di Francia gelesen werden kann. Wie und wann diese Fabel in die Hände eines russischen Märchenschreibers geraten ist, der sie noch durch wunderbare Zusätze veränderte, wird sich schwer ermitteln lassen, aber die Umarbeitung hat ihr besonderes Interesse. Bowa ist Buovo, Druschnewna Drusiana, Simbalda Sinibaldo, Polkan Pulicano, die Stadt Anton Antona der ursprünglichen Sage.

Aus dem gesagten geht hervor, dass der Herausgeber durch Übersetzung dieser russischen Märchen sich ein Verdienst um die Geschichte der deutschen Kindermärchen und der romantischen Poesie überhaupt erworben hat. Es ist von ihm vielleicht nicht das beste von dem, was er uns zu geben hatte, mitgeteilt worden; er beabsichtigt, andere Märchen an andern Orten oder in einer Fortsetzung der Sammlung nachzubringen; wir hätten gern gesehen, dass hier alles aus einmal bekannt gemacht worden wäre. Die Übertragung schließt sich einfach an das Original, wie es sich gebührte, ohne durch Zusätze oder Auslassungen zu verschönern. Der deutschen Schreibart hätte hin und wieder nachgeholfen werden sollen, denn es ist z. B. fehlerhaft, wenn der Übersetzer in den Imperativen schreibt: lasse, trage, gehe, komme, bleibe u. s. w., statt lass, trag, geh, komm, bleib.

                              Inhalt.

01. Märchen von Ljubim Zarewitsch, von der schönen Prinzessin, seiner Gemahlin, und vom geflügelten Wolfe
02. Märchen von der höchst wunderbaren und herrlichen selbstspielenden Harfe
03. Von den sieben Simeonen, den leiblichen Brüdern
04. Märchen vom Ritter Iwan, dem Bauersohn
05. Märchen vom goldenen Berge
06. Geschichte von dem berühmten und tapferen Ritter Ilija, dem Muromer, und dem Räuber Nachtigall
07. Das vollständige Märchen von dem berühmten und tapferen Helden Bowa Korolewitsch und der schönen Königstochter Druschnewna
08. Der sanfte Mann und die zänkische Fran
09. Märchen von der Ente mit goldenen Eiern
10. Märchen von Bulat, dem braven Burschen.
11. Märchen von dem berühmten und ausgezeichneten Prinzen Malandrach Ibrahimowitsch und der schönen Prinzessin Salikalla
12. Märchen vom Schuster und seinem Diener Prituitschkin.
13. Märchen von Emeljan, dem Narren
14. Das Urteil des Schemjaka.
15. Geschichte des hochgeborenen Fürsten Peter mit den goldenen Schlüsseln und der hochgeborenen Prinzessin Magilene
16. Sila Zarewitsch und Iwaschka mit dem weißen Hemde
17. Märchen von dem berühmten und starken Ritter Jeruslan Lasarewitsch, von seiner Tapferkeit, und den unvergleichlichen Schönheit der Prinzessin Anastasia Worcholomejewna
Anmerkungen

Die drei Bogatyri, ein Gemälde des bekannten russischen Malers Wasnezow

Die drei Bogatyri, ein Gemälde des bekannten russischen Malers Wasnezow

Ilja Muromez, ein Gemälde des bekannten russischen Malers Wasnezow

Ilja Muromez, ein Gemälde des bekannten russischen Malers Wasnezow

Russische Recken, aus die drei Bogatyri von Wasnezow, links Ilja Muromez und rechts Aljoscha Popowitsch

Russische Recken, aus die drei Bogatyri von Wasnezow, links Ilja Muromez und rechts Aljoscha Popowitsch

Russische Recken, aus die drei Bogatyri von Wasnezow, links Dobrynja Nikititsch, rechts Ilja Muromez

Russische Recken, aus die drei Bogatyri von Wasnezow, links Dobrynja Nikititsch, rechts Ilja Muromez