Die Studentenbewegung - Ein Rückblick aus der Provinz.



        Wenn Jugend gern sich klug gebart.
        Und Alter will die Torheit üben
        Die lautre Sitte ihr zu trüben,
        Wird schwarz davon das reinste Weiß,
        Und fahl der Jugend grünes Reis.
                          Wolfram v. Eschenbach


Nichts beschäftigt gegenwärtig die öffentliche Meinung in Russland so lebhaft, wie die Frage der Universitäten. Es ist bekannt, welche Ereignisse diese Frage zu einer brennenden machten. Unsere Zeitungen haben davon zur Genüge erzählt. Auf den Zusammenhang derselben aber mit der geistigen Bewegung im Allgemeinen sind sie wenig oder gar nicht eingegangen. Wir eröffnen eine Übersicht dieser Verhältnisse mit einer Darstellung, die wir in Briefen aus der Provinz erhalten.

In Russland freilich, wo in Ansehung alles öffentlichen Lebens die Provinzen hinter dem residenzlichen Zentrum (Petersburg und Moskau) so weit zurück sind, wie in Frankreich, mag der Standpunkt eines Beobachters aus der Provinz schwierig und beschränkt erscheinen. Schwierig ist er allerdings, aber beschränkt ganz und gar nicht. Schwierig, weil ein schärferes Auge dazu gehört, alle mitwirkenden Umstände aus einer gewissen Entfernung wahrzunehmen, weil schon die Kenntnis der einzelnen Vorgänge sich da nicht so rasch und unmittelbar gewinnen lässt. Besitzt aber jener Beobachter wirtlich ein schärferes Äuge, hat er, wenn auch langsamer, die notwendige Kenntnis doch gewonnen, so kann er auf seinem entfernten Standpunkte unabhängiger von den Parteien bleiben, kann die Dinge umfassender schauen.

Indem wir nun einen Rückblick auf Verhältnisse, die noch nicht ganz überwunden sind, der Mitteilung über die Reformen vorangehen lassen, mit denen die Regierung sie zu überwinden strebt, fangen wir mit einem sehr düstern Bilde an. Wir hätten es gern vermieden; allein sollen wir dem natürlichen Entwicklungsgange folgen, so können wir nicht anders. Und dann gereicht es uns zum Troste, dass wir dies eben in dem Augenblicke tun, wo die Regierung mit Reformvorschlägen für das gesamte Unterrichtswesen, mit Vorschlägen, die durchaus vom Geiste echter Humanität beseelt sind, bereits die Initiative ergriffen hat. Nicht besser können wir dieselben in das rechte Licht setzen, als dadurch, dass wir die Schäden vollständig aufdecken lassen, deren gründliche Heilung eben mit jenen Reformen beabsichtigt wird. Die offizielle Erläuterung und Motivierung jener Gesetzentwürfe trifft genau mit der vorliegenden Darstellung und Kritik der Tatsachen zusammen. Sie spricht unsern Beobachter von dem Vorwurf der Übertreibung frei. Ob wir ihn auch von dem Vorwurf freisprechen dürfen, dass er wohl etwas zu schwarz sieht? Wie sollte er aber anders, da ihn sein Rückblick eben zwang, ins Schwarze zu sehen!

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                              Akjerman am Dniestr, 14. Februar 1862.
— — — Prüft man die Bewegung, die an unsern Universitäten stattgefunden, so drängen sich vor Allem zwei Fragen auf: wie weit ist dieselbe in unserer jüngsten Vergangenheit begründet (denn dass einige verfehlte Maßregeln nur die Veranlassung, nicht den Grund dazu darboten, bedarf wohl keines Beweises), und wie wirkt sie auf unsere Gegenwart zurück?
Die erste dieser Fragen nötigt mich ziemlich weit auszuholen.

Von mancher Seite ist die Behauptung aufgestellt worden, die russische Gesellschaft sei gegenwärtig die liberalste, die in Europa existiert. Richtig aufgefasst, enthält dieser auch in der deutschen Presse oft wiederholte Ausspruch manches Wahre und bietet den Schlüssel zu sehr vielen Erscheinungen unsers öffentlichen Lebens. Kaum war der Bann des alten Regierungssystems gelöst, so begann die Opposition der Gesellschaft. Sie machte sich zuerst in einer schonungslosen Kritik des Bestehenden geltend. Unsere Literatur der letzten fünf Jahre ist vielleicht einzig in Betreff der Rücksichtslosigkeit, mit welcher sie die Missverhältnisse unseres öffentlichen Lebens enthüllte. Und dennoch blieb sie, aus begreiflichen Gründen, weit zurück hinter dem, was in der Gesellschaft selbst vorging. Die Causerien in den Salons, die Gespräche in den Clubs, ja sogar die Vorträge so manches nach Popularität haschenden Professors trugen wenigstens ebenso viel dazu bei, jene Stimmung hervorzurufen, welche als die jetzt bei uns herrschende bezeichnet werden muss. Diese Stimmung ist Unzufriedenheit — Unzufriedenheit mit Allem, sowohl mit den Dingen, als mit den Personen. Niemand vermag es uns recht zu machen. Die verschiedensten Parteien, in allem Übrigen einander schroff entgegen, sind darin einig, dass das Bestehende nichts tauge, dass es faul geworden und über den Haufen geworfen werden müsse. Was an seine Stelle zu setzen, und ob es überhaupt möglich sei, für den Augenblick etwas Besseres zu Stande zu bringen, daran dachten und denken auch jetzt wohl nur sehr Wenige. — Es sind eben die Flegeljahre einer Gesellschaft, die sich zu fühlen beginnt und die in ihrem unbestimmten, schrankenlosen Sehnen die Knabenjacke zu eng findet, in der sie aufgewachsen.

Natürlich konnte diese Stimmung auf die Jugend und namentlich auf die studierende Jugend nicht ohne Einfluss bleiben. Ist sie ja doch überall und zu jeder Zeit die Trägerin derjenigen Ideen, welche die Zukunft beherrschen. Dazu kam noch ein anderer Umstand: sie vor Allen wurde der Einwirkung des Mannes ausgesetzt, der am frühesten jener Stimmung einen Ausdruck in der Literatur gegeben und sich unter unseren administrativen Größen der letzten Jahre als einen Mann von hervorragendem Geist erwiesen hatte. Ich meine Pirogoff*) und seine Ernennung zum Kurator des Odessaer Lehrbezirks. Sein kurz vorher erschienener Aufsatz „Die Fragen des Lebens" hatte ihn rasch zu einem der populärsten Männer Russlands gemacht. In diesem Aufsatz ist nichts Außerordentliches, keine originelle Idee, keine epochemachende Entdeckung, aber dessen ungeachtet wirkte er gleich einem zündenden Funken. Er enthält nichts als ein im Ausdruck sehr bescheidenes und gemessenes Infragestellen des von der vorigen Regierung so weit getriebenen Systems der Fachbildung und schließlich eine Verurteilung desselben im Namen der allgemein menschlichen Entwicklung. Aber indem er zur Kritik der bestehenden Verhältnisse im Unterrichtswesen anregte, traf er auf wunderbare Weise zusammen mit der öffentlichen Stimmung und sicherte seinem Verfasser einen Erfolg, den er sonst wohl schwerlich gefunden hätte.

*) Nikolaus Pirogoff, der sich schon vor seiner durchgreifenden Wirksamkeit im Schulwesen als Anatom einen großen Namen auch im Ausland erworben hatte. D. Red.

Diesen Mann nun, ausgerüstet mit einer seltenen persönlichen Autorität, welche dadurch noch unendlich gesteigert wurde, dass sich in ihm der Zeitgeist gleichsam verkörperte, stellte man, wie gesagt, in amtliche Beziehung zum Unterrichtswesen und zur studierenden Jugend. Seine Kritik gewann dadurch einen tatsächlichen, praktischen Boden; sie wurde zur Reform, zum Kampfe gegen wirkliche oder eingebildete Missbräuche. Und solcher gab es leider nicht wenige. Sie wurzelten ebenso in den Persönlichkeiten wie in den Institutionen, herrschten gleicher Weise in den niederen wie in den höheren Schulen, wenn sie auch in letzteren vielleicht in geringerem Maße hervortraten. Die Gymnasien hatten meist Direktoren, die nichts von der Sache verstanden. Nicht selten waren es ausgediente Offiziere, die weder durch Kenntnisse noch durch Charakter den ihnen untergebenen Lehrern und den Schülern zu imponieren vermochten. Da blieb ihnen denn nichts

übrig, als sich auf ihre äußere, amtliche Autorität zu stützen. Fast nirgends war in Folge dessen das Verhältnis der Lehrer zum Direktor ein wahrhaft kollegiales. Fast überall traf man entwürdigende Unterwürfigkeit auf der einen, empörenden Despotismus auf der anderen Seite. Wenn irgend etwas dieses Verhältnis in minder schroffe Formen kleidete, so war es das Gefühl der Mitschuld, das dann wiederum mitunter zu skandalösen Auftritten Veranlassung gab. Im Unterrichtswesen nämlich herrschte ganz wie in der Verwaltung Bestechlichkeit und Korruption, großenteils bedingt durch die mangelhaften Gehalte, weit mehr aber noch durch den Geist der ganzen Gesellschaft. Die Gymnasien waren und sind zum Teil noch jetzt privilegierte Anstalten, die ihre Schüler nicht nur mit einer gewissen Summe von Kenntnissen, sondern auch mit bedeutenden bürgerlichen Rechten ausstatten. Natürlich handelt es sich für die Eltern sehr vieler Schüler hauptsächlich um die letzteren, und es liegt ihnen wenig daran, ob ihre Söhne etwas lernen, wenn sie nur den gewünschten Tschin (Rang) bekommen. Dadurch wurden die Examina sowohl der Abiturienten, als der aus einer Klasse in die andere Übergehenden eine ergiebige Fundgrube für Lehrer und Direktoren. Die einen schröpften ihre Schüler unter dem Titel von Privatlektionen, die anderen nahmen sie in Kost und ließen sich dafür unverhältnismäßige Preise zahlen. Die Direktoren verschmähten auch nicht eine andere Erwerbsquelle, welche ihnen der Umstand eröffnete, dass mit den meisten Gymnasien, wie mit den französischen Lyceen Internate unter dem Namen adliger Pensionen verbunden sind. Da wurde denn Ökonomie gemacht, d. h. die Zöglinge möglichst schlecht unterhalten, und das an Kost und Bekleidung abgesparte Geld in die Tasche gesteckt. Welche Achtung konnten solche Erzieher ihren Zöglingen einflößen! Welches andere Mittel hatten sie, um sich bei ihnen in Respekt zu setzen, als das der rohen Gewalt! Danach war denn auch die Handhabung der Disziplin. In dem einzigen Gymnasium von Shitomir z. B. kamen nach offiziellen gedruckten Angaben (Zirkulare des Kiewschen Lehrbezirks 1859. Nr. 8) bei einer Frequenz von 750 Schülern in einem Jahre nicht weniger als 600 Fälle körperlicher Züchtigung vor. Eine ganze Gymnasialklasse von fünfzehn- oder sechzehnjährigen Knaben der Reihe nach abzuprügeln, wenn der Schuldige nicht entdeckt werden konnte, war nichts Unerhörtes in unserer praktischen Pädagogik. Vom Unterricht schweige ich: es ist leicht zu begreifen, was er unter solchen Umständen sein konnte und sein musste.

In diese Verhältnisse hinein versetzte nun die Regierung im Jahre 1856 Pirogoff mit der im Bereich seines Lehrbezirks de facto — und besonders damals — fast unbeschränkten Gewalt eines Kurators. Pirogoff ist ein Mann von außergewöhnlichem Geist, tiefer und vielseitiger Bildung, beseelt von dem Wunsche Gutes zu schaffen, ein Mann von eiserner Energie und unerschöpflicher Arbeitskraft, aber auch von unbeugsamer Starrheit — ein Mann, dessen ganzes Wesen darauf angelegt ist, im Kampfe mit widerstrebenden Kräften, wenn es sein muss, zu zerschellen, aber nie und nimmer nachzugeben. Schonungslos und ohne alle diplomatischen Rücksichten griff er ein in das vor ihm liegende Chaos, und ward gerade dadurch, durch sein Zusammentreffen mit der allgemeinen Stimmung zu einer wirklichen Macht in der russischen Gesellschaft. Alle Unzufriedenen — und das waren ja sämtliche Glieder dieser Gesellschaft — erblickten in ihm ihren Führer, wenn auch nur die Wenigsten an das Ziel dachten, wohin er sie leiten mochte. Er wurde zum Haupte, zur greifbaren Verkörperung der Opposition — einer Opposition, die nicht gegen die Regierung gerichtet war, da diese zum Teil selber dazu gehörte — einer Opposition gegen alles Bestehende. Wie weit seine Wirksamkeit über die Grenzen seines unmittelbaren Wirkungskreises reichte, ersehen Sie daraus, dass die Zeit seines Aufenthalts in Odessa und später in Kiew das in unserer neueren Geschichte vielleicht einzige Beispiel einer geistigen Einwirkung der Provinzen auf die Metropolen darbietet. In Petersburg wie in Moskau lauschte man seinen Worten, verschlang man seine kurzen, aber gedankenreichen Aufsätze, folgte man mit der größten Spannung seiner praktischen Tätigkeit. An dieser trat natürlich vor allen Dingen diejenige Seite hervor, die aufs Niederreißen gerichtet war, denn darin lag ja eben der Grund ihres ganzen Einflusses auf das Publikum.

Allein obgleich Pirogoff in der Geschichte unserer gegenwärtigen Entwicklung hauptsächlich als zersetzendes Element auftritt, so ist er doch keineswegs eine bloß verneinende Natur. Im Gegenteil ging in seiner Wirksamkeit das Aufbauen soviel als möglich Hand in Hand mit dem Niederreißen, nur dass man auf jenes lange nicht die Aufmerksamkeit wendete, wie auf dieses. Dessen ungeachtet würde sein positives Schaffen sicher die erwünschten Früchte getragen haben, wäre es nicht so unzeitig unterbrochen worden. Schon seine Versetzung aus Odessa nach Kiew war ein Fehlgriff, und vollends seine später erfolgte gänzliche Entlassung aus dem aktiven Staatsdienst kann man nicht genug beklagen. Die Putiatin'schen Konflikte waren nichts als notwendige Konsequenzen dieses Missgriffes. Man hätte Pirogoff lieber gar nicht zum Kurator ernennen sollen, als ihn auf halbem Wege zum Rücktritt nötigen.

Die Folgen dieser Halbheit ermangelten nicht sich bald fühlbar zu machen. War in den Gymnasien die frühere Art und Weise zu disziplinieren unmöglich geworden, ohne dass etwas sie ersetzt hätte, so schwand selbstverständlich mit dem Bösen, das sie mit sich gebracht, auch das wenige Gute, das an ihr hastete. Zügellosigkeit riss ein, ohne dass die Sittlichkeit der Jugend gewonnen hätte. Bei den Prüfungen nahm die Bestechlichkeit ab, aber Fleiß und Arbeitsamkeit vermehrten sich dadurch nicht. Im Gegenteil litten die Studien. Früher hatten wenigstens die ärmeren Schüler, denen keine Mittel der Bestechung zu Gebote standen, arbeiten müssen. Jetzt kam jeder Examinator, der einigermaßen strenge verfuhr, in den Verdacht, dass er darauf ausgehe, Geschenke zu erpressen; und diese Ansicht ward von den Eltern, denen, wie gesagt, großenteils noch immer wenig daran liegt, ob ihre Söhne etwas lernen, eben so sehr gehegt, wie von den Schülern selbst. Natürlich gehört keine geringe moralische Kraft dazu, einer solchen Stimmung, die nicht selten von liberalisierenden oder gewissenlosen Chefs geteilt wird, Widerstand zu leisten. Wer mag denn gern für habsüchtig und bestechlich, im besten Falle für einen Pedanten gehalten werden? So geschah es, dass die Prüfungen, welche früher nur gegen die Reichen nachsichtig waren, es jetzt gegen sämtliche Examinanden wurden. Dem entsprechend sank denn auch unsere Gymnasialbildung immer tiefer. Trotz allen Geredes von Fortschritten, trotz einer über Nacht ausgegangenen massenhaften pädagogischen Literatur, trotz vieler wirklicher Verbesserungen in Methoden und Lehrmitteln, verließen unsere Abiturienten jetzt die Gymnasien im Ganzen mit mangelhafteren Kenntnissen und weniger durchgebildet, als vor zehn oder fünfzehn Jahren.

Wie diese Zustände auf unser Universitätswesen einwirken mussten, ist leicht zu ermessen. Jene Missverhältnisse, welche Pirogoff vorzüglich im Bereich des Mittleren Unterrichts bekämpfte, hatten, wie ich bereits angedeutet, auch auf den Hochschulen geherrscht, wenn sie gleich nicht so grell daselbst auftraten. Auch hier war Bestechlichkeit ein weit verbreitetes Übel, und ich könnte Ihnen, wenn es mir um eine chronique sandaleuse zu tun wäre, wunderliche Geschichten von der Art erzählen, wie einzelne Professoren von ihrem Auditorium Lösegeld erhoben. Dazu kam bei den meisten Mangel an wissenschaftlichem Streben. Beides konnte ihnen durchaus keine moralische Autorität über die Studenten verschaffen. Rund heraus gesagt, eine große Anzahl unserer Universitätsdozenten genoss und verdiente keine Achtung. Es wiederholte sich bei ihnen dasselbe, was ich oben über die Gymnasien bemerkte. Nachdem einmal der Riegel unerbittlicher äußerer Zucht gefallen, nachdem eine bloß auf Titel und Amt basierte Autorität im Staate überhaupt unmöglich geworden war, öffnete sich die Kluft zwischen Lehrern und Lernenden in Grausen erregender Weise. Wer von den Professoren sich der Popularität unter den Studenten erfreute, verdankte sie nicht wissenschaftlichen Leistungen, sondern seiner Parteistellung. Mit den Prüfungen ging es genau so, wie in den Gymnasien. Die Forderungen der Examinatoren, sowohl bei der Aufnahme neuer Studenten als bei dem Übergang der alten aus einem Kursus in den andern, und bei der Entlassung, wurden schwächer und schwächer, und zuletzt verwandelte sich die ganze Prozedur der Prüfungen in eine Komödie. Strenge galt je weiter, desto mehr als Zeichen von Pedanterie oder von Unredlichkeit, und von vielen Seiten wurde sogar der allgemeine Satz aufgestellt, dem Interesse der Wissenschaften entsprächen überhaupt gar keine Examina, die daher als bloße Form zu betrachten wären. Dass die Universitäten nicht bloß wissenschaftliche, sondern auch Staatsanstalten sind, dass sie nicht nur Kenntnisse verbreiten, sondern auch bedeutende bürgerliche Rechte verleihen, Rechte, die man doch nicht so ganz umsonst vergeben dürfe, das überging man geflissentlich mit Stillschweigen. — War früher alles Leben in toten Formen erstarrt, so drohte es jetzt in Formlosigkeit unterzugehen — das unausweichliche Attribut jeder Übergangsperiode.

Die nächste Folge des eben erwähnten Umstandes war eine gesteigerte Frequenz unserer Universitäten. Es ist unstreitig bequemer und kürzer, eine bestimmte Rangklasse durch ein spottleichtes, fast nur der Form nach vorhandenes Examen zu erobern, als sie durch vieljährige Dienste in den Kanzleien und Amtstuben zu erwerben. Daher strömte jetzt eine Menge junger Leute den Universitäten zu, die sonst in den Staatsdienst traten, ohne studiert zu haben. Dass die gesteigerte Frequenz keineswegs durch eine größere Wissenschaftlichkeit und ein regeres Streben im Volke nach Kultur bedingt ist, beweist der Umstand, dass in den letzten Jahren, trotz dieser Frequenz, weit weniger Diplome der höheren Gelehrtengrade (eines Magisters oder Doktors) verliehen wurden, als früher, und die Unmöglichkeit, das Lehrerpersonal an unseren höheren Anstalten vollzählig zu erhalten. Das geht auch schon aus dem wenig erbaulichen Zustand unserer wissenschaftlichen Literatur hervor. — Man nehme nur unseren Universitäten die am Ende des Kursus dem Studenten winkenden Vorrechte, und sehe dann, wie es mit dem Besuch der Hörsäle, wenigstens in den Provinzen, stehen würde.

Diese Verhältnisse brachten es allmählich dahin, dass der Hauptzweck, dem die Universitäten zu dienen haben, das Studium, in den Hintergrund trat. Was konnten auch junge Leute, wie die Mehrzahl derer, die in letzter Zeit unsere Universitäten bevölkerten, der ernsten Wissenschaft für einen Geschmack abgewinnen! Wo sollten sie die Ehrfurcht vor ihr hernehmen, wenn die Repräsentanten derselben ihnen weder durch Geist noch durch Gelehrsamkeit imponierten und die Masse der Gesellschaft kaum eine Ahnung davon hatte, dass Wissen Macht sei! Dazu die traurige Richtung eines Teils unserer Journalistik, außerhalb deren eine Literatur kaum zu finden ist, der trostlose Nihilismus vieler einflussreichen Organe derselben, die auf systematische Weise nicht nur die Gelehrten, sondern auch die Gelehrsamkeit selber in den Schmutz herabziehen und eine Apotheose der göttlichen Unwissenheit predigen. Berücksichtigt man dies alles, so muss man zugeben, dass unsere Studenten am wenigsten anzuklagen sind, wenn sie nicht lernen wollten. Nur beklagen darf man sie als die Opfer einer Epoche, in der jetzt noch das negative Zerstören, kein schöpferisches Neugestalten überwiegt.

Etwas aber mussten sie doch treiben, wenn es mit dem Studieren nicht gehen wollte. Politik bot den einladendsten Gegenstand für ihre Tätigkeit. Indes würde man sehr irren, wenn man in diesen quasi-politischen Umtrieben etwas Ernstliches erblicken wollte. Nirgends, selbst in Kiew, wo man am ehesten von Seiten der Polen und Kleinrussen ernsthafte politische Tendenzen hätte erwarten können, sind dergleichen zu Tage getreten. All das Rumoren in Petersburg und in Moskau, all dieser Spuk mit den Sonntagsschulen, den Gesellschaften zu gegenseitiger Unterstützung, den Trauergottesdiensten zu Ehren Schewtschenkos oder der bei den Bauernunruhen in Kasan Gefallenen war so harmlos wie das Soldatenspielen von Schuljungen. Wenn die studierende Jugend dessen ungeachtet sich mit ganzer Seele diesen zeitvertreibenden Aufregungen hingab, wenn sie darüber von Vorlesungen, denen man kein politisches Kolorit zu geben verstand, nichts wissen wollte, so war dies eben eine Folge der oben charakterisierten Abwesenheit höherer wissenschaftlicher Interessen und hätte bei Vorhandensein der letzteren nichts zu bedeuten gehabt. Aber selbst wie die Sachen jetzt lagen, war jene Aufregung weit entfernt, einen staatsgefährlichen Charakter anzunehmen. Eine Belebung des wissenschaftlichen Interesses wäre hinreichend gewesen, sie auf ihr richtiges Maß zurückzuführen.

Leider wurde die Sache anders aufgefasst. Im ersten Schreck übersah man, dass der Charakter des gesummten Studententreibens nur ein korporativer, durchaus kein politischer war, dass dergleichen korporative Tendenzen in ganz Deutschland sich mit dem zahmsten Konservativismus vertragen und niemals dem Staate Gefahr brachten, dass eine solche Gefahr noch weit weniger bei uns drohen könnte, wo das Studententum durchaus nicht jene Wurzeln im Volksleben besitzt, die es in Deutschland oder Frankreich zu einem durch und durch populären Institute machen, dass im Gegenteil der Masse des Volkes bei uns nichts fremder ist, als Universität und Studenten. Das alles vergaß man in gespensterseherischer Angst, welcher die Spielereien der Studenten mit Geschworenengerichten als offene Proteste gegen die bestehende Justizverfassung des Reiches, ihre Beratschlagungen über Verwendung der zu Gunsten mittelloser Commilitonen eingesammelten Summen als Keime künftiger Jacobinerclubs erschienen. Mancher hochgestellte Beamte mochte dabei mit gelindem Entsetzen an die demagogischen Umtriebe in Deutschland während der zwanziger Jahre, an die Wiener Aula von 1848 zurückdenken. Daraus erklären sich die Maßnahmen, mit denen man schließlich allein solche Gespenster zu bannen glaubte. Wie man auch über diese Maßregeln urteilen mag — und über die Art ihrer Ausführung, die fast darauf berechnet schien, böses Blut zu machen, ist an entscheidender Stelle selbst klar genug und tatsächlich geurteilt worden — in ihren Folgen hat sich etwas historisch Notwendiges erfüllt. Allein ebenso historisch begründet war das Treiben der Studenten, das sie hervorgerufen. Auch der strengste Richter wagt diese nicht unbedingt zu verdammen; denn sie wurden nur das Opfer von Verhältnissen, die sie durchaus nicht selber geschaffen hatten.

Sind nun die Katastrophen vom letzten Viertel des vergangenen Jahres entscheidend gewesen? Mit anderen Worten: bilden sie eine Krisis, aus der schon jetzt unmittelbar ein Besseres erwachsen wird? Die Beantwortung dieser Fragen hängt innig mit der oben aufgestellten zusammen: wie wirkt die Bewegung in unseren Universitäten auf unsere Gegenwart? Dies zu erörtern, müsste ich an den allseitigen Nachhall anknüpfen, den sie in unserer periodischen Presse gefunden hat. Es soll in meinem nächsten Briefe geschehen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Revue. Band 01
002 Aus dem Studentenleben (1)

002 Aus dem Studentenleben (1)

002 Aus dem Studentenleben (2)

002 Aus dem Studentenleben (2)

002 Aus dem Studentenleben (3)

002 Aus dem Studentenleben (3)

003 Der Schulmeister

003 Der Schulmeister

004 Unterricht im Singen, Lesen und Rechnen in einer Stadtschule mit einer Züchtigungsszene

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005 Herrscherin Rute. Albertus Magnus lehrt

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005 Herrscherin Rute. Das Standessymbol des LehrersJPG

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005 Herrscherin Rute. Lehrer mit drei StudentenJPG

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