Die russischen Zeitblätter



      Wenn diesen Langeweile treibt.
      Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
      Und, was das Allerschlimmste bleibt,
      Gar Mancher kommt vom Lesen der Journale.

                                          Goethe
                                                I.


Für das Verhältnis des „höheren" Publikums zur Schaubühne gelten jene Worte des Goethe'schen Theaterdirektors noch aller Orten. In Russland ließen sie sich vor wenigen Jahren sogar auf das Verhältnis der „gebildeten" Gesellschaft zur Weltbühne vollständig anwenden. Der vornehme Müßiggang war es, der sich dort allein mit den Fragen des öffentlichen Lebens beschäftigte; und als das Allerschlimmste, womit er sich dazu vorbereiten konnte, zeigte sich auch dort die Journalleserei. Nur hatten gerade die russischen Journale wenig Anteil daran, weil sie so gut wie gar keinen Anteil am öffentlichen Leben hatten. In Beziehung zur Politik waren sie defekte Intelligenzblätter, denen man selbst um den Preis des wohlfeilsten Wortwitzes keine Prätension auf politische Intelligenz vorwerfen konnte. Sie bestanden im Grunde aus weiter nichts als amtlichen Bekanntmachungen, gleich viel in welcher Form von Privatnachrichten dieselben erschienen. Auch die Zeitschriften, die der literarischen Unterhaltung dienten, dickleibige periodische Sammelwerke, bewegten sich so zu sagen nur in geschlossenen Räumen, wie verschieden der Wert, der Geschmack und die Bedeutung derselben sein mochte. Man fand sich in ihnen bald in einer ordinären Leihbibliothek, bald in dem reichhaltigen Büchersaal eines Gelehrten, bald auf einem glänzenden Rout, auf welchem alle möglichen Schriftstellernotabilitäten sich sehen ließen, bald in einem Demimonde-Salon, bald sogar in einem Wirtshaus; aber immer zwischen vier Wänden, niemals im Freien, niemals im eigentlichen Weltverkehr.

Den konnten also nur die auswärtigen Zeitungen eröffnen, soweit die Zensurschwärze sie nicht aus das Maß der russischen reduzierte. Aber dies Kennenlernen der Welt aus fremden Zeitungen war vom Übel. Darin gefiel sich eben jener Müßiggang, der die Arbeit zu Hause liegen lässt und Vergnügungsreisen macht. Diese tatlose Wissbegier entwertete sich zur Neugierde; diese müßige Schaulust lief allerdings nur auf jenes Interesse hinaus, zu welchem Langeweile oder ein übertischtes Mahl disponiert. Man hörte auf die Zeitungsstimmen an allen Ecken und Enden, und trug sie wirr durcheinander in sich fort, um damit sein Geräusch am Teetisch zu machen.

Wer vor einigen Jahren Zeuge solcher Teetischreden war, hätte geglaubt, dass nur der Donner des Weltgerichtes diese plaudernde Gesellschaft unterbrechen könnte. Nenne man es, wie man will — der Donner blieb nicht aus. Der Donner des Krimkrieges hat in Russland nicht bloß Teetischplaudereien unterbrochen; und dass es nach jeder Seite hin die heilsamste Unterbrechung war, daran zweifelt jetzt schon kein verständiger Patriot mehr. Die Tausende, welche den Heldentod aus den taurischen Schlachtfeldern starben, haben Russland zum Leben geweckt, zu jenem Leben, das ihm fehlte, und ohne das jeder Staat erstarren und zerfallen muss: zum öffentlichen Leben.

An die Türen des Adels, an die Türen der Bürokraten, der Geistlichen, der Lehrer, an die Türen der Reichen wie der Armen pocht der Geist der Zeit, der keinen Stillstand und keinen Müßiggang duldet.

Die Hausinteressen treten vor der öffentlichen Bewegung zurück. Wer einen Wirkungskreis sucht, wer beachtet, wer gehört sein will, wer, seinen Einfluss zu behaupten strebt, wer seinen Vorteil wahrnimmt, wer das allgemeine Wohl zu fördern bemüht ist — jeder muss hinaus in die Öffentlichkeit. Wen seine Willkür sorglos gemacht hat, der fährt jetzt auf vor der öffentlichen Stimme; sie nennt ihn laut beim Namen; er kann sich der öffentlichen Meinung nicht entziehen, dieser unerbittlichen Kontrolle, die in Russland etwas ganz Neues, etwas Unerhörtes ist, dem man sich aber fügen muss, und woran man sich schon gewöhnt.
Öffentliche Bewegung, öffentliche Meinung — wo sollten wir den natürlichsten Ausdruck derselben finden, als in der Presse? In dieser finden wir ihn auch trotz aller noch bestehenden Zensurschranken.

Mit den russischen Zeitungen, so viel sie zu wünschen übrig lassen, und so viel man aus ihnen wegwünschen muss, ist die außerordentliche Wandlung vorgegangen, dass sie Organe des öffentlichen Lebens geworden, dass sie wirklich ihre Zeit spiegeln und alle großen Interessen, welche diese bewegen, vor uns auftun.

Sind sie darum besser geworden?

Die Frage erscheint sonderbar; allein man darf so fragen, weil die Annahme nahe liegt, dass bei jener Wandlung die russischen Journale fürs Erste sich verschlechtert haben können.

Auch wollen wir gewisse Übelstände, die sich daraus ergeben mussten, uns gar nicht verhehlen, vielmehr sie recht deutlich zu machen suchen.

Solche Übelstände knüpfen sich zunächst an jeden großen Umschwung gesellschaftlicher Verhältnisse. Da ruft jeder Fortschritt bedenkliche Erscheinungen hervor, wie jede organische Entwicklung Krankheiten mit sich bringt. Namentlich der Übergang von Gebundenheit zu einer wenn auch nur relativen Freiheit zeigt sich sehr oft in ratlosem oder falschem Gebrauch dieser Freiheit. Der Zwang erzieht zur Opposition, der Druck zum Kampfe, aber weder zu moralischer Beherrschung noch zu geistiger Reife.

Die Russen nehmen es übel, wenn man ihrem nationalen Stolz mit dem Vorwurf der Unreife entgegentritt, wiewohl sie im Zug nationaler Selbstpersiflage sich weit Ärgeres vorwerfen — worauf wir gleich zurückkommen. Als in Petersburg bei öffentlicher Gelegenheit ein sonst nicht gerade unbesonnener Mann so unvorsichtig war, sich zu dem Ausruf hinreißen zu lassen: „Wir sind noch nicht reif", fand er einen Wiederhall von Spott und Hohn, der jenem Dictum, im Verein mit seinem Namen, eine traurige sprichwörtliche Berühmtheit verschaffte. Vielleicht war es in Rücksicht auf die Zeit, den Ort, die Umstände, eine beleidigende Taktlosigkeit, dieses Bekenntnis; hinauszuschleudern; aber in der Tatsache an sich liegt nichts Beleidigendes, weil Niemand sich einer historischen Notwendigkeit zu schämen hat.

Auch für die russische Journalistik sind die Konsequenzen dieser historischen Notwendigkeit unvermeidlich. Kaum ist ihr eine mäßige Druckfreiheit gegeben, so hat sie es schon mit einer maßlosen Schreibfreiheit zu tun. Es ist begreiflich und wünschenswert, dass man jene auf alle Weise zu benutzen sucht; aber man will nicht nur über Alles, sondern es wollen auch Alle schreiben. Überraschend sind dabei die vielfältigen, und glänzenden Zeugnisse von wahrem Beruf. Wie Manchem, der früher geschwiegen hat, kann man nicht genug danken, dass er endlich schreiben will! Aber schreiben will auch, wer früher nur geplaudert, schreiben, wer sonst nur geschimpft hat; schreiben, wer früher nur Bonmots herumgetragen, nur verbotene Verse rezitierte; schreiben, wer kaum zu lernen angefangen hat. Den erfreulichen Fortschritt, dass die Pflege der Literatur einer bloßen Standesvornehmheit entrissen wird, welche dieselbe teils fachgemäß, teils dilettantisch trieb, begleitet der bedauerliche Irrtum, dass auch die Bildung kein literarisches Vorrecht haben, dass man auch der Aristokratie des Geistes opponieren soll. Wird diesem Irrtum Vorschub geleistet, so braucht man zum Schreiben allerdings nur Papier, Federn und eine gewisse Courage vor sich selbst.

An letzterer fehlt es der jüngeren Generation nicht; und leider kann man sie nicht einmal mit dem Lessing'schen Epigramm dämpfen: „Wer nennt geschrieben das, was ungelesen bleibt?" Denn in Russland wird alles gelesen — was in Journalen erscheint.

Die lang unterdrückte Teilnahme an Zeitfragen bricht jetzt in um so lebhafterer Aufmerksamkeit auf alles hervor, was sich nur einigermaßen als Organ von Zeitfragen gibt; und das tut mehr oder minder jedes Journal. Auf diese Aufmerksamkeit spekulierend drängen sich in Russland die Zeitblätter; ihre Zahl ist jetzt schon größer, als die der entsprechenden Abonnentenkreise im Lande sein kann. Aber viel oder wenig Abonnenten — Leser findet jedes Blatt. Und so erscheinen immer neue. Nur selten beschränken sie sich auf eine Spezialität; meist umfassen sie alles. Keines ist so schlecht, dass es nicht auch den allgemeinen Fortschritt — keins so gut, dass es nicht auch seinesteils das Durcheinander der Anschauungen, den Rausch der Ideen erkennen ließe.

Extreme Gegensätze und Widersprüche begegnen sich hier nach allen Seiten: in den Richtungen, den Prinzipien, dem Inhalt und der Form.

Bald macht sich eine nationale Selbstüberschätzung geltend, die weit entfernt ist von echter Vaterlandsliebe — denn von aller Liebe ist keine so wenig verblendet, als die zum Vaterlande — bald über bietet sich eine frivole Selbstverleugnung, die den Patrioten empören, den Fremden anwidern muss. Es ist im Charakter des Russen ein vortrefflicher Zug, der ihn zur Selbsterkenntnis drängt; seine resignierende Demut wie seine Klugheit, sein guter Wille wie sein Mutterwitz haben gleichen Teil daran. Nicht leicht dürfte eine andere Nation mit solcher Aufrichtigkeit ihre Fehler bekennen; nicht leicht hat eine andere mit solcher Schonungslosigkeit ihre Gebrechen dargestellt. Aber nicht immer ging das von jenem Büßersinn aus, der sich mit der Geißelung am eigenen Fleisch zu läutern sucht; oft mischte sich darein jener Mangel an Pietät, jener freche (Zynismus, der so gern Rohheit für Kraft ausgibt und schmutzige Nacktheit für ungeschminkte Wahrheit. Es war die gleißnerische Korruption, die mit ihrer Selbstverdammung kokettiert. Ganz dieselbe Koketterie der Selbstverwerfung, ganz derselbe Zynismus der Selbstverachtung, ganz derselbe Mangel an nationaler Andacht und Pietät tritt oft genug in russischen Journalen mit dem Schein unparteiischer Kritik und den Gebärden wissenschaftlicher Polemik auf.

Doch hüten wir uns auch vor Ansprüchen, die nur in idealen Zuständen sich erfüllen lassen: wenn mit der Freiheit die Zucht, mit dem Urteil die Bildung, mit der Arbeit Fleiß und Ausdauer, mit dem Streben Weihe und Würde, mit der öffentlichen Meinung das strengste öffentliche Gewissen und mit den Zwecken des Gesamtwohls die höchste Schonung der Individualität Hand in Hand geht.

Wo, selbst auf der leuchtenden Höhe der Zivilisation, wäre man ganz dahin gelangt? So weit dies aber unter menschlichen Trieben und menschlichen Institutionen erreichbar ist, bieten die Russen in ihrem Naturell und ihrer Begabung die sicherste Gewähr, dass sie es erreichen werden.

Das Zeitungswesen ist überall, und zwar nicht bloß in Übergangsepochen, voller Ungleichheiten, voll greller Kontraste und verletzender Dissonanzen. Es befindet sich eben fortwährend und zu jeder Epoche in jähen Übergängen, weil es nicht allein die öffentliche Meinung trägt, sondern der Ausdruck des am meisten Wechselnden ist: der launenhaften Tagesstimmung. Es gibt dem Augenblicke sein Recht, und kann daher Forderungen von minder vergänglicher Natur — geschweige denn von ewiger Gültigkeit — nicht gerecht werden.

Bei den scharfen Strichen, mit welchen wir die Schattenseiten der russischen Journale zeichneten — sollte sich da unseren Lesern nicht eine frappante Ähnlichkeit auch mit vielen deutschen Zeitungen aufgedrängt haben?

Wenn wir übrigens bei jenen darauf hingewiesen, was in den besten noch schlecht ist, so wollen wir auch nicht verschweigen, was, mit Ausnahme sehr weniger, selbst in den schlechten gut ist. Das nämlich, womit Goethe den guten Menschen charakterisiert: dass er in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges doch bewusst bleibt. Dieser dunkle Drang ist in der russischen Tagespresse fast nirgends zu verkennen.

Man muss die Unreife zugeben, aber auch die Jugend. Und wo Jugend ist, wie sie immer sei, da ist auch Lebensfülle, da ist Hoffnung, da ist Zukunft.

Ferner in jenen Übelständen selbst entdecken wir die untrüglichsten Kennzeichen eines erweiterten und erhöhten Lebens, welches die russische Tagesliteratur durchdringt. Früher versetzte uns diese, wie wir vergleichsweise sagten, in geschlossene Räume; jetzt bewegt sie sich gleichsam auf der Straße, es ist, als zögen wir mit ihr durch ganze Städte. Nun wohl, eine ganze Stadt umfasst Schmutz und Elend, Armut und Verbrechen, die einzelnen Häusern fern bleiben können; aber welches einzelne Gebäude, und sei es das großartigste Schloss, kann an Leben und Bedeutung mit einer ganzen Stadt wetteifern!

Mehr, als dies sonst irgendwo der Fall sein möchte, lassen sich in Russland die Journale auch darin mit Städten vergleichen, dass sie die Haupt- und Sammelpunkte des geistigen Lebens bilden. Anderswo ist die Literatur im Allgemeinen der Schauplatz geistiger Tätigkeit, und die Journale sind nur ein ephemerer Teil der Literatur. In Russland umgekehrt ist jetzt die ganze Literatur nur ein Teil der Journale. Die meisten neuen Bücher, deren Umfang nicht zu groß, und deren Erfolg nicht durch ganz besondere Umstände voraus gesichert ist, werden erst in Journalen abgelagert, ehe sie für sich allein in den Buchhandel kommen.

Auf unseren Wanderungen durch die Gebiete des geistigen Lebens in Russland, das zu überschauen unsere Aufgabe ist, werden also die dortigen Zeitblätter unsere wesentlichsten Anhalts- und Aufenthaltspunkte sein müssen. Damit der Leser im voraus eine topographische Kenntnis derselben gewinne, wollen wir vor ihm gewissermaßen eine Karte der russischen Journale ausbreiten, auf welcher diese wie Städte auf einer Landkarte verzeichnet sind, und zwar nach den Hauptstädten des Landes geordnet. Die Gruppierung nach Fächern ist dann leicht von Jedem vorzunehmen. Wir entwerfen dieses Verzeichnis (mit Einschluss des vorigen Jahres) so vollständig als wir können, und als es uns zur Übersicht erforderlich scheint. Die illustrierenden Notizen, die wir damit verbinden, sollen nicht mehr darstellen, als etwa beigegebene Stadtpläne. Ein Stadtplan gibt die Linien, doch weder das äußere noch das innere Bild der Stadt. Eben so wenig kann es in unserer Absicht liegen, eine zusammenfassende oder eingehende Beurteilung der einzelnen Journale zu geben. Dergleichen ist bei dieser Vielartigkeit und Verschiedenheit des Inhaltes so schwer als misslich. Die Intentionen der einzelnen wollen wir stellenweise, am liebsten nach ihren eigenen Programmen und Prinzip-Darlegungen mitteilen, auch hier und da hervorspringende Eigenschaften und Wirkungen nicht unberührt lassen*).

*) Um eine Bibliographie der russischen Journalistik hat sich besonders der Bibliothekar an der kaiserlichen Bibliothek zu St. Petersburg, Herr W. Meshow, sehr verdient gemacht. Seit dem Jahre 1856 gab er wiederholt Verzeichnisse, der periodischen Literatur Russlands heraus. Seinen letzten Journalkatalog für 1860 und 1861 haben wir in Betreff historischer Notizen und auch sonst in bibliographischen Angaben bei unserer Zusammenstellung vielfach benutzt.

                                    Petersburg.

Von den hier erscheinenden Tageblättern in russischer Sprache sind als vorzugsweise politische Zeitungen zu nennen:

St. Petersburger Nachrichten (Sanktpeterburgskija Wädomosti).

Die Gründung dieses Blattes schreibt sich noch von Peter dem Großen her. Ein sicherer Nachweis über das erste Erscheinen führt nicht weiter als aus das Jahr 1711 zurück. Das Eigentumsrecht wurde 1727 der Akademie der Wissenschaften übertragen, die dem Blatte gelehrte Spezialen beigab. Seit 1831 erscheint es täglich; seit 1836 redigiert von A. Otschkin, dem in den letzten Jahren als Herausgeber A. Krajewsky, der Redakteur der „Vaterländischen Memoiren" beigetreten ist. Stehende Rubriken dieser Zeitung sind: Eine allgemeine politische Übersicht; telegraphische Depeschen; Nachrichten aus Russland; auswärtige Korrespondenz; Vermischtes. Außerdem finden sowohl im Hauptteil als im Feuilleton größere und kleinere Artikel Platz, ebenso verschieden in der Form wie dem Inhalte nach: teils kritisch, teils bloß referierend, teils rein belletristisch, über Tagesereignisse, Literatur, Kunst, Gesellschaft, Volksbildung, über Zustände der Heimst wie des Auslandes. Dem Blatte wird ohne Grund ein offizieller Charakter zugeschrieben. In jedem Falle hat man seine unparteiische Haltung anzuerkennen, die es schon darin bewährt, dass es Männer der freisinnigsten Richtung zu seinen Mitarbeitern zählt, und in den wesentlichsten Fragen einer Diskussion aus verschiedenen Gesichtspunkten Raum gibt.
Jahrespreis: 16 Rubel — mit Ausschluss der Beilagen, welche die Bekanntmachungen der Behörden enthalten. Diese Beilagen kosten jährlich 2 Rubel.

Der russische Invalide. (Russki Inwalid)

Der Ursprung dieser Zeitschrift fällt mit der Stiftung eines Invalidenfonds (im Jahre 1813) zusammen, welchem der Reinertrag derselben bestimmt wurde.

Aus einem kleinen Wochenblättchen, das wenig mehr als den Wiederabdruck bereits veröffentlichter Militärrelationen (anfänglich zugleich in russischer und deutscher Sprache) brachte, entwickelte sich der „Russ. Invalide" im Laufe der Jahre zu einer großen politischen Zeitung, als deren Redakteur von 1855 bis vorigen Sommer der Professor der Militärschule, Peter Lebedew, fungierte. Mit dessen Rücktritt änderte sich überhaupt die Verwaltung des Blattes. Die Regierung überließ dasselbe Privathänden gegen einen bestimmten Pacht zu Gunsten des Invalidenfonds. Seitdem hat die Zeitung nur eine einzige offizielle Beziehung: nämlich in den das Militärwesen betreffenden Artikeln. In diesen ist sie Organ des Kriegsministeriums. In allem Andern ist die Redaktion (seit September vorigen Jahres vom Obersten N. Pissarewsky übernommen) durchaus selbständig.

Die neue Einrichtung des Blattes hat folgende Hauptrubriken: Politische Nachrichten und Telegramme aus dem In- und Auslande — Militärchronik — Wissenschaft und Kunst — Juridische Chronik — Handel und Gewerbe — Aktiengesellschaften — Kritik und Bibliographie — Tagesfeuilleton.

In Betreff ihres Standpunktes erklärte die Redaktion, sie wolle ein klares Spiegelbild der Zeit geben und die Facta möglichst genau darlegen. Dies halte sie für wichtiger als alle weitschweifigen Erörterungen und Belehrungen. Die Richtung des Blattes soll eine entschieden reale sein.
Jahrespreis: 16 Rubel.

Die Nordische Biene (Säwernaja Ptschelá).

Seit 1825 herausgegeben von Gretsch und Bulgarin. Auf die Vergangenheit dieses Blattes könnten wir nicht ohne einen traurigen literarhistorischen Exkurs zurückweisen, den wir uns an dieser Stelle ersparen müssen und gern ersparen. Den verdienstvollen Gretsch nennen wir mit Bedauern in jener Gemeinschaft; Bulgarin aber ist in Russland längst gerichtet, und die Stimmen edler Indignation gegen sein Treiben sind vielfältig auch nach Deutschland gedrungen. Er ist tot, und wenn man auch keineswegs die Regel „de mortuis nil nisi bene“ auf ihn anwenden darf, so ist doch jede Spur einer Nachwirkung seines Geistes, auf literarischem wie auf politischem Gebiete, von der jetzt in Russland herrschenden Stimmung so gründlich weggetilgt, dass keine sittliche Opposition mehr zu irgend einem Verweilen bei ihm drängt.

Mit dem Jahre 1860 hat die „Nordische Biene" eine vollständige Wiedergeburt erlebt und gehört gegenwärtig, unter der Redaktion des Herrn Paul Ussow, mit Recht zu den geachtetsten Blättern. „Die Zeiterfordernisse unserer Gesellschaft", sagt der Redakteur, „sollen in der Nordischen Biene einen Wiederhall finden." Dass er dieses Versprechen zu halten weiß, hat er seit zwei Jahren zur Genüge dargetan.

Sein Programm umfasst: Politische Neuigkeiten in telegraphischen Depeschen und Privatkorrespondenzen, nebst einer Übersicht sowohl als Beurteilung der Tagesereignisse. — Kritik der Journale wie der neuen Bücher. — Erzählungen, Novellen, Reisebeschreibungen, Theater-, Musik-, Modenberichte im Feuilleton. — Handels- und Aktienunternehmungen.
Jahrespreis: 16 Rubel.

Mit der Nordischen Biene verbunden ist ein Handelsblatt unter dem Titel: „Der Vermittler für Gewerbe und Handel" zum Nutzen derjenigen, denen eine genaue Kenntnis der Preise auf den russischen und ausländischen Hauptmärkten, sowohl für die Ausfuhr- als Einfuhrwaren, unentbehrlich ist. Dieses Blatt bringt täglich telegraphische Depeschen, deren Zahl im vorigen Jahre auf 1.200 stieg. Die Abonnenten der Nordischen Biene erhielten es 1861 als Beiblatt gratis; jetzt kostet es 15 Rubel jährlich. Für beide Blätter zusammen ist jedoch der Preis auf 28 Rubel ermäßigt.

Die Nordische Post (Säwernaja Potschta).
Erscheint seit dem 1. Januar dieses Jahres, als neues ministerielles Blatt unter altem Namen. Die Ankündigung lautete folgendermaßen: „Das Ministerium des Innern fühlte seit seiner Gründung das Bedürfnis, über verschiedene Gegenstände in dem Bereich seiner umfassenden Verwaltung dem Publikum sowohl theoretische als faktische Mitteilungen zu machen. Zu diesem Zweck unternahm es im Jahre 1804 die Herausgabe einer periodischen Schrift, die Anfangs in Monatsheften, von 1809 bis 1820 aber in Form einer Zeitung unter dem Titel „Nordische Post" erschien. Später trat an deren Stelle wieder eine Monatsschrift, dieselbe, die noch jetzt erscheint Gegenwärtig aber, bei der in allen Fächern rasch vorschreitenden Entfaltung öffentlicher Tätigkeit, und bei dem regen Anteil aller Gebildeten an den mannigfachen Erscheinungen unseres gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, gibt sich das Bedürfnis nach Vermehrung jener Quellen kund, aus denen sich genaue Data schöpfen lassen. Das Ministerium des Innern findet die von ihm herausgegebene Zeitschrift nicht geeignet, diesem Bedürfnis zu entsprechen, und hat daher beschlossen, dieselbe mit einer täglich erscheinenden Zeitung zu vertauschen, die es vom Januar 1862 unter dem ursprünglichen Titel „Nordische Post" herausgeben wird. Die Zeitung soll enthalten: I. Einen amtlichen Teil. II. Eine Chronik der gegenwärtigen inneren Zustände Russlands. III. Berichte über die auswärtige Politik. IV. Einen wissenschaftlich-literarischen Teil (der auch Unterhaltungslektüre und Kritik einschließt). V. Vermischte kleinere Artikel und Notizen. VI. Privatanzeigen.

Die Leitung ist in den Händen des Professor A. Nikitenko, eines sehr beliebten akademischen Lehrers, der sich als Literarhistoriker einen wohlverdienten Ruf erworben; eines Mannes, den Sachkenntnis, Geschmack und humaner Sinn auszeichnen, und dessen Stimme in öffentlichen Besprechungen wir um so lieber vernehmen, da er mit jenem Einblick in die nationalen Verhältnisse, den nur ein gründliches Studium der vaterländischen Geschichte eröffnen kann, zugleich die Fähigkeit verbindet, alle Schätze der westeuropäischen Kultur nach ihrem vollen Wert zu bemessen.
Der Jahrespreis der „Nordischen Post" beträgt 12 Rubel.

*) Das „Journal des Ministeriums des Innern". Die früheren Monatshefte bis 1809 führten den Titel: „St. Petersburger Journal."

Der Sohn des Vaterlandes (Ssün Otétschestwa).

Trat erst mit diesem Jahre in die Reihe der politischen Tageblätter. An das Journal, welches in einer früheren Epoche unter gleichem Titel erschien, knüpfen sich dieselben literarischen Skandalerinnerungen, die überall dem Namen Bulgarins anhaften. Es war, schon 1812 von ihm — gleichfalls zusammen mit Gretsch — herausgegeben, gewissermaßen der belletristische Vorläufer der „Nordischen Biene", und blieb auch neben der letzteren, im Ganzen durch 27 Jahre, sein journalistischer Tummelplatz. Die späteren Redakteure wechselten häufig, bis das Blatt 1852 erlosch. Neugegründet wurde es dann von Herrn A. Startschewsky 1856 als Wochenschrift, als die es durch seine ungewöhnliche Wohlfeilheit (6 Rubel jährlich, bei einer Menge artistischer Beigaben) einen so außerordentlichen Absatz fand, dass die Subskription geschlossen werden musste. Herr Startschewsky ist es auch, der dieser Zeitschrift ihre jetzige Gestalt gab, in welcher sie (mit Beibehaltung des beispiellosen Preises von 6 Rubel) eins der umfänglichsten Blätter Russlands geworden, da die Sonntagsnummern sich auf drei Bogen ausdehnen. In den Sonntagsnummern wird nämlich eine zusammenfassende politische Übersicht gegeben, die einen ganzen Bogen füllt, und den übrigen Raum nimmt abwechselnd Folgendes ein: Materialien zur russischen Geschichte älterer und neuerer Zeit; politische und sonstige Nachrichten aus allen Ländern; Lebensbeschreibungen berühmter Russen; poetische Originalbeiträge und Übersetzungen; Aufsätze über Literatur, Wissenschaft, Kunst, Handel und Gewerbe; Zeitungsschau u. s. w. Die anderen Nummern bieten den gewöhnlichen Inhalt lokaler Tageblätter, wobei fortlaufende Berichte über die Bauernangelegenheiten, den Zustand der Sonntagsschulen und überhaupt der Volksbildung im Programm besonders hervorgehoben werden. Außerdem bringt das Blatt vielfache artistische Beilagen: Portraits bedeutender Zeitgenossen (12 jährlich), Kopien ausgezeichneter Gemälde, Modebilder. Die Sonntagsnummer hat eine Beigabe von Karikaturen, welche die Redaktion für so wichtig hält, dass sie von ihnen die edelste Wirkung der Satire, eine Verbesserung der Sitten, erwartet. Den „moralischen Nutzen der Gesellschaft" bezeichnet die Redaktion überhaupt als den Zweck des ganzen Unternehmens. „Wir können", sagt Herr Startschewsky, „bei dem äußerst geringen Preise, den wir angesetzt, nicht unseren materiellen Vorteil im Auge haben. Die Mittel, welche uns die Unterstützung und warme Anteilnahme des Publikums im Laufe von sechs Jahren verschafft hat, wenden wir mit Freuden an die Umgestaltung unserer Zeitschrift, die der sittlichen Erweckung insbesondere des Mittelstandes gewidmet sein soll."

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Nächst den eigentlich russischen Journalen wollen wir auch die auf russischem Boden in fremder Sprache erscheinenden nicht unerwähnt lassen, da sie gleichermaßen die Kulturinteressen des Landes vertreten und ein Ausdruck derselben sind. Wir nehmen daher in unser Verzeichnis der politischen Tageblätter Petersburgs noch die zwei folgenden auf:

Das französische „Journal de Saint-Pétersbourg" (seit 1825), durch seine Stellung und seinen Einfluss von europäischer Bedeutung, ist im Auslande zur Genüge bekannt. Kostet jährlich 21 Rubel.

Die deutsche „St. Petersburger Zeitung" (Jahrespreis 13 Rub.), nahezu eine Altersgenossin der russischen „St. Petersburger Nachrichten", ist wie diese Eigentum der Akademie der Wissenschaften, von welcher sie seit einigen Jahren der gegenwärtige Redakteur Dr. Friedrich Meyer Pachtweise übernommen hat. Den Bedürfnissen der deutschen Bevölkerung Petersburgs wie der benachbarten Provinzen entsprechend, ist sie bei aller patriotischen Haltung in deutschem Geiste geleitet, von welchem der Herausgeber, zugleich Lektor der deutschen Sprache und Literatur an der Universität, in wissenschaftlicher sowohl wie in künstlerischer Beziehung durchdrungen ist. Dr. Meyer, aus Arolsen gebürtig (weshalb er sich bei seinen poetischen Arbeiten Meyer von Waldeck nennt), war in Berlin ein eifriger Schüler der Brüder Grimm und Lachmanns; in mehreren Schriften philologischen, literarhistorischen und rechtsphilosophischen Inhalts hat er die Ergebnisse seiner gelehrten Studien niedergelegt, die seiner journalistischen Tätigkeit vorausgingen. Neben und in der letzteren selbst versäumt er nicht den Kultus der Musen. Wie anregend er auf einen ihm befreundeten Kreis deutscher Sinnes- und Berufsgenossen wirkt, behalten wir uns vor, bei Gelegenheit einer Betrachtung über das geistige Leben der Deutschen in Petersburg näher zu erwähnen. — Ein Hauptmitarbeiter der Petersburger Zeitung für den politischen Teil ist Herr Burow, bekannt als früherer Redakteur der Königsberger Hartung'schen Zeitung.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Revue. Band 01