Wissenschaft und Kunst unter Peters Nachfolgern. Lomonossov (1711 — 1740)

§ 17. Das frühere „Mädchen von Marienburg" wurde eine recht brauchbare Kaiserin. Katharina I. ging sofort nach Peters Tod an die Ausführung seiner Lieblingsidee und errichtete noch 1725 die „Kaiserliche Akademie der Wissenschaften" in Petersburg. Peter selber hatte schon eine ansehnliche Bibliothek und eine „Kunstkammer" aus „verschiedenen Tieren, Fischen, Vögeln, Seltenheiten" gesammelt; beide gingen in den Besitz der Akademie über. Alle Lehrstellen wurden nach Peters Bestimmung mit Deutschen besetzt. Dieser Kult deutscher Gelehrsamkeit dauerte noch weiter fort, unter Peter II., unter Anna Iwanowna, er wirkte noch bis zu Katharina II. hin, so dass man sagen kann, die ganze russische Wissenschaft lag bis dahin in deutschen Händen. An Stelle von Leibniz und Wolf kamen andere, sehr bedeutende Männer, nach Petersburg wie nach Moskau: der um die Erforschung von Sibirien in historischer und ethnographischer Beziehung hoch verdiente Gerhard Friedrich Müller 27), welcher wiederum, als Lessing abgelehnt hatte, den Gottschedianer Reichel auf das Moskauer Katheder der Ästhetik brachte; die Historiker Bayer und von Schlözer — Schlözer ist der eigentliche Begründer der russischen Geschichte — ; die Mathematiker und Physiker Braun und Euler; der durch seine Reisen im Ural, im Kaukasus, in der Krim bekannte Naturwissenschaftler Pallas, der sich auch durch seine praktischen Anlagen — Seidenbau, Bereitung von Soda — so verdient machte, dass ihm Katharina II. zwei Dörfer in der Krim und ein Haus in Ssimfjeropol schenkte. Welch reiches wissenschaftliches Leben sich durch diese und noch viele andere Gelehrten entfaltete, davon gibt Schlözer ein anschauliches Bild in seinem Buch „Öffentliches und Privatleben, von ihm selbst beschrieben“ Göttingen 1802.

Und nicht bloß standen deutsche Gelehrte in solchem Ansehen; der Reichskanzler Ostermann, gleich groß in der inneren Verwaltung wie in der äußeren Politik, und der Organisator des russischen Heerwesens Generalfeldmarschall Münich waren ja auch Deutsche. Freilich waren beide, als andere Zeiten kamen, nahe daran gevierteilt zu werden; nach Sibirien mussten sie beide, Münich konnte dort sein Leben nur durch Erteilen von Mathematikstunden fristen.


Am wissenschaftlichen Himmel Russlands erhebt sich neben den vielen deutschen Sternen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur ein einziger russischer, Lomonossov.

§ 18. Michael Lomonossov (1711 — 1765) 32) ragt als monumentale Figur aus dieser Zeit hervor; er hat auf wissenschaftlichem Gebiete nicht viel weniger geleistet als Peter der Große auf politischem. Bis Lomonossov war russische Wissenschaft, soweit sie von Russen überhaupt kultiviert wurde, allein bei der Geistlichkeit gewesen — Lomonossov ist der erste weltliche russische Wissenschaftler und zwar gleich ein phänomenaler. Dass er dazu ein bedeutender Dichter war, gibt seinem Bild noch mehr Glanz.

Lomonossov hatte in Marburg studiert und vor allen den Philosophen und Mathematiker Christian Wolf gehört, der nach seiner schimpflichen Entfernung aus Halle „bei Strafe des Stranges“ hier zur Ruhe gekommen war und im Zenith seines Ruhmes stand. Von Marburg war Lomonossov nach Freiberg gegangen: seine Hauptfächer waren Bergkunde, Metallurgie, Chemie. Von dem Grundsatz ausgehend: „Wissen ist Macht“, suchte er sich auf allen Gebieten zum Herrn zu machen, und so wurde er ein Universalgenie, besonders bewandert im Reiche der Naturwissenschaften. Und zwar verficht er hier den Gedanken, dass diese mit der Religion vereinbar ist — das war eben die deutsche Philosophie Wolfs, streng religiös im Gegensatz zum französischen Rationalismus jener Zeit.

Lomonossov beschränkte sich in seinen eigenen Studien wie in seinem Lehrfach als Adjunkt, dann als Professor an der Akademie nicht auf Philosophie und Naturwissenschaften, er wurde Philologe und Historiker. Er hat die erste russische „Rhetorik" (1748) 33) und die erste „russische Grammatik" (1755) verfasst, beide im Geiste und in der Anlage der damaligen deutschen Sprachbehandlung. Die Quellen zu seiner russischen „Rhetorik" und die angezogenen Beispiele sind Gottsched und Wolf entnommen. Die Grammatiken vor Lomonossov waren entsprechend dem religiösen Charakter der altrussischen Literatur und der hierin verwendeten kirchenslawischen Sprache „slawische". Lomonossov zieht die Scheidegrenze zwischen beiden Sprachen lexikographisch wie grammatikalisch; er zeigt, dass die Kirchensprache mit der griechischen Struktur, der griechischen Wortbildung, dem griechischen Artikel fernabsteht von der russischen Sprache des russischen Volkes. Freilich, löste auch er diese Frage nicht ganz; er machte die russische Sprache wohl vom Kirchenslawischen frei, er selber aber schuf eine künstliche Büchersprache, die der lebenden Sprache wenig glich. Diese Aufgabe ganz gelöst hat erst Karamsin.

Lomonossov sah, dass die russische Geschichte an der Akademie allein in den Händen der Deutschen lag; sein Verstand und sein Nationalgefühl sagten ihm, dass diese unmöglich das volle Verständnis für den russischen Volkscharakter haben konnten, und so warf er sich auch auf dies Gebiet. Leider ging er hierbei nun bald vom rein Sachlichen auf das Persönliche über. Lomonossov war ein Bauernsohn (aus dem Gouvernement Archangel), ein Bauer ist er Zeit seines Lebens geblieben; auch seine Heirat spricht dafür: eine Wäscherin, an der er in Freiberg hängen geblieben war. Die Invektiven oder noch schlimmer die Art der Invektiven, die er bei seinen Auseinandersetzungen mit den deutschen Professoren anwandte (vgl. Schlözers Buch), zeigen den groben Bauern. Allerdings waren die Deutschen ja auch nicht fein.

Lomonossov ist ein bedeutender Dichter gewesen, und wie seine Wissenschaft aus deutschem Boden erwachsen ist, so ist es auch seine Poesie. Sein erstes Gedicht, das gleich den Grund zu seinem Dichterruhm gelegt hat, die Ode 9, „Auf den Sieg Anna Iwanownas über die Türken und Tataren und auf die Einnahme von Chotin, im Jahre 1739“ fällt in die Freiberger Zeit und ist eine Nachdichtung von Chr. Günthers Gedicht „Auf den Frieden Österreichs mit der Pforte, 1718", eine Nachdichtung, welche die Vorzüge des Originals vermissen lässt. Chr. Günther war der letzte „schlesische“ Dichter, eigentlich der erste einer neu hereinbrechenden Zeit, der sich schon etwas frei macht von dem Schwulst und der Unnatur der Schlesier und einen einfacheren, realeren Ton findet. Von dieser Natürlichkeit, von dem Witz, dem Humor Günthers hat Lomonossov nichts verstanden; ihm ist von Günther nur der feierliche Bombast geblieben. Lomonossov steht hier, wie in allen späteren Gedichten, auf „schlesischem“ Boden, der allerdings zu seiner Studienzeit in Deutschland trotz des Sturmlaufs noch immer siegreich blieb. Alle seine Oden sind in der schwunghaften Manier der Opitzschen geschrieben; die notwendigen Requisiten sind die Musen und Narziß und die Nymphen und Diana und Mars und Bellona und der Berg Pindus, und selbst bei einem christlichen Fest rauscht die kastalische Quelle.

Die meisten Oden Lomonossovs sind Gelegenheitsgedichte. Als Akademieprofessor hatte er die Aufgabe, festliche Gelegenheiten, wie die Namens- und Krönungstage der Herrscher, Hochzeiten, Siege zu feiern.

Alle diese Gedichte sind eigentlich nur Auszüge und Wiedergabe seiner sonstigen wissenschaftlichen Reden, und Gedichte wie Reden zeigen einen gedanklichen Inhalt, der uns durch die wissenschaftliche Tiefe der Forschungen, die Kühnheit der Ideen, durch den Freimut der Überzeugung die höchste Achtung vor dem Menschen Lomonossov abnötigt. Seine Panegyrien, wie sie offiziell von jedem Akademieprofessor verlangt wurden, sind keine Schweifwedeleien. Der kluge Gelehrte erkannte sehr wohl die Fehler seiner Herrscher. Das zeigt sich deutlich in seinen Epigrammen, die nur in Handschriften herumgingen — selbst in dieser Zeit hat noch keineswegs die gedruckte Literatur die Oberhand, es gibt unendlich viel Handschriftliches — und die der „Staatsverbrecher" Ssidorazkij in Paris unter dem Titel „Tout Lomonossov" (1900) hat erscheinen lassen: Pamphleten gegen die Unwissenheit und Lügen der Geistlichkeit, gegen Peters Wüten, gegen Katharinas Fehler, gegen die russische Gerichtsbarkeit.

In Deutschland hatte Lomonossov die Anakreontik und andrerseits das geistliche Lied kennen gelernt. Er hat beiden seinen Tribut gezahlt. Die ersteren, wenigen, lassen kalt, klingen gezwungen; die letzteren sind meist Psalmenübersetzungen, Paraphrasen. Aber ein paar von ihnen, gerade die, in denen er selbständiger arbeitet, wie „Morgengedanken über Gottes Größe" oder „Abendgedanken über Gottes Größe beim Erscheinen eines großen Nordlichts" oder sein „Herbst" zeigen schon den Dichter, der fühlt, der empfindet, nicht mehr den Reimer und Versschmied.

Lomonossov hat, wie schon gesagt, den der russischen Sprache zuwiderlaufenden syllabischen Vers aus der russischen Dichtung herausgebracht; er hatte schon 1739, zugleich mit Übersendung seiner Ode „Über die Einnahme von Chotin" seinen „Brief über die Regeln des russischen Versbaus " an die Akademie eingesandt und deren Beistimmung erhalten.

Lomonossov hat auch zwei Dramen 34) geschrieben: „ Tamira und Selim" (1750), Figuren aus der Geschichte der Krim, und „Demophont" (1751). Sie haben bei seinen Zeitgenossen keine Anerkennung gefunden; auch die Kritik der Folgezeit hat sie mit den Worten abgetan, sie seien nach pseudoklassischem Muster gearbeitet. Das letztere stimmt wohl, bedarf aber der Ergänzung. Die allerletzte Zeit weist nach, dass „Tamira" nicht allein auf dem genauen Studium von Gottscheds „Versuch einer kritischen Dichtkunst", der nicht lange vorher erschienen war, beruht, sondern dass der Anfang und auch sonst noch Einzelheiten unter direktem Einfluss von seinem „Sterbenden Cato" geschrieben sind. Das zweite Drama dagegen „Demophont" — aus der griechischen Sagengeschichte — steht unter dem Einfluss von Racines „Andromache“. Wenn also Lomonossov und ebenso Ssumarokov die Schöpfer des pseudoklassischen Dramas in Russland genannt werden, so ist das an und für sich richtig; aber sie sind erst durch deutsche Vermittlung darauf gekommen.

§ 19. Um diese Kolossalfigur gruppieren sich im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts ein paar Dichter und Denker, zwar minderer Art, aber doch zeigend, dass in Russland russisches Leben zu pulsieren beginnt. Und zwar tritt gleich jetzt eine Spaltung der Geister ein, die sich nachher immer mehr erweitern wird — die einen unter dem Einfluss deutscher Bildung und deutscher Literatur, die ändern unter französischem. Da stehen auf der einen Seite, der deutschen, mehr als Vertreter der Wissenschaft, Lomonossov und Tatischtschev , auf der andern, französischen, mehr als Vertreter der schönen Literatur Trjedjakowskij, Kantjemir, Ssumarokov.

§ 20. Tatischtschev (1686 — 1750) ist älter als Lomonossov. Aber seine schriftstellerische Tätigkeit fällt erst in die Zeit nach Peters Tod. Tatischtschev war in Deutschland gewesen und hatte sich an Pufendorf, an den theologisch-philosophischen Werken Walchs und den mathematisch-philosophischen Wolfs herangebildet. Seine allgemeine Lebensauffassung wurde die jener großen Freidenker. Dass er sie zu äußern wagte, spricht auch noch für seinen mutigen Charakter; man bedenke, was für Russland eine Erklärung bedeutete: „Das hohe Lied sei eine Sammlung weltlicher Liebeslieder". Für seine freie Auffassung wie für seinen Wagmut spricht auch sein „Testament an seinen Sohn" (1734 — gedruckt lange nach seinem Tode, 1773), in dem er diesem empfiehlt, sich mit der lutherischen, kalvinistischen, papistischen Kirche zu beschäftigen, da man doch mit ihren Vertretern leben müsse. Das „Testament" lehnt sich innerlich und äußerlich an Christian Weises „Väterliches Testament". Ebenso sind in seinem „Gespräch über den Nutzen von Büchern und Schulen" die philosophischen Beispiele für eine große Reihe der dort aufgestellten Fragen aus Walchs „Philosophischem Lexikon" genommen.

Und in seinen größeren Werken, der „Geschichte Russlands" und dem „Russischen Lexikon der Geschichte, Geographie, Politik und Kultur" ist, trotzdem sie kaum mehr als Materialsammlungen sind, doch die kritische Art, wie er an die Geschichte überhaupt herantritt, das Produkt des genauen Studiums jener Philosophen. Auch diese beiden Werke sind erst nach seinem Tode herausgekommen. Schlözer hat Tatischtschev ein wahres historisches Genie genannt.

§ 21. Trjedjakowskij (1703 — 1769) war, wie Lomonossov, aus niederem Stande, ein armer Popensohn aus Astrachan. Er hatte sich durch eisernen Willen zu derselben angesehenen Stellung wie Lomonossov emporgearbeitet; er hatte eine Professur für Beredtsamkeit an der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Er wird wohl hier und da als der Vater der russischen Ode bezeichnet — er hat außerdem Satiren, Epen, Tragödien, Komödien geschrieben — , und es stimmt auch, dass er diese vor Lomonossov geschrieben hat. Aber während man bei Lomonossov den wirklichen Dichter hindurchleuchten sieht, ist Tijedjakowskijs Dichten nur Reimen, schwunglos, steifleinen, und dieses läuft im Geleise seines Meisters Boileau, dessen Werke er auch teilweise ins Russische übersetzt hat. Seine Vorliebe für das Französische ist zu verstehen; er hatte sich unter den größten Entbehrungen eine Reise nach Paris erkämpft. Auf Anna Iwanownas Befehl übersetzte er italienische Opern ins Russische; er übertrug auch die lateinischen Abhandlungen des erst erwähnten Hofhistoriographen Bayer ins Russische. Er verwarf vor Lomonossov das Slowenische, das Kirchenslawische für die Poesie und trat für die Volkssprache ein. Der gelehrte Sprachenkundige nimmt also für ihn ein, der Dichter kaum und ebensowenig der Mensch; er war ein Muster der Überhebung und Gesinnungslosigkeit. Charakteristisch für ihn, für seine Stellung und für Russland ist, dass er vom Minister Wolynskij geohrfeigt wurde und bei anderer Gelegenheit Stockprügel erhielt

Höher in der Dichtungskunst und im Charakter steht Fürst Kantjemir (1708 — 1744), angeblich direkt von Tamerlan abstammend. Seine, Sprache ist reiner, kraftvoller, seine Verse sind nicht ohne Harmonie, er hat eigene Gedanken. Karamsin lässt mit ihm die erste Epoche des russischen Stils beginnen, mit Lomonossov die zweite. Kantjemir leistet in der Dichtungsart, die am ehesten ohne den göttlichen Dichterfunken auskommt, in der Satire, nicht Unbedeutendes, so dass er den Namen Vater der russischen Satire verdient. Gemeint ist damit die Satire in gebundener Form als didaktische Lyrik; sonst hat es vor ihm hervorragende Satiriker gegeben, z. B. Iwan IV. Kantjemir geißelt in seinen Satiren — es sind neun; die ersten erschienen 1729 — die Rohheit der russischen Gesellschaft und die Dummheit ihrer Kulturträger, der Geistlichkeit. Man nennt Kantjemir ebenso richtig den „Schöpfer der pseudoklassischen Dichtung". Er neigte sehr zu den Franzosen; er war unter Anna Iwanowna bevollmächtigter Minister in Paris und verkehrte dort intim mit Montesquieu, dessen „Lettres persanes" er übersetzte. Mit Voltaire stand er in regem Briefwechsel. In Paris hat er den ersten russischen Salon eröffnet. In seinen Gedichten, Satiren, Oden, Anakreontika, Fabeln sieht man Boileaus und Labruyères Einfluss und deren Muster Horaz 35). Seine Satiren sind übrigens ins Deutsche übersetzt worden (vom Oberst Spilcker, Berlin 1752), aber bezeichnenderweise nicht aus dem Russischen, sondern aus der französischen Übersetzung.

Über Ssumarokov als Dramatiker ist § 16 gesprochen. Er hat außerdem Fabeln, Epigramme, Episteln, Elegien, Oden, vor allem Satiren geschrieben. Seine Satiren haben wenig speziell Russisches, sie sind mehr allgemein gehalten, gegen den Aberglauben , den Unglauben, die Scheinheiligkeit, die Bestechlichkeit; sie alle zeigen Schärfe und einen zum Lachen zwingenden Witz, so dass man deutlich den Schüler Boileaus erkennt In der Fabel folgte er gern Lafontaine.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte