Michael Jurgewitsch Lermontov (1814 — 1841)
§ 39. Die gewaltige Kraft dichterischen Talents, die Puschkin innewohnte, hat auch Lermontov 69); freilich geht sie in etwas anderen Bahnen.
Lermontov wird gewöhnlich als der bedeutendste Vertreter Byronscher Zerrissenheitspoesie, Byronschen Weltschmerzes hingestellt. Nicht mit Unrecht. Nicht allein ist ein Teil seiner Werke direkt nach Byron gearbeitet überhaupt der Geist seiner Dichtungen ist der Byrons, der düstere verzweiflungsvolle, zersetzende, alles Hohe verachtende und verhöhnende. Aber diesen Geist hat er nicht allein durch das Studium Byrons; er ist dadurch nur bestärkt worden; die Zerrissenheit, der Weltschmerz wäre über einen so stolzen, leidenschaftlichen Menschen, wie er war, auch ohne Byron gekommen. Den gaben ihm die Zustände in seinem Vaterland, die ganze Nikolaitische Zeit, die Verhältnisse, unter denen er lebte.
Lermontov hat nur ein kurzes, unruhiges Leben gelebt. Der in Moskau 1814 geborene Knabe verlor bald Mutter und Vater. Die sehr reiche und adelsstolze Großmutter verhätschelte ihn, so dass er hochmütig, eigensinnig, spottlustig wurde. Sehr befähigt kam er früh zur Universität, trat jedoch bald in ein Petersburger Gardehusarenregiment ein, wo er tolle, ausschweifende Jahre verlebte. Diesen Stempel trägt eine ziemlich große Zahl von Dichtungen jener Zeit: „Das Petershofer Fest", „Die Ulanin", „Die Frau des Kassierers". Das war aber nur die eine Seele in Lermontovs Brust — er lebte noch ein zweites Leben, fern von diesen Nichtigkeiten und Fadheiten, ein tief innerliches, tief ernstes, ein Leben, wo er sich mit den großen Denkern aller Kulturnationen beschäftigte,, mit Byron und Shakespeare, mit Lessing, Goethe, Schiller, mit Rousseau,. Voltaire und von den eigenen Landsleuten vor allen mit Puschkin. Eine tiefgehende Wendung rief daher der unter so tragischen Umständen erfolgte Tod Puschkins auf ihn hervor. Er feierte den Dichtergenius in einer Ode „Auf den Tod des Dichters" (1837), und in dieser Schober den Tod direkt der vornehmen Gesellschaft wegen ihrer ehr- und vernunftwidrigen Anschauungen und wegen der Verderbtheit ihrer Sitten zu. Mit dieser Ode war Lermontovs Dichtername bekannt, sein Dichterruf begründet.
Aber den jungen Leutnant traf die Strafe. Die entrüstete vornehme Gesellschaft setzte bei Nikolaus seine Versetzung nach dem Kaukasus durch. Für den Leutnant war das hart, für den Dichter von unendlichem Wert. Diesem Aufenthalt verdanken wir die schönsten Perlen seiner Poesie, die Schilderungen der Naturschönheiten des Kaukasus und der Sitten seiner wilden Völker, eine Naturmalerei, wie sie selbst Puschkin nicht gelungen ist. Lermontovs Großmutter, die sehr viel bei Hofe galt, brachte ihn zwar bald wieder nach Petersburg zurück; aber Lermontov neigte zum Spötteln und Höhnen, eine Folge seiner falschen Erziehung, und so kam es zu einem Duell zwischen ihm und dem französischen Gesandten. Er wurde wieder nach dem Kaukasus strafversetzt, kam wieder zurück, ging wieder dorthin, hatte wieder, aus ganz nichtigen Gründen, hier ein Duell und fiel darin, 27 Jahre alt (1841).
Lermontov ist, wie gesagt, Byron. Schon den Jungen sah man oft mit Byrons Gedichten unter dem Arm, und der junge Mann drapierte sich gern mit dem Byronschen Mantel. Auch Puschkin war in Byron aufgegangen, hatte sich dann aber aus ihm herausgeschält. Das hätte vielleicht auch Lermontov; nur ließ ihm das Schicksal nicht Zeit genug dazu. Die russische Kritik von früher erklärte ihn für einen sklavischen Nacharbeiter des englischen Dichters, so dass an ihm selber nichts Gutes übrig blieb; die heutige verfällt gerade in den entgegengesetzten Fehler, indem sie jede Anlehnung an Byron, auch an Lessing, Goethe, Schiller leugnet. Beides ist falsch, aber Lermontov bleibt bei aller Anlehnung doch ein großer Dichter.
Wie Byron mit Vorliebe seine Stoffe aus dem fernen Osten wählt, weil er dort noch die reine, unverfälschte Natur im Menschen sah, während ihn der Mensch seiner Umgebung anekelte, so geht Lermontovs „Korsar" 70) fort von der Heimat, zu den grauen Felsgestaden der Donau und dann weiter nach Griechenland und weiter, weiter zum wilden Meer; so führen alle seine „östlichen" Gedichte „Chadsi Abrek", „Ismael Bey", „Der Dämon", und das herrlichste von allen „Mzyri" in die wilden Berge des Kaukasus, nach Grusien 71).
„Ghadsi Abrek" ist der junge Kaukasier, der die Pflicht der Blutrache am Mörder seines Bruders erfüllen will und dabei entdeckt, dass der ihm auch seine Geliebte geraubt hat, die aber glücklich mit jenem ist. Da tötet er nicht ihn, sondern sie. „Ismael Bey" ist der junge Grusinier, der vom Vater nach Russland geschickt ist, dem aber Heimweh das Herz zersprengt; vergrämt, verzweifelt kehrt er unter unsäglichen Mühen und Drangsalen in den heimatlichen Aul (Dorf) zurück. Dem „Dämon" liegt die grusinische Sage von einem gefallenen Engel (d. i. der Dämon) zugrunde, der die georgische Fürstentochter Tamara liebt; der Überirdische zerstört das Glück der Irdischen, er trägt jedoch dafür die Schmerzen eines Irdischen. Und endlich „Mzyri" ist der von den Russen gefangene und in einem russischen Kloster erzogene Tscherkessenknabe, den, wie Ismael Bey, die Sehnsucht nach der Heimat packt. £r flieht und über reißende Gießbäche und tiefe Felsschluchten eilt er und durch Urwälder und über die nackten Höhen des Kaukasus, in sengender Mittagsglut und in der Eiseskälte der Nacht. Er sieht schon das heimatliche Dorf. Da stürzt plötzlich aus dem Dickicht ein Tiger, und ein wildes Ringen beginnt Er siegt, aber sinkt toderschöpft auf das Gras. Sein brechendes Auge blickt in den Bach. Da schwimmen die Fische herbei und ein goldschuppiger sieht ihn wehmutsvoll an.
„Mein eigen sei,
Mein Kind, bei mir bleib du:
Im Wasser ist das Leben frei,
Und hier ist Kühl' und Ruh.
Ich rufe meine Schwestern her:
Und Tanzesreih'n und Scherz
Klärt deinen Blick so kummerschwer,
Erfreut dein müdes Herz.
Schlaf’ Weich dein Bett bereitet steht,
Die Decke klar und rein,
Im süßen Traum die Zeit vergeht,
Die Welle wiegt dich ein!
Ich liebe dich, du junges Blut,
Dich mir zu eigen gib!
Bist mir wie frische Wasserflut,
Mir wie mein Leben lieb!“
Das ist Goethes „Fischer" und Goethes „Erlkönig". Lermontov kannte Goethe, Schiller, Lessing genau; das wird sich an seinen Dramen noch näher zeigen. Lermontov kannte auch Byron genau und hat sich gern an ihn angelehnt. Alle die eben gezeichneten Gestalten, wie auch ferner den „Bojaren Orscha" und den Träger der Handlung im Roman „Der Held unserer Zeit" sehen wir bei Byron im „Korsaren", im „Giaour", in „Lara", in der „Braut von Abydos“, im „Childe Harold" usw. Eine Kritik, die das leugnet, legt sich selber die Binde vor die Augen. Trotzdem ist er, wie gesagt, ein großer Dichter.
Ganz sein ist die eigenartige romantische Gestaltung des Stoffes und dann vor allem die die farbenprächtige Beschreibung der Naturschönheiten des Kaukasus und die lebenswahre, lebenstreue und doch in romantischem Lichte glänzende Zeichnung der Bergbewohner und ihrer Sitten.
Im Kaukasus spielt auch Lermontovs bestes Werk, sein Roman „Der Held unserer Zeit" (1839 — 1840). Der Held unserer Zeit ist ein Mann, wie ihn Lermontov nicht will, wie ihn aber das Russland seiner Zeit wollte. Der Träger der Handlung, Pjetschorin, ist Offizier, gesund, kräftig, klug, gewandt, aber innerlich hohl, ohne Herzensbildung, ein kalter Egoist, ein Genussmensch, der, um zu seinem Genuss zu kommen, weder die Ehre noch das Leben der andern — Weib oder Mann — schont. Pjetschorin ist in seiner Philosophie, seiner Lebensauffassung der Don Juan, der Junker Harold Byrons. Auch die Abenteuer, die er in seiner Kaukasusgarnison erlebt, ähneln denen Byrons; sie sind grausam, herzlos. Lermontov hat sich übrigens zum Teil in Pjetschorin selber porträtiert. Das alles würde abstoßen. Aber Lermontov will diese Fehler dadurch, dass er sie aufdeckt und offen bespricht, gerade brandmarken; er sitzt über ihnen wie über sich zu Gericht und verdammt sie. Das Schönste am Roman sind wieder die lebensvollen und lebenswarmen Naturschilderungen, das Lyrische. Die schönsten Stellen in allem, was Lermontov geschrieben hat, sind überhaupt die lyrischen.
Lermontovs vornehmstes Gebiet ist die Lyrik. Oben ist das tiefinnige, wehmutsvolle Liedchen aus „Mzyri" zitiert. Andere Kleinodien sind: aus seiner Frühzeit „Der Tod" (1830), „Der Engel" (1831); aus den späteren Jahren „Ein Gebet" (1837), „Die drei Palmen" (1839), „Die Wolken" (1840), „Das Kosakenwiegenlied" (1840), und die stolzen Verse, die der Bekenner und der Prophet der Romantik, im „Dichter" (1839) spricht:
„Wie schlugen einst der Sänger
klangmächt'ge Worte ein,
Entzündend zu der Glut des Kampfes!
Das Volk bedurfte ihrer
wie des Pokals zum Wein,
Wie beim Gebet des Opferdampfes.
Sie schwebten über ihm
gleichwie der Geist des Herrn,
Und zum Gebet, gleichwie zum Sturme
Der Schlacht, entflammten sie
Die Völker nah und fern
Wie Glockenklang vom hohen Turme.“
und im „Propheten" (1841):
„Mir, nach des Ew'gen Ratschluss, dort
Beugt sich die Kreatur der Erde —
Die Sterne horchen meinem Wort
Mit freudestrahlender Gebärde.“
Der nationale Dichter, zu dem sich Puschkin so kraft- und machtvoll hindurchgearbeitet hatte, leuchtet bei Lermontov nur selten hervor — die Zeit seines Ringens war, wie gesagt, zu kurz; aber die wenigen Gedichte, zwei, die er geschrieben, „Borodino“ (1831) und „Das Lied vom Zaren Iwan Wassiljewitsch, dem jungen Opritschnik und dem tapferen Kaufmann Kalaschnikov", sind Meisterwerke. Wie gewaltig hebt sich trotz der so einfachen, gemütlichen Einleitung und Einkleidung des Ganzen, trotzdem die Geschichte in der stillen Dämmerstunde am warmen Ofen im kleinen Zimmerchen erzählt wird, das Ringen der Heere bei Borodino heraus und wie strahlt trotz des Unglücks Russlands Größe! Und der Kaufmann Kalaschnikov, der so friedlich, ruhig alles hinnimmt, wie wird der mutig und entschlossen, als ihm die Ehre seiner Frau vom jungen Opritschnik angetastet ist! Russischer Gleichmut und russische Tapferkeit!
Lermontov ist kein Dramatiker; er konnte es gar nicht sein, weil seine Poesie Subjektivdichtung ist. Er hat jedoch ein paar Dramen geschrieben, Jugendwerke, die für uns eigentlich nur der russischen Kritik wegen Interesse erwecken. Er steht in diesen Dramen ganz auf deutschem Boden 72). Das sind seine „Spanier" (1830) und „Die zwei Brüder" (1830). „Die Spanier" beruhen aber nicht, wie die russische Kritik von heute noch immer annimmt, auf Schillers „Räubern" und „Kabale und Liebe", sondern auf Lessings „Nathan" und auf „Emilia Galotti", und die „zwei Brüder" beruhen nicht auf Schillers „Braut von Messina", sondern auf den „Räubern". Außer diesen beiden Stücken hat er noch ein Drama mit dem deutschen Titel „Menschen und Leidenschaften" (1830) verfasst, die Geschichte der traurigen Verhältnisse in seinem Elternhause, des Zerwürfnisses zwischen seinem Vater und seiner Mutter; und schließlich noch „Die Maskerade" (1834). Der Held der „Maskerade“ ist ein zweiter Dämon.
Lermontov hat bei uns in Deutschland sehr gute Aufnahme gefunden, größere und frühere als bei seinen Landsleuten. Schon 1840, also noch bei seinen Lebzeiten, gab Varnhagen unter dem Titel „Bela" einen Abschnitt aus „Dem Helden unserer Zeit" heraus. Es folgen dann Aufsätze über ihn, Übersetzungen einzelner Gedichte, bis 1853 der mit ihm befreundete Bodenstedt eine hervorragende Übersetzung eines großen Teils seiner Schöpfungen brachte). Freilich wird die Authentizität einiger von ihm gebrachter Gedichte von russischen Literarhistorikern bezweifelt. Lermontovs Werke sind auch ins Französische, Englische, Polnische, Serbische übersetzt. Heute, wo man in Russland den Wert seiner Dichtungen erkannt hat und ihn anders einschätzt als früher, ist die Literatur über ihn ins Ungeheure gestiegen 74).
Lermontov wird gewöhnlich als der bedeutendste Vertreter Byronscher Zerrissenheitspoesie, Byronschen Weltschmerzes hingestellt. Nicht mit Unrecht. Nicht allein ist ein Teil seiner Werke direkt nach Byron gearbeitet überhaupt der Geist seiner Dichtungen ist der Byrons, der düstere verzweiflungsvolle, zersetzende, alles Hohe verachtende und verhöhnende. Aber diesen Geist hat er nicht allein durch das Studium Byrons; er ist dadurch nur bestärkt worden; die Zerrissenheit, der Weltschmerz wäre über einen so stolzen, leidenschaftlichen Menschen, wie er war, auch ohne Byron gekommen. Den gaben ihm die Zustände in seinem Vaterland, die ganze Nikolaitische Zeit, die Verhältnisse, unter denen er lebte.
Lermontov hat nur ein kurzes, unruhiges Leben gelebt. Der in Moskau 1814 geborene Knabe verlor bald Mutter und Vater. Die sehr reiche und adelsstolze Großmutter verhätschelte ihn, so dass er hochmütig, eigensinnig, spottlustig wurde. Sehr befähigt kam er früh zur Universität, trat jedoch bald in ein Petersburger Gardehusarenregiment ein, wo er tolle, ausschweifende Jahre verlebte. Diesen Stempel trägt eine ziemlich große Zahl von Dichtungen jener Zeit: „Das Petershofer Fest", „Die Ulanin", „Die Frau des Kassierers". Das war aber nur die eine Seele in Lermontovs Brust — er lebte noch ein zweites Leben, fern von diesen Nichtigkeiten und Fadheiten, ein tief innerliches, tief ernstes, ein Leben, wo er sich mit den großen Denkern aller Kulturnationen beschäftigte,, mit Byron und Shakespeare, mit Lessing, Goethe, Schiller, mit Rousseau,. Voltaire und von den eigenen Landsleuten vor allen mit Puschkin. Eine tiefgehende Wendung rief daher der unter so tragischen Umständen erfolgte Tod Puschkins auf ihn hervor. Er feierte den Dichtergenius in einer Ode „Auf den Tod des Dichters" (1837), und in dieser Schober den Tod direkt der vornehmen Gesellschaft wegen ihrer ehr- und vernunftwidrigen Anschauungen und wegen der Verderbtheit ihrer Sitten zu. Mit dieser Ode war Lermontovs Dichtername bekannt, sein Dichterruf begründet.
Aber den jungen Leutnant traf die Strafe. Die entrüstete vornehme Gesellschaft setzte bei Nikolaus seine Versetzung nach dem Kaukasus durch. Für den Leutnant war das hart, für den Dichter von unendlichem Wert. Diesem Aufenthalt verdanken wir die schönsten Perlen seiner Poesie, die Schilderungen der Naturschönheiten des Kaukasus und der Sitten seiner wilden Völker, eine Naturmalerei, wie sie selbst Puschkin nicht gelungen ist. Lermontovs Großmutter, die sehr viel bei Hofe galt, brachte ihn zwar bald wieder nach Petersburg zurück; aber Lermontov neigte zum Spötteln und Höhnen, eine Folge seiner falschen Erziehung, und so kam es zu einem Duell zwischen ihm und dem französischen Gesandten. Er wurde wieder nach dem Kaukasus strafversetzt, kam wieder zurück, ging wieder dorthin, hatte wieder, aus ganz nichtigen Gründen, hier ein Duell und fiel darin, 27 Jahre alt (1841).
Lermontov ist, wie gesagt, Byron. Schon den Jungen sah man oft mit Byrons Gedichten unter dem Arm, und der junge Mann drapierte sich gern mit dem Byronschen Mantel. Auch Puschkin war in Byron aufgegangen, hatte sich dann aber aus ihm herausgeschält. Das hätte vielleicht auch Lermontov; nur ließ ihm das Schicksal nicht Zeit genug dazu. Die russische Kritik von früher erklärte ihn für einen sklavischen Nacharbeiter des englischen Dichters, so dass an ihm selber nichts Gutes übrig blieb; die heutige verfällt gerade in den entgegengesetzten Fehler, indem sie jede Anlehnung an Byron, auch an Lessing, Goethe, Schiller leugnet. Beides ist falsch, aber Lermontov bleibt bei aller Anlehnung doch ein großer Dichter.
Wie Byron mit Vorliebe seine Stoffe aus dem fernen Osten wählt, weil er dort noch die reine, unverfälschte Natur im Menschen sah, während ihn der Mensch seiner Umgebung anekelte, so geht Lermontovs „Korsar" 70) fort von der Heimat, zu den grauen Felsgestaden der Donau und dann weiter nach Griechenland und weiter, weiter zum wilden Meer; so führen alle seine „östlichen" Gedichte „Chadsi Abrek", „Ismael Bey", „Der Dämon", und das herrlichste von allen „Mzyri" in die wilden Berge des Kaukasus, nach Grusien 71).
„Ghadsi Abrek" ist der junge Kaukasier, der die Pflicht der Blutrache am Mörder seines Bruders erfüllen will und dabei entdeckt, dass der ihm auch seine Geliebte geraubt hat, die aber glücklich mit jenem ist. Da tötet er nicht ihn, sondern sie. „Ismael Bey" ist der junge Grusinier, der vom Vater nach Russland geschickt ist, dem aber Heimweh das Herz zersprengt; vergrämt, verzweifelt kehrt er unter unsäglichen Mühen und Drangsalen in den heimatlichen Aul (Dorf) zurück. Dem „Dämon" liegt die grusinische Sage von einem gefallenen Engel (d. i. der Dämon) zugrunde, der die georgische Fürstentochter Tamara liebt; der Überirdische zerstört das Glück der Irdischen, er trägt jedoch dafür die Schmerzen eines Irdischen. Und endlich „Mzyri" ist der von den Russen gefangene und in einem russischen Kloster erzogene Tscherkessenknabe, den, wie Ismael Bey, die Sehnsucht nach der Heimat packt. £r flieht und über reißende Gießbäche und tiefe Felsschluchten eilt er und durch Urwälder und über die nackten Höhen des Kaukasus, in sengender Mittagsglut und in der Eiseskälte der Nacht. Er sieht schon das heimatliche Dorf. Da stürzt plötzlich aus dem Dickicht ein Tiger, und ein wildes Ringen beginnt Er siegt, aber sinkt toderschöpft auf das Gras. Sein brechendes Auge blickt in den Bach. Da schwimmen die Fische herbei und ein goldschuppiger sieht ihn wehmutsvoll an.
„Mein eigen sei,
Mein Kind, bei mir bleib du:
Im Wasser ist das Leben frei,
Und hier ist Kühl' und Ruh.
Ich rufe meine Schwestern her:
Und Tanzesreih'n und Scherz
Klärt deinen Blick so kummerschwer,
Erfreut dein müdes Herz.
Schlaf’ Weich dein Bett bereitet steht,
Die Decke klar und rein,
Im süßen Traum die Zeit vergeht,
Die Welle wiegt dich ein!
Ich liebe dich, du junges Blut,
Dich mir zu eigen gib!
Bist mir wie frische Wasserflut,
Mir wie mein Leben lieb!“
Das ist Goethes „Fischer" und Goethes „Erlkönig". Lermontov kannte Goethe, Schiller, Lessing genau; das wird sich an seinen Dramen noch näher zeigen. Lermontov kannte auch Byron genau und hat sich gern an ihn angelehnt. Alle die eben gezeichneten Gestalten, wie auch ferner den „Bojaren Orscha" und den Träger der Handlung im Roman „Der Held unserer Zeit" sehen wir bei Byron im „Korsaren", im „Giaour", in „Lara", in der „Braut von Abydos“, im „Childe Harold" usw. Eine Kritik, die das leugnet, legt sich selber die Binde vor die Augen. Trotzdem ist er, wie gesagt, ein großer Dichter.
Ganz sein ist die eigenartige romantische Gestaltung des Stoffes und dann vor allem die die farbenprächtige Beschreibung der Naturschönheiten des Kaukasus und die lebenswahre, lebenstreue und doch in romantischem Lichte glänzende Zeichnung der Bergbewohner und ihrer Sitten.
Im Kaukasus spielt auch Lermontovs bestes Werk, sein Roman „Der Held unserer Zeit" (1839 — 1840). Der Held unserer Zeit ist ein Mann, wie ihn Lermontov nicht will, wie ihn aber das Russland seiner Zeit wollte. Der Träger der Handlung, Pjetschorin, ist Offizier, gesund, kräftig, klug, gewandt, aber innerlich hohl, ohne Herzensbildung, ein kalter Egoist, ein Genussmensch, der, um zu seinem Genuss zu kommen, weder die Ehre noch das Leben der andern — Weib oder Mann — schont. Pjetschorin ist in seiner Philosophie, seiner Lebensauffassung der Don Juan, der Junker Harold Byrons. Auch die Abenteuer, die er in seiner Kaukasusgarnison erlebt, ähneln denen Byrons; sie sind grausam, herzlos. Lermontov hat sich übrigens zum Teil in Pjetschorin selber porträtiert. Das alles würde abstoßen. Aber Lermontov will diese Fehler dadurch, dass er sie aufdeckt und offen bespricht, gerade brandmarken; er sitzt über ihnen wie über sich zu Gericht und verdammt sie. Das Schönste am Roman sind wieder die lebensvollen und lebenswarmen Naturschilderungen, das Lyrische. Die schönsten Stellen in allem, was Lermontov geschrieben hat, sind überhaupt die lyrischen.
Lermontovs vornehmstes Gebiet ist die Lyrik. Oben ist das tiefinnige, wehmutsvolle Liedchen aus „Mzyri" zitiert. Andere Kleinodien sind: aus seiner Frühzeit „Der Tod" (1830), „Der Engel" (1831); aus den späteren Jahren „Ein Gebet" (1837), „Die drei Palmen" (1839), „Die Wolken" (1840), „Das Kosakenwiegenlied" (1840), und die stolzen Verse, die der Bekenner und der Prophet der Romantik, im „Dichter" (1839) spricht:
„Wie schlugen einst der Sänger
klangmächt'ge Worte ein,
Entzündend zu der Glut des Kampfes!
Das Volk bedurfte ihrer
wie des Pokals zum Wein,
Wie beim Gebet des Opferdampfes.
Sie schwebten über ihm
gleichwie der Geist des Herrn,
Und zum Gebet, gleichwie zum Sturme
Der Schlacht, entflammten sie
Die Völker nah und fern
Wie Glockenklang vom hohen Turme.“
und im „Propheten" (1841):
„Mir, nach des Ew'gen Ratschluss, dort
Beugt sich die Kreatur der Erde —
Die Sterne horchen meinem Wort
Mit freudestrahlender Gebärde.“
Der nationale Dichter, zu dem sich Puschkin so kraft- und machtvoll hindurchgearbeitet hatte, leuchtet bei Lermontov nur selten hervor — die Zeit seines Ringens war, wie gesagt, zu kurz; aber die wenigen Gedichte, zwei, die er geschrieben, „Borodino“ (1831) und „Das Lied vom Zaren Iwan Wassiljewitsch, dem jungen Opritschnik und dem tapferen Kaufmann Kalaschnikov", sind Meisterwerke. Wie gewaltig hebt sich trotz der so einfachen, gemütlichen Einleitung und Einkleidung des Ganzen, trotzdem die Geschichte in der stillen Dämmerstunde am warmen Ofen im kleinen Zimmerchen erzählt wird, das Ringen der Heere bei Borodino heraus und wie strahlt trotz des Unglücks Russlands Größe! Und der Kaufmann Kalaschnikov, der so friedlich, ruhig alles hinnimmt, wie wird der mutig und entschlossen, als ihm die Ehre seiner Frau vom jungen Opritschnik angetastet ist! Russischer Gleichmut und russische Tapferkeit!
Lermontov ist kein Dramatiker; er konnte es gar nicht sein, weil seine Poesie Subjektivdichtung ist. Er hat jedoch ein paar Dramen geschrieben, Jugendwerke, die für uns eigentlich nur der russischen Kritik wegen Interesse erwecken. Er steht in diesen Dramen ganz auf deutschem Boden 72). Das sind seine „Spanier" (1830) und „Die zwei Brüder" (1830). „Die Spanier" beruhen aber nicht, wie die russische Kritik von heute noch immer annimmt, auf Schillers „Räubern" und „Kabale und Liebe", sondern auf Lessings „Nathan" und auf „Emilia Galotti", und die „zwei Brüder" beruhen nicht auf Schillers „Braut von Messina", sondern auf den „Räubern". Außer diesen beiden Stücken hat er noch ein Drama mit dem deutschen Titel „Menschen und Leidenschaften" (1830) verfasst, die Geschichte der traurigen Verhältnisse in seinem Elternhause, des Zerwürfnisses zwischen seinem Vater und seiner Mutter; und schließlich noch „Die Maskerade" (1834). Der Held der „Maskerade“ ist ein zweiter Dämon.
Lermontov hat bei uns in Deutschland sehr gute Aufnahme gefunden, größere und frühere als bei seinen Landsleuten. Schon 1840, also noch bei seinen Lebzeiten, gab Varnhagen unter dem Titel „Bela" einen Abschnitt aus „Dem Helden unserer Zeit" heraus. Es folgen dann Aufsätze über ihn, Übersetzungen einzelner Gedichte, bis 1853 der mit ihm befreundete Bodenstedt eine hervorragende Übersetzung eines großen Teils seiner Schöpfungen brachte). Freilich wird die Authentizität einiger von ihm gebrachter Gedichte von russischen Literarhistorikern bezweifelt. Lermontovs Werke sind auch ins Französische, Englische, Polnische, Serbische übersetzt. Heute, wo man in Russland den Wert seiner Dichtungen erkannt hat und ihn anders einschätzt als früher, ist die Literatur über ihn ins Ungeheure gestiegen 74).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte