Zweite Fortsetzung

Unter den hiernach projektierten Maßnahmen zu pädagogischer Vorbereitung der Lehrer und Direktoren*) tritt daher in den Vordergrund, als eine in Russland ganz neue Einrichtung, als ein auch in das vorliegende Reglement erst bei dessen letzter Redaktion aufgenommenes neues Statut:

Die Gründung von Volksschullehrerseminarien nach dem Muster der in Deutschland und der Schweiz bestehenden.


*) Damit sie sich dem eigentlichen Lehrberuf nicht entfremden, und ihr Verhältnis zu den Lehrern mehr Kollegialität gewinne, sollen sowohl die Gymnasialdirektoren als die Inspektoren der Progymnasien zum Unterricht in einem der Lehrgegenstände ihrer Anstalt verpflichtet sein.

Es werden für dieselben vorerst noch die allerengsten Dimensionen angenommen. Vor allen Dingen kommt es jetzt in Russland darauf an, dass die Kenntnis des Lesens und Schreibens unter den niederen Volksklassen allgemein verbreitet werde. Deshalb muss wenigstens noch auf zehn Jahre hinaus die Hauptaufgabe dieser Anstalten darin bestehen, dass sie Volkslehrer zu einem methodischen Unterricht im Lesen und Schreiben vorbereiten. In dem Maße als die Volksschulen sich zu einem höheren Niveau erheben, wird auch der Lehrkursus in den Lehrerseminarien sich erweitern können.
Der Entwurf verlangt Geschlossenheit dieser Institute, obgleich sich das Komitee dagegen verwahrt, dass es mit dem System geschlossener Anstalten einverstanden sei. Prinziplich muss es sogar dieses System verwerfen, auf dessen außerordentliche Nachteile es mit den bedeutsamen Worten hinweist:

„Das Komitee hegt die tiefe Überzeugung, dass geschlossene Institute, welche die Kinder aus dem Familienkreise herausreißen, die bei uns herrschende, in ihren Folgen so verderbliche Sorglosigkeit der Eltern in Betreff der Erziehung ihrer Kinder nähren, eine individuelle Entwicklung der Zöglinge hindern, und mit ihrem disziplinaren Erziehungscharakter die Kinder daran gewöhnen, in allen Dingen die Form über die Idee zu setzen — dass solche Institute sich überlebt haben, und dass überall offene Lehranstalten an ihre Stelle treten müssen."

Aus diesem Grunde wird in dem Entwurf auch die Einrichtung von Internaten bei den Gymnasien missbilligt, ihre sofortige Abschaffung jedoch gleichwohl für untunlich erklärt, weil man vielen Eltern, die von Städten, wo sich Gymnasien befinden, entfernt leben, dadurch die Möglichkeit raubte, ihre Kinder mit mäßigen Kosten erziehen zu lassen, was die Unbemittelten, deren die Mehrzahl ist, sehr empfindlich treffen würde. Nur sollen bei diesen Internaten, deren gegenwärtiges Missverhältnis am Tage liegt, durchgreifende Verbesserungen vorgenommen, und namentlich auch der ausschließend disziplinare Charakter beseitigt werden.

Anders verhalte es sich noch mit der Geschlossenheit der Schullehrerseminare. In diese sollen junge Leute nicht unter sechzehn Jahren eintreten. Einesteils also haben sie die häusliche Erziehung schon genossen, andernteils aber empfange sie auch im Seminar ein gewisses Familienleben. Sie verkehren nicht nur mit den Lehrern, sondern auch mit deren im Seminar wohnenden Familien. Die Anwesenheit der Frauen gebe dem Institut einen häuslichen Anstrich und übe einen wohltätigen Einfluss auf die Sitten der Zöglinge, indem er ihren Charakter mildere, ihr Anstandsgefühl wecke. Träten somit die Nachteile geschlossener Anstalten hier entschieden zurück, so hätte der Aufenthalt im Seminar doch auch unverkennbar Vorteile. Erstens fördere er die praktischen Übungen der Zöglinge und rege sie zu pädagogischen Diskussionen an, wobei die gegenseitige Schätzung sowie der gegenseitige Wetteifer ihre moralische Kraft befestige. Zweitens gewöhnen sich hier die jungen Leute, welche die bescheidene Laufbahn eines Dorfschullehrers erwählt, an ein pünktliches, tätiges und von den Zerstreuungen des Weltgewühls entferntes Leben. Drittens mache der unmittelbare und ununterbrochene Verkehr mit ihren Lehrern den geistigen und sittlichen Einfluss derselben auf sie wirksamer, als dies der Fall wäre, wenn sie außerhalb des Institutes wohnten.

Allein soll von den Anregungen im Seminar eine frische und freudige Hingebung an den künftigen Beruf zu erwarten sein, so müssen die Zöglinge wirklich eine „bescheidene Laufbahn" in Aussicht haben. Es wäre eine schlechte Ironie, wollte man die Laufbahn russischer Volksschullehrer „bescheiden" nennen. Das ist ein trostloser Lebensweg, voll Elend und Entbehrung. Man mache sich eine Vorstellung davon nach den nackten Tatsachen, die der Entwurf erwähnt:

„Der Jahresgehalt eines Elementarschullehrers beträgt, mit wenigen Ausnahmen, in den meisten Städten 30 bis 100 Rubel bei freier Wohnung. Dafür nun, dass ihm eine Existenz geboten wird, die ihn kaum vor der bittersten Armut schützt, muss der Lehrer, wenn er von steuerpflichtigem (niederem) Stande ist, zwölf Jahre dienen, bis er die vierzehnte Rangklasse (die unterste) erhält, und für diese Standeserhöhung noch weitere zehn Jahre — das macht zwei und zwanzig Jahre eines bindenden, durchaus abhängigen Dienstes, der ihn aller Freiheit über sich selbst zu disponieren beraubt. Seine verlängerte Dienstzeit ist eine noch trostlosere. Wenn er nach Ablauf von 25 Jahren in den Ruhestand tritt, so hat er das Recht auf eine Pension, die nicht den Betrag seines früheren Jahrgehaltes, sondern je nach der Höhe desselben die Summe von 28 Rub. 69 Kop. oder 90 Rub. jährlich erreicht. Da es unmöglich ist, von einer solchen Pension zu existieren, so sieht sich der arme Lehrer um der freien Wohnung willen gezwungen, auch nach fünf und zwanzig Jahren den Dienst fortzusetzen. Sein Gehalt bleibt dann immer derselbe. Denn im Dienste erhält er keine Pension, und ist genau so gestellt, wie die anderen Lehrer. Sonach nimmt bis an seinen Tod der Pflichtdienst für ihn kein Ende. Was Wunder, wenn Armut und eine so äußerst drückende Dienstweise selbst den befähigtesten Lehrern die Möglichkeit rauben, mit ihrer Mühe wirklichen Nutzen zu leisten, und aus ihnen Automaten machen, von denen alle unsere Elementarschulen überfüllt sind!"

Dieser Jammerzustand untergräbt zugleich die ganze Volksbildung. Ihm abzuhelfen ist daher nicht bloß eine Sache der Gerechtigkeit, sondern dringendes Gebot im Interesse des gesamten Volkswohls. Der Entwurf richtet die entschiedensten Maßnahmen darauf, die Stellung der Lehrer überhaupt und insbesondere der Volksschullehrer in gesellschaftlicher wie in materieller Hinsicht zu verbessern. Der Gehalt eines Volksschullehrers in den Städten wird auf ein Minimum von 250 Rubel, in den Dörfern auf ein Minimum von 200 Rubel (außer freier Wohnung, Heizung und Licht) festgesetzt. Statt des Scheinvorteils einer Standeserhöhung (durch die vierzehnte Rangklasse), die ihm nur eine Last ist und weder seine noch seiner Kinder Lage bessert, soll er wirkliche Vorteile und Rechte erhalten, von allen Abgaben befreit und nach langem Dienst zum Ehrenbürger ernannt werden. Seine Pension hat mindestens zwei Drittel des Gehaltes zu betragen und er bezieht sie neben letzterem nach fünf und zwanzig Jahren, auch wenn er weiter im Dienste bleibt. Auszeichnungen durch Orden und Medaillen sollen ihm in gleicher Weise wie Personen von Rang zu Teil werden.

Wenn nun aber für eine gehörige Heranbildung und allen Lebenserfordernissen entsprechende Behandlung der Lehrkräfte gesorgt ist, so müssen diese auch Spielraum zu selbsttätiger Entfaltung haben. Damit berührt der Entwurf den starren Formalismus des bis jetzt herrschenden Systems, bei welchem die Tätigkeit der Lehranstalten von allerhand höheren Ortes erteilten Instruktionen und Programmen dermaßen eingeengt sei, dass die Lehrer und Erzieher sich keinen Augenblick frei rühren können.

„Durch Tabellen ist im voraus nicht bloß die Zahl der Lektionen für jeden Gegenstand, sondern auch ihre Verteilung nach den Klassen bestimmt. Noch mehr: in besonderen Programmen ist vorgeschrieben, wie viel von jedem Gegenstande in jeder Klasse durchgegangen werden, und nach welchem Lehrbuch dies geschehen muss. Der Lehrer hat nichts weiter zu tun, als in jeder Klasse seine bestimmte Zahl Stunden zu geben, und ohne sich viel zu bedenken, ein fremdes Programm um jeden Preis auszuführen, mag es nun seinen Überzeugungen entgegen sein und die Ausbildung der Schüler augenscheinlich beeinträchtigen."

Mit solcher Ordnung, heißt es weiter, bringe man den Lehrer bald dahin, dass er maschinenmäßig alles Vorgeschriebene fertig mache, ohne über seinen Gegenstand selbst nachgedacht oder gar in seinen Schülern Nachdenken darüber geweckt zu haben. Aber —

„Stellen wir uns einen Lehrer vor — jung, energisch, feurig, voll Teilnahme für die Lernenden. Er findet nach den Fähigkeiten seiner Schüler und nach anderen pädagogischen Kombinationen, dass es für seinen Gegenstand notwendig sei, die Zahl der Lektionen in der einen Klasse zu verringern, in der andern zu vermehren. Oder statt des ihm aufgedrungenen Programms entwirft er ein neues. Da wird er bedeutet, dass er sich umsonst die Mühe gegeben; seine Verteilung, sein Programm sei unzulässig ohne Genehmigung der höheren Obrigkeit; er müsse sich streng an das vorgeschriebene Programm und an das vom Ministerium angewiesene Lehrbuch halten."

Es wird nun gezeigt, wie der zur Zeit übrigens nur an den Gymnasien bestehende Schulrat nichts dabei tun könne und nicht einmal ein Recht habe, hier einzugreifen. Seine Beratungen, die sich auf Fleiß und Benehmen der Schüler, auf Lehrmethoden und zum Teil auf ökonomische Anordnungen erstrecken, wären rein formell, und das folge ganz natürlich aus dem geringen Bildungsgrad der Mitglieder (der Lehrer), dann aber aus dem eigentümlichen Abhängigkeitsverhältnis derselben von dem Vorsitzenden (dem Direktor). Letzterer sei es, der ihre Gratifikationen zu befürworten habe, wobei die Wahl oft ganz in sein eigenes Ermessen gestellt ist, der ihre Beurlaubungen entscheide u. s. w. Hierdurch, und da er für seine Person keine Lehrverpflichtung habe, fühle er sich lediglich als Chef, außer aller pädagogischen Beziehung, mache die Freiheit des Votums bei den Lehrern illusorisch und nehme dem Schulrat alle kollegiale Bedeutung, indem seine persönliche Ansicht für das Verfahren der Mitglieder maßgebend würde.

Den einzigen Grund, aus welchem diese Einengung der Lehrer sich vielleicht erklären lasse, findet der Entwurf in dem geringen Vertrauen, das die Regierung in dieselben setzen konnte, weshalb sie geglaubt habe, für alle Fälle strenge Programme und Instruktionen feststellen zu müssen. Allein sobald man es mit gehörig vorbereiteten und gebildeten Erziehern zu tun hat, entbehrt dieses offenbar verderbliche System jedes Scheines von Begründung.

Es soll daher statt dessen ein anderes eingeführt werden, das der pädagogischen Tätigkeit jedes Einzelnen volle Freiheit gewährt, ihn aber vor dem ganzen Rat, der aus seinen Kollegen zu bestehen hat, verantwortlich macht. Das bedingt eine durchaus veränderte Organisation des Schulrates, der nur auf der Grundlage selbständigen, unabhängigen Handelns aller Mitglieder seine wahre Bedeutung erlangen kann.

Zu diesem Zweck erhalten alle Mitglieder des Schulrats (sämtliche Lehrer und Erzieher) gleiches Stimmrecht; die Macht des Vorsitzenden ist dadurch zu beschränken, dass ihm, unbeschadet seiner Rechte als Chef der Anstalt, der Einfluss auf das Schicksal der Lehrer genommen wird. Die Wahl der vom Ministerium genehmigten Lehrbücher, die Verteilung der Lektionen und Gegenstände in den verschiedenen Klassen, die Zusammenstellung der betreffenden Programme ist dem Schulrat anheimgegeben.
Der Entwurf erörtert ausführlich die Wichtigkeit dieser seiner Anordnungen und beseitigt die aus der Aufhebung administrativer Zentralisation entstehende Gefahr, dass den Lehranstalten der verschiedenen Gouvernements die nötige Einheit fehlen könnte, durch Gründung eines besonderen Gouvernementsschulrates in jedem Gouvernement. Ein solcher hat die Bestimmung, nicht allein prinzipielle Einheit zwischen den verschiedenen Anstalten herzustellen, sondern auch gesunde pädagogische Ideen bei Allen zu entwickeln, die an der Erziehung der Jugend sich selbst beteiligen oder nur ein lebhaftes Interesse dafür haben. Mitglieder des Gouvernementsschulrates können daher sowohl jene als diese ohne Ausnahme sein. Der Vorteil dieser Einrichtung wird treffend auseinandergesetzt:

„Dass ein solcher Rat die Einheit der Lehrprinzipien besser aufrecht erhalten kann, als ein Direktor allein, unterliegt nicht dem mindesten Zweifel. Ein Einzelner kann bei aller Klugheit leichter irren und sich vergreifen, als ein ganzes aus Fachmännern zusammengesetztes Kollegium. Zudem ist die Gelegenheit, bei der Meinungsäußerung jedes Mitgliedes in vollkommener Unabhängigkeit Beobachtungen und Erfahrungen auszutauschen, eine durch nichts zu ersetzende Schule, welche das Niveau unserer jetzt so dürftigen und ungenügenden pädagogischen Bildung rasch heben wird. Ganz besonders die Lehrer und Erzieher bedürfen eines solchen lebendigen Austausches, der ungleich höher zu stellen ist, als das Lesen pädagogischer Abhandlungen im Arbeitszimmer, weil dabei jede Frage von verschiedenen Seiten beleuchtet wird und jedes Missverständnis; sich sofort aufklärt."

Von dieser Überzeugung ausgehend, will der Entwurf, dass solchen Schulvorstehern, die in keiner Gouvernementsstadt leben, die Mittel geboten werden (Urlaub, Reisekosten, Diäten), wenigstens einmal des Jahres an den Sitzungen des Gouvernementsschulrats teilzunehmen. Das Komitee beruft sich auf die „herrlichen Früchte" der deutschen Lehrerversammlungen. Wir sollten uns wundern, wenn dieses Lob von Seiten einer hohen russischen Behörde den servilen Zeitungsreferenten, die mitten in Deutschland jene Lehrertage verdächtigt und verunglimpft haben, nicht ein wenig die Schamröte ins Gesicht treibt. —

Dass auch Laien als Mitglieder beitreten können, hält der Entwurf für sehr förderlich zur Verbreitung richtiger pädagogischer Ansichten im Publikum. Hätten ja doch die meisten Eltern ganz verkehrte Ansichten von Erziehung, und wer wisse nicht, wie schädlich das auf die Anstalten zurückwirke. Wie oft kämen auf Gymnasien und andere Schulen von Haus aus so verdorbene Knaben, dass es keinerlei Anstrengungen mehr glückt, sie auf den rechten Weg zu bringen!

Der Entwurf beschließt seine Thesen mit der Hinweisung aus die Notwendigkeit: die Mittel zur Verbreitung der Bildung in Russland zu erleichtern.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Revue. Band 01