Um Puschkin herum

§ 40. Die „neue" Poesie Puschkins breitet sich aus. Trotz der jammervollen äußeren Verhältnisse — vielleicht auch gerade durch sie — war der russische Geist erwacht und verlangte nach Arbeit und Schaffen. Eine ganze Schar wirklicher Dichter tritt mit Puschkin zusammen auf den Plan, die, zum Teil seine Freunde und Anhänger, nach ihm eine förmliche Schule bilden, oder, in loserem Zusammenhang mit ihm, doch das Gemeinsame haben, dass sie mit der alten Zeit, d. h. dem französischen Klassizismus gebrochen haben. Am wenigsten nahe stehen ihm Batjuschkov und Gribojedov; ganz sein sind Delwig, Jasykov, Baratynskij, Rylejev, Wjenjewitinov u. a. m. 75)

§ 41. Batjuschkov (1787 — 1855) gehörte zwar mit Puschkin zum Kreise Shukowskijs, zum Verein Arsamass, er wurde auch von Puschkin zärtlich geliebt, aber seine Dichtungen laufen nur zum Teil in dieser Richtung. Wohl hatte er etwas vom Romantiker an sich; er war ein Zerrissener, dessen Zerrissenheit sogar im Irrsinn endete. Es ist aber nicht der hervorstechendste Zug seiner Dichtungen: der Übersetzer von Tibull und von Horaz hat seine Kraft in der leichten Anakreontik, in der Erotik; er neigt zu den Franzosen und sucht in ihrer heiteren und gefälligen Form zu glänzen. Es zog ihn aber auch zu Byron und Tasso; sein Gedicht „Der sterbende Tasso" ist tief melancholisch, tief pessimistisch. Es zog ihn auch zu den Deutschen, zu Goethe, Schiller, Voß, Matthisson. Sein „Übergang über den Rhein", den er als Stabskapitän 1814 mitmachte, gibt ein herrliches, romantisches Bild vom Fluss, von seinen Ufern, seinen Bergen. Er wütet hier gegen die Franzosen, um dann, als er in Paris einzieht, den „Franzosenfreund" zu besingen — ein unsteter, kranker Mann, sich aufbäumend gegen die Regierung, gegen die politischen und sozialen Verhältnisse, gegen sich selber, und dann wieder weich nachgebend und hin und her schwankend, aber in allem ein Dichter, ein hervorragender Lyriker.


§ 42. Ein anderer ist Gribojedov 76) (1795 — 1829), Puschkins großer Rivale in der Gunst des Publikums; Puschkins „Eugen Onjegin" hatte eine Zeitlang einen schweren Stand gegen Gribojedovs Drama „Verstand schafft Leiden". Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts stand die Bühne einmal wieder im Vordergrund des Interesses. Nicht allein in den großen und kleinen Städten spielte man, auch jeder größere Gutsbesitzer bildete sich aus seinen Leibeigenen Schauspielertrupps, die ihm Possen, Vaudevilles, am liebsten Balletts vorspielen mussten. Hier und da ging über die russische Bühne aber auch Goethe, Schiller, Lessing, noch lieber Kotzebue; da Shakespeares Königsdramen vom Hofe und von der Regierung als revolutionär einfach verboten waren, hat sich erst eine spätere Zeit auch an die unschuldigeren herangewagt. Ein guter Dramaturg und ein guter Förderer junger Talente war Fürst Schachowskoj. In seinem vornehmen Hause unterstützte er gern durch Rat und Tat emporstrebende Talente wie Gribojedov, Gnjeditsch, Katjenin, Kokoschkin, Sagosskin, Chmjelnizkij; schade, dass er auch ein Dichter sein wollte und dieses glaubte durch 80 — sage achtzig — Stücke beweisen zu müssen.

Gribojedovs „Verstand schafft Leiden" 77) (1824) stellt zwei Generationen der vornehmen Gesellschaft einander gegenüber, die ältere in Famussov, dem als höchstes, einzigstes Ideal der Rang, die Rangstufen erscheinen, der verächtlich auf alles andere, vor allem auf die Wissenschaft herabsieht, dem vom Wissen nur die französischen Brocken und Gesellschaftsfloskeln imponieren. Auf der andern Seite steht der die jüngere Generation repräsentierende Tschazkij, der diese Sucht, das Französische nachzuäffen, die knechtische Verehrung des Auslands auf das schärfste geißelt, sich aber mit seinem gesunden „Verstände" bei seinen verbohrten Landsleuten nur „Leiden schafft". Dass Gribojedov mit seiner bitteren Satire in ein wahres Wespennest gestochen hatte, beweist der großartige Beifall der einen, beweisen die heftigen Anfeindungen der andern; diese und jene ironische Bemerkung, dieses und jenes Bonmot gingen so von Mund zu Mund, dass sie zum Sprichwort geworden sind. Man muss sagen, dass aus mancher spöttischen Redewendung, aus dem Dialog oft französischer Esprit hervorleuchtet. Deshalb aber und weil er die Regeln von den drei Einheiten beobachtet, Gribojedov für den Pseudoklassizismus in Anspruch nehmen zu wollen, geht zu weit. Goethe hat im „Torquato Tasso" auch die drei Einheiten. Und wenn er nun einmal zum Pseudoklassizismus sich bekennen wollte, warum ließ er es dann bei dieser einen Äußerlichkeit bewenden und nahm nicht auch die zweite, den Alexandriner? Dafür hat er jedoch Jamben mit wechselnder Länge. Eher könnte man sagen, er gehörte, obwohl er aus Voltaire, aus Viktor Hugo übersetzt hat, zu den Deutschen; denn abgesehen davon, dass er deutsch erzogen war, dass Schlözer, Buhle auf der Universität seine Lehrer waren, dass er für Goethe, Schiller, Wieland, Shakespeare eine ausgesprochene Vorliebe hatte, abgesehen hiervon sein „Verstand schafft Leiden" baut sich auf Wielands „Geschichte der Abderiten" auf.

Als die Anfeindungen wegen seines Stückes außerordentlich heftig wurden, zog sich Gribojedov eine Zeitlang in stille Abgeschiedenheit zurück, und hier suchte er und fand er Erholung in der Übersetzung des Prologs von Goethes „Faust“, und das war keine augenblickliche Laune, sondern seine Künstlerbeichte. Romantik, nicht die Byronsche, sondern die Shakespeare Goethesche, atmet auch seine unvollendete Tragödie „Eine Nacht in Grusien“ Die erhabene Natur der kaukasischen Berge ist großartig gezeichnet.

Gribojedov kannte durch seinen längeren Aufenthalt als Gesandtschaftssekretär Grusien sehr genau. Als er von dort in die Stellung eines bevollmächtigten Ministers nach Teheran ging, wurde er hier von einem fanatischen Volkshaufen ermordet.

§ 43. Delwig (1798 — 1831) hat in manchem seiner „Russischen Gedichte" den echten Ton des Volksliedes getroffen. Er ist vor allem Lyriker, auch in seinen Idyllen. In einer Sammlung von Gedichten und Prosabeiträgen, die er mit Unterstützung seiner Freunde Shukowskij, Puschkin u. a. unter dem Titel „Blumen des Nordens" herausgab, ist der hervorstechendste Zug „die deutsche Sentimentalität und die romantische Melancholie". Die deutsche Sentimentalität lag ihm durch die Geburt; seine Voreltern gehörten zum westfälischen Baronsgeschlecht der Dalwig. Er gab auch im Sinne der „neuen" Poesie 1830 die „Literaturzeitung" heraus. Als er bald nachher starb, war Puschkin, der ihn von der Schule in Zarskoje Ssjelo her kannte, geradezu untröstlich.

Jasykov (1803 — 1846) wird der „russische Anakreontiker" genannt. Als Sänger des Bacchus, der Freundschaft, der Liebe hat er sich durch seine klangvollen und dabei innigen „Gedichte" (1833) wohlverdienten Ruf erworben. Puschkin schenkte ihm seine Aufmerksamkeit, und von da ab wandte er sich ganz dessen „netier" Poesie zu. Als Redakteur des „Moskauer Boten" arbeitete er für diese Richtung. Außer den Anakreontika zeigen auch seine Elegien, seine vaterländischen Gedichte („Meine Heimat" — «Oleg") tiefes Empfinden und wahres Gefühl. Leider wurde aus dem oft recht lockeren Sänger der Liebe ein Frömmler und aus dem Freiheitsdichter ein Reaktionär, der sogar seine früheren Freunde denunzierte: sein Charakterbild schwankt also nicht.

Baratynskij (1800 — 1844) wurde von Puschkin höher als Delwig und Jasykov eingeschätzt. Er vertritt die „neue" Poesie, aber mehr nach der Byronseite hin. Seine Gedichte sind auf den traurigen, melancholischen Ton gestimmt, voller Reflexionen, voller Selbstzerfleischung; Puschkin nannte ihn gern seinen „Hamlet". In seinem Gedichtband „Abenddämmerung" (1842) ist manches Hübsche, Zarte, Stimmungsvolle. Er war ein großer Verehrer Goethes; sein Gedicht „Auf den Tod Goethes" (1833) ist tief empfunden. Durch einen längeren Aufenthalt in Finnland — er war dort Offizier — war er mit der finnländischen Natur und dem Wesen seiner Bevölkerung sehr vertraut geworden; er hat beides in seinem größeren Gedicht „Eda“ ausgezeichnet gemalt.

Eine Byronnatur, wie Baratynskij, aber nicht wehmütig und sich zerfleischend, sondern feurig, kraftvoll, ein Mann der Überzeugung und der Tat ist Rylejev (1795 — 1826). Seine Überzeugungstreue besiegelte er mit dem Tode; er wurde als Hauptbeteiligter an der Militärverschwörung von 1825 mit den andern Führern in der Peter-Pauls-Festung gehenkt. Sein episches Gedicht „Woinarowskij" (1825 — Woinarowskij war der Waffengefährte Maseppas gegen Peter und wurde, geschlagen, zu entsetzlichem Schicksal nach Sibirien verbannt) atmet Byronschen Geist und geht im Stile seiner Romantik. Chamisso hat es trefflich übersetzt (mit dem Titel „Die Verbannten"). Der nationale Dichter spricht aus seinen „Träumereien" (1825), die sozusagen eine Geschichte Russlands in Versen sind; er träumt sich in die Heldenzeiten der Ahnen zurück und will sein Volk durch diese Beispiele gegen die jetzigen Machthaber entzünden. Ein unparteiischer Historiker ist er freilich nicht.

Die Vorhergehenden überragt der jung verstorbene Wjenjewitinov (1805 — 1827). Er ist ein großer Verehrer Schellings, Goethes, Puschkins. Sein „Dichter" gibt sein romantisches Bekenntnis ganz in dem Sinne von Puschkins „Dichter" und von dessen „Propheten". Obwohl von Naturanlage viel mehr eine Byronnatur, schwärmte er für Goethe; er hat vorzüglich Szenen aus „Faust", dann die dramatischen Spiele „Künstlers Erdenwallen" und „Künstlers Apotheose" übersetzt. Zum Kult der „neuen" Poesie gründete er noch kurz vor seinem Tode den „Moskauer Telegraphen" (1827), für den ihm Puschkin seine „Szene zwischen Faust und Mephistopheles" zur Verfügung stellte.

Durch das Studium Puschkins reifte die dichterische Kraft eines andern, seltsamen Menschen aus, des Autodidakten Kolzov (1809 — 1842), des russischen „Burns". Er ist der beste Volksliederdichter 78) Russlands. Aus dem Volke hervorgegangen und immer in engster Berührung mit ihm — sein Vater wie er waren Viehhändler — , fühlte er alle Freuden und Sorgen mit ihm und wusste er diese in innige, schlichte, einfache Töne zu kleiden. Seine „Russischen Lieder" sind tief aus der Seele des Volks geschöpft, wachsen hervor aus dem weiten, grünen Boden der heimatlichen Wiesen und Felder („Die Ernte", „Des Landmanns Lied", „Der Wald"). Der so weich- und zartfühlende Dichter ging frühzeitig an der Schwindsucht zugrunde; die Gedichte des Mannes, der erst in späteren Jahren schreiben lernte, wurden 1846 von Bjelinskij herausgegeben.

Es gehört noch eine ganze Reihe von keineswegs unbedeutenden Namen hierher: der früh erblindete Koslov („Der Mönch" nach Byron); D. Dawydov („Soldatenlieder"); Herr und Frau Glinka (sie — Übersetzerin von Schiller); und vor allen der durch tiefe Gedanken, innige Gefühle, lebenswarme Naturschilderungen ausgezeichnete Tjuttschev (auch guter Übersetzer von Goethe, Schiller, Heine; eine Auswahl seiner Gedichte ist ins Deutsche übertragen); dann der recht klangvolle, aber etwas erotisch angehauchte Wjerdjerewskij; der auch als Kritiker sehr tätige Fürst Wjasemskij; die beiden Brüder Tumanskij; Tjepljakov u. a.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte