Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828 — 1910)

§ 62. Auch Tolstoj 106) hebt sich weit heraus aus seiner Umgebung. In seiner literarischen Tätigkeit liegt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Dostojewskijs: beide haben einen lebendigen und tiefen Glauben an das Volk, der letztere denkt an das russische Volk, Tolstoj mehr an alle Arbeitenden auf dem ganzen Erdball.

Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoj wurde im Jahre 1828 auf dem Gute Jassnaja Poljana, im Gouv. Tula, geboren. Er verlor früh die Eltern und wurde durch ferne Verwandte erzogen. Er bezog die Universität Kasan und studierte orientalische Sprachen und die Rechtswissenschaft. Im Jahre 1851 trat er als Fähnrich in eine Artilleriebrigade, die am Tjerek stand. Unter dem Einfluss der großartigen Natur des Kaukasus und unter den Eindrücken des kriegerischen Lebens entstand hier eine Anzahl hübscher Erzählungen: ,,Der Überfall“, „Die Kosaken“, auch seine „Kindheit“ und sein ,,Knabenalter" (1851). Die beiden letzteren sind aber nicht autobiographisch, sondern als Wahrheit und Dichtung anzusehen. Autobiographie findet man viel eher in andern Erzählungen, in den „Kosaken" und den späteren „Luzern“ und „Krieg und Frieden“ In den Jugendwerken liegt schon im Keim die große Befähigung des Dichters für die Beschreibung von Natur und Mensch und seine spätere Weltauffassung. Im „Überfall“ wie in den „Kosaken“ ist die erhabene, mächtige Bergesnatur des Kaukasus, sind die Sitten und Gewohnheiten seiner Bewohner höchst anschaulich und lebenswahr gezeichnet, und wie in den „Kosaken“ ein junger, vornehmer Moskauer, angewidert von dem nutzlosen und verdorbenen Leben seiner Umgebung und von dem eigenen, zu den einfachen Naturkindern flieht, tun hier körperlich und moralisch zu gesunden, so ist im „Überfall" der leitende Gedanke, dass der einfache, ungekünstelte Naturmensch hoch über der Verbildung und der Verfeinerung steht.


Im Anfang des Krimkrieges ging Tolstoj als Offizier zur Donauarmee und nahm an der Belagerung von Ssewastopol teil; von seinen „Kriegserzählungen" tragen drei den Titel „Ssewastopol“. Die Stärke dieser Erzählungen beruht, ebenso wie die der vorhergehenden, nicht auf dramatischen Effekten; es tritt uns das gewöhnlichste, alltäglichste Leben entgegen, aber dies ist wahrheitsgetreu und lebendig gezeichnet, immer unter dem Gesichtspunkt, die moralische Kraft des einfachen russischen Soldaten, des russischen Volkes hervorleuchten zu lassen.

Nach Beendigung des Krimkrieges wünschte und erhoffte jeder Gebildete in Russland eine Reform der unerträglich gewordenen Zuständen und auch Tolstoj war von dieser Hoffnung beseelt und suchte persönlich durch Vorträge, durch Zeitungsartikel ihre Verwirklichung herbeizuführen; er glaubte also zu dieser Zeit noch an eine Allgemeinbesserung, noch an eine Gesundung auch der sog. besseren Kreise. Sehr bald setzte aber die andere Auffassung ein, jener schärfste Skeptizismus, der vor nichts haltmacht.

Diese Weltauffassung tritt schon sehr stark hervor in den beiden Erzählungen „Aus den Kaukasusmemoiren des Fürsten Njechludov“ und in „Luzern“, Früchten seiner Reise ins Ausland. Er war, nach erhaltenem Abschied aus der Armee, 1857 in dem Gedanken fortgereist, Erholung aus den trostlosen Verhältnissen der Heimat, die nach dem Krimkrieg um so stärker auf jedermann drückten, in der Kultur und dem Fortschritt des Westens zu suchen. Aber die Reise hatte den entgegengesetzten Erfolg; er hatte dort neben dem äußeren Glanz zu viel Unwissenheit, Unsittlichkeit, Barbarei gewahrt. So entwickelte sich sein Skeptizismus. Beide Erzählungen sollen die Dürftigkeit aller Zivilisation zeigen, sie predigen das Zurück zur Natur, zum einfachen Menschen, zum Volke. Der Fürst Njechludov sucht wie Tolstoj Trost und Heilung seiner Seele im Wissen und in der Kultur des Westens — vergeblich — -, er findet sie erst bei den einfachen Kosaken und in ihrer großartigen Natur. Und in „Luzern" beweist Tolstoj, dass die dortige Zivilisation nicht die richtige ist. Sehr schön ist auch hier die Beschreibung der Alpen.

Wenn im Anfang der sechziger Jahre für das ganze gebildete Russland Volkserziehung eines der beliebtesten Losungsworte wurde, bei dem sich freilich die meisten recht wenig dachten, so wurde es für Tolstoj die augenblickliche Lebensaufgabe. Er reiste wiederum ins Ausland, studierte dort gründlich das Erziehungswesen und errichtete nach seiner Rückkehr in Jassnaja Poljana selbst eine Schule. Er gab auch ein pädagogisches Journal „Jassnaja Poljana" heraus, das bei Pädagogen wie in der Gesellschaft Aufsehen hervorrief. Tolstoj will eine „nützliche" Wissenschaft: keine alten Sprachen, vor allem Charakterbildung. Die sog. Aufklärungslektüre, die damals sehr beliebt war, verwirft er; für den einfachen Mann genügt Lesen, Schreiben, Rechnen.

Durch seine Heirat 1862 mit der Tochter eines Moskauer Arztes kommt für ihn die Zeit der Ruhe, der inneren Sammlung. Er verlässt Jassnaja Poljana selten und dann nur auf kurze Zeit. Er studiert Geschichte und Sozialwissenschaften, letztere besonders in praktischer Anwendung. Er wird nach und nach Bauer mit seinen Bauern, Handwerker mit seinen Handwerkern; er verzichtet auf alle Äußerlichkeiten, will jenen ganz gleich sein.

In der Geschichte interessierten ihn die Napoleonischen Kriege. So entstand seine große Erzählung „Krieg und Frieden", erschienen im „Russischen Boten" von 1865 — 1869, künstlerisch sein bestes Werk.

„Krieg und Frieden" bietet nicht allein ein wahrheitsgetreues und schönes Bild des „vaterländischen Krieges" (1812), — der Brand Moskaus, die Schlacht bei Borodino sind meisterhaft beschrieben, Napoleon, Barclay, Kutusov meisterhaft charakterisiert — , sondern malt auch vorzüglich das gesellschaftliche und private Leben der vornehmen Gesellschaft im Anfang des 19. Jahrhunderts. Interessant, wenn schon etwas seltsam, ist die Philosophie des Romans. Tolstoj ist, kurz ausgedrückt, Fatalist; die Vorherbestimmung ist sein Glaubenssatz: Für Napoleon und seine Heere war es unabänderliche Schicksalsbestimmung, in Russland einzufallen, um dort unterzugehen. Konsequent ist er freilich in dieser Philosophie nicht.

In den siebziger Jahren erschien ein anderer großer Roman „Anna Karjenina". Er ist nur die weitere Ausarbeitung des schon 1859 geschriebenen „Häuslichen Glückes". Die Frau findet durch Verschulden des Mannes keine Befriedigung in ihrer Ehe; sie wird durch einen andern angezogen, aber ihre Moral trägt den Sieg davon. So das „Häusliche Glück". In „Anna Karjenina" (1874 — 1876) gehen beide Ehegatten mehr durch gegenseitige Erkältung als durch ein besonderes Verschulden auseinander. Hauptaufgabe des Romans sind aber auch hier wieder die Lebensweise und die Lebensanschauungen der vornehmen Gesellschaft, diesmal im Vergleich zu der Armut des Volks: die sozialpolitische Seite tritt also in den Vordergrund. Des Dichters Züge trägt im Roman eine der Hauptgestalten, Konstantin Ljowin, wie in „Krieg und Frieden" Andrej und Pierre. Konstantin vertritt nicht nur theoretisch die Tolstojsche Philosophie, sondern sucht auch praktische Bande mit dem Volk; er arbeitet wie dieses auf dem Felde und sieht in dieser Arbeit die einzig zweckmäßige des Menschen; er will auch jeden Luxus von sich werfen, weil das Volk keinen Luxus kennt; er ist religiös wie dieses. Tolstoj kämpft hier scharf gegen den Unglauben, gegen den Atheismus. „Der normale Mensch kann nicht ohne Religion leben."

Tolstojs dritter großer Roman ist „Die Auferstehung" (1899). Auch er ist ein Meisterwerk der Milieuschilderung, der Kleinmalerei der äußeren Welt wie des inneren Seelenlebens. Vor allem kommt es dem Dichter aber auf die moralische Tendenz an. Der Held ist Graf Njechludov — wir kennen ihn schon aus den „Kaukasusmemoiren" — , der für das büßt (aufersteht), was er als Sünde erkannt hat; die übrige vornehme Welt geht freilich daran mit Achselzucken vorüber: er hat ein Mädchen aus dem Volke verführt und sühnt nun die Schuld, indem er in die Lebenssphäre des Mädchens, das selber den Fehltritt gar nicht so schlimm ansieht, ihm auch keineswegs treu ergeben ist, hinabsteigt, sich ihr überall anschließt und ihr selbst nach Sibirien folgt, wohin sie unter dem falschen Verdacht eines Diebstahls verurteilt ist.

Tolstoj schrieb außer diesen großen Romanen eine ganze Reihe kleinerer und größerer Erzählungen; jetzt sind in seinem Nachlass noch neue gefunden. Sie alle zeichnen sich durch realistische Einfachheit aus und sind Geist vom Geiste dieser größeren Werke. Dahin gehört vor allem „Der Tod des Iwan Iljitsch" (1885), dann die kraftvolle, lebensprühende Novelle „Der Teufel" und die gedankentiefe Priestergeschichte „Pater Sergius".

Der Roman ist Tolstojs hervorragendstes Arbeitsfeld. Großartig in der Milieuzeichnung wie in der Tendenz ist aber auch eine Anzahl Dramen. Allen voran steht auch die bei uns sehr bekannte Tragödie „Die Macht der Finsternis" (1887), ein düsteres Gemälde aus dem Volksleben mit Ehebruch, Gatten- und Kindesmord. Auf den ersten Blick scheint es, als ob er seiner Anschauung vom sittlichen Wert des einfachen Mannes untreu geworden wäre, denn au dies Entsetzliche spielt sich auf dem Lande, im niederen Volk ab — aber worauf führt er es zurück? Auf die Macht der Finsternis, d. h. die Unwissenheit, den Mangel an Herz- und Kopfbildung, und das ist die Schuld der Vornehmen, die das Volk in dieser Not verkommen lassen.

Etwas später ist seine lustige Satire auf die Gesellschaft „Die Früchte der Aufklärung" (1891) entstanden. Hier sind ganz köstliche Gesellschafts- und Volkstypen. Aber das Stück hinterlässt kaum einen nachhaltigen Eindruck. Desto tiefer wirkt das erst aus dem Nachlass gewonnene Drama „Der lebende Leichnam". Der „lebende Leichnam" ist ein Mensch, nicht böse, aber ein Nichtstuer, ein Trinker, der einsieht, dass seine Frau glücklicher mit einem andern leben kann. Da das russische Gesetz eine Scheidung verbietet, verbreitet er das Gerücht, dass er sich tötete, und so heiraten die beiden andern. Aber durch üble Genossen bestimmt, tritt er plötzlich wieder auf, und die beiden Unschuldigen sollen nun nach russischem Gesetz nach Sibirien verschickt, ihre Ehe soll für ungültig erklärt werden. Da erschießt er sich. Die Tendenz des Stückes liegt in dem Kampf gegen die orthodoxe Kirche.

Ein anderes Drama, gleichfalls erst aus dem Nachlass ans Licht gekommen, ist „Das Licht leuchtet in der Finsternis", eine Kopie seines Familienlebens mit dem Arbeiter und Handwerker Tolstoj, der bei den eigenen Familienmitgliedern recht wenig Verständnis findet. Ebenfalls im Nachlass befindet sich noch ein Drama „Petrus der Zöllner".

Was hat nun Tolstoj in Deutschland so bekannt gemacht? Weder seine Romane noch seine Dramen, und doch liegt in ihnen, besonders in den ersteren, seine ganze Stärke. Viel bekannter ist er bei uns durch seine sozial-ethischen Schriften und Erzählungen, durch seine „Beichte" (1879 verfasst, 1882 erschienen), seinen „Glauben", durch „Was ist das Glück?", durch ,,Die Kreuzersonate", durch „Wandelt im Licht!" usw. usw. Er bringt in ihnen seine Weltanschauung, wie er sie durch theologische Studien, durch die Auslegung der Bibel, des Evangeliums gewonnen hat. Es sind das interessante Gedanken über die Moral des Lebens, über die Bestimmung des Menschen, über die Pflichten unseren Nächsten gegenüber, über die Aussöhnung unseres inneren Zwiespalts zwischen Wirklichkeit und Ideal mit Hilfe der christlichen Religion. Selbstverständlich liegt in allen diesen Gedanken, besonders in ihrer Ausführung, in der Art, wie er spricht, manches Packende, Überzeugende, mancher Lichtstrahl, auch sind sie für Russland mit seiner verknöcherten Kirche originell, für uns aber doch nicht. Dass für sie bei uns solch Tamtam geschlagen wird, ist eigentlich bedauerlich, setzt es doch die Person des Dichters zurück und das ist Tolstoj vorwiegend; der Denker steht erst in zweiter Linie. Auch der Kult, den man bei uns mit seinem Sichentäußern von allem irdischen Gut, mit seinem Leben als Bauer und Handwerker treibt, ist übertrieben. Es muss offen ausgesprochen werden, dass er in mancher Beziehung — man denke auch an sein Verwerfen Shakespeares, weil dieser unsittlich und unreligiös sei — ein Sonderling war und dass er durch sein sonderbares Treiben niemandem genützt, auch zu niemand in nähere Beziehungen gekommen ist. Man braucht gar nicht von seiner eigenen Familie zu sprechen. Seine Bauern sind gerade die ersten gewesen, die in den revolutionären Unruhen die Hand an seine Besitzungen gelegt und alles zerstört und geraubt haben.

Das alles lässt aber seinen Dichterruhm unangetastet. Ebenso bleibt sein Charakter. Er hat es in allem ehrlich gemeint und ist für seine Überzeugung mit einem für Russland ungeheuren Wagemut eingetreten. Es ist für einen Russen, selbst für ihn nicht so einfach gewesen, als er im Jahre 1891 vom Heiligen Synod exkommuniziert wurde. Er ist in der Exkommunikation gestorben, 1910. Der Hass der Kirche hat noch über das Grab hinaus gedauert; sie hatte den ältesten Sohn wegen der Herausgabe seiner letzten satirischen Broschüre „Die Wiederherstellung der Hölle" angeklagt.

Tolstojs letzte Tage, die Flucht aus dem Hause und von der Familie, die Streitigkeiten, die sich in der Familie untereinander und dann zwischen dieser und seinem Jünger und „Verführer" Wladimir Tschertkov, dem er die Herausgabe seiner Werke anvertraut hatte, entwickelten, die daraus entspringenden langjährigen Prozesse werfen unangenehme Flecken auf das Gesamtbild. Im Jahre 19 15 war endlich alles so weit durch das Gericht geregelt, dass sein gesamter handschriftlicher sehr großer Nachlass dem Rumjanzov-Museum als separates Tolstoj-Museum, unter Oberaufsicht seiner Frau, einverleibt war. Es sollen darunter sehr wertvolle literarische Korrespondenzen z. B. mit Gontscharov, Njekrassov, Grigorowitsch sein. Die Schriften über Tolstoj gehen ins Maßlose.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte