Katharina II. — Petersburg und Moskau

§ 22. Peters III. Regierung war zu kurz gewesen, um Spuren zu hinterlassen: was Elisabeth begünstigt hatte, wurde natürlich verdammt, und umgekehrt. So rückten die Deutschen wieder in den Vordergrund, und die französischen Schauspieler verschwanden. Aber die liebende Gattin ließ ihm zur Durchführung seiner Ideen keine Zeit: nach sechsmonatlicher Regierung war er ermordet.

Die deutsche Katharina (1762 — 1796) stieg auf den Thron und damit eine ausgesprochene Franzosenfreundin. Ihre Vorliebe für Diderot, Grimm, Voltaire sind bekannt. Sie vergalten es ihr ja reichlich. Grimms Glaubensbekenntnis: Je crois en Cathérine, unique quoique seconde, et en sa bonté consubstantielle et incarnée avec elle, je crois aussi en son saint esprit soll witzig sein, ist aber wegen seiner Speichelleckerei wohl eher widerlich. Dass Katharina die Deutschen nicht liebte, ist ebenso bekannt, wenn auch ihre Antwort auf die Frage nach ihrem Befinden, als sie zur Ader gelassen war: „Es geht jetzt besser; das letzte deutsche Blut ist fort" mehr für den Augenblick und für die betreffende Person zurecht gemacht war. Katharina II. war vor allem eine kluge Frau, und so hütete sie sich sehr die philosophisch-aufklärerischen-freiheitlichen Ideen ihrer Freunde bei den Russen in die Praxis umzusetzen; sie konnte mit solchen Genüssen ja liebäugeln, für andere war es nicht. Katharina las mit dem größten Eifer Diderot, Giimm, Voltaire, sie las mit demselben Eifer Wieland, Zimmermann, Nicolais „Allgemeine deutsche Bibliothek" und äußerte sich: „Die teudeske Literatur lässt die ganze übrige Welt weit hinter sich und marschiert mit Riesenschritten". Diese Popularphilosophie schien ihr für die Erziehung und Bildung des Volks doch praktischer als die auf den Umsturz hinauslaufende Philosophie der Franzosen.


Es ist richtig, dass sich zwischen den beiden Hauptstädten eine Trennung vollzog; in der alten blieb der deutsche Einfluss geltend, in der neuen entschied man sich für den französischen — ein allgemein menschlicher Zug: da die alte Hauptstadt dies tat, musste die neue jenes tun. Dass sich aber Katharina für den französischen restlos eingesetzt hätte, geht zu weit; sie nahm das Gute, wo sie es bekam.

Die Erziehung blieb auch in Petersburg den Deutschen. An der Universität bzw. Akademie lagen, wenn auch an ihrer Spitze Russen standen, die Hauptfächer nach wie vor in den Händen von Deutschen. Zu den schon früher genannten Namen von Bayer, Euler, Schlözer, Pallas kommen neue: der aus Rügen stammende Rechtslehrer Gadebusch, der eine neue Prozessordnung für Russland entwarf und die Frage der Leibeigenschaft anschnitt; der Historiker Bacmeister — er hat Lomonossovs „Russische Geschichte“ ins Deutsche übertragen — ; die Nationalökonomen Friebe und Storch, Für das medizinische Studium errichtete Katharina die Kalikin-Schule, an der die Unterrichtssprache Deutsch war. Der als Arzt wie als Dichter gleich berühmte J. G. von Zimmermann vermittelte den Eintritt vieler deutscher Ärzte in russische Dienste. Die großartigen Wasserverbindungen im Reiche haben der österreichische Baumeister Joh. Konrad Gerhard und der Balte Graf Jakob Joh. Sievers geschaffen. Die befähigten jungen Russen schickte Katharina nach Göttingen, Leipzig, Königsberg, und um die furchtbare Unwissenheit des niederen Volkes zu heben, richtete sie Volksschulen ein. Sie trat zu dem Zweck mit Basedow in Verbindung und wollte, dass er nach seinem „Philanthropin“ ähnliche Institute, „Katharineums“, schaffe. Zur Besiedlung der Wolgagebiete rief sie deutsche Herrnhuter, zur Besiedlung Südrusslands deutsche Mennoniten herbei; eine ganze Reihe von Städten im Gouvernement Ssaratov und in Ssamara weisen auf deutschen Ursprung hin: Aargau, Zug, Luzern.

Katharina verschmähte es nicht selber Lehrmeisterin zu sein 36). Sie war schriftstellerisch außerordentlich tätig, und diese Tätigkeit war zum guten Teil wieder auf deutscher Grundlage aufgebaut. Sie hat zur Volkserziehung eine ganze Anzahl Dramen geschrieben. Unter ihnen sind mehrere nach Shakespeare 37) gearbeitet „Wie gut es ist, einen Waschkorb und Wäsche zu haben" ist Shakespeares „Lustige Weiber"; ihre historischen Stücke „Aus dem Leben Ruriks" und „Der Regierungsanfang Olegs" sind „eine Nachahmung Shakespeares", d. h. seines „König Johann"; ihr „Verschwender" ist eine Überarbeitung von „Timon von Athen". Und auf Shakespeare war sie durch Eschenburg gekommen. Unter ihrer Regierung hatte sich die Freimaurerei stark ausgebreitet, so stark, dass sie ihr eine Gefahr für den Staat schien; außerdem hatte der angebliche Graf Cagliostro, ein Betrüger schlimmster Sorte, die ganze vornehme Gesellschaft in seinen Bann geschlagen. Durch die Komödien „Der Betrüger" (1785), „Der Betrogene" (1785), „Der sibirische Schaman" (1786) ergoss sie ihren Spott über ihn und seine Anhänger; zugleich enthielten sie Warnungen für die Freimaurer. Die drei Lustspiele sind auch ins Deutsche übersetzt, und das erste ist in Hamburg oft aufgeführt worden. Katharina hat noch viele Stücke, Tragödien, Komödien, Opern, Singspiele geschrieben; sie selber verfasste sie deutsch oder französisch und ließ sie dann ins Russische übersetzen; ihre eigenen russischen Kenntnisse waren nur mäßig.

Katharinas „Nakas" (1767) sind der neuen Zeit angepasste Ausführungsbestimmungen zum alten Ukas (Gesetz). Der Nakas ist entnommen aus Montesquieu, Beccaria, Voltaire und aus Friedrichs des Großen „Antimachiavel"; die Form hat dem Buch Graf Sievers gegeben.

In anderen Ländern waren Monatsschriften sehr beliebt geworden. Russland hatte auch schon solche gehabt; der Historiker Müller und Ssumarokov hatten in den Fünfzigerjahren mehrere herausgegeben. Katharina griff von neuem dies Volkserziehungsmittel auf. Sie beteiligte sich selber an der Wochenschrift „Verschiedenes Allerlei" (1769), die mit ihrem erzieherischen Inhalt allerdings dem russischen geistigen Standpunkt stark angepasst war: „Du sollst dich täglich kämmen". Erst spätere Zeitschriften wie Nowikovs „Drohne" und „Maler" hoben diese Art der Literatur auf einen den übrigen europäischen Ländern ebenbürtigen Standpunkt.

Zunächst nur für ihre Enkel ausgearbeitet, dann auch für die Allgemeinheit bestimmt war ihre „Bibliothek", ein großes Unterrichtswerk, auf Locke und Basedow aufgebaut. Katharina schrieb bisweilen gut; ihre „Kindermärchen", besonders das „Märchen vom Prinzen Chlor" sind hübsch.

So hat Katharina mittelbar und unmittelbar regen Anteil an der russischen Literatur. Bei allem ist sie außerordentlich mit dem Kopf beteiligt, wenig mit dem Herzen. Es war bei ihr, hierin wie in ihrem ganzen Tun, das meiste auf den äußeren Schein eingestellt; die „Potjomkinschen Dörfer" sprechen ja eine beredte Sprache, und trotz ihrer Aufgeklärtheit dauerten auch unter ihrer Regierung die entsetzlichsten Folterungen und Qualen der politisch Verdächtigen fort. Dass gegen Katharina auch nach und nach eine sehr bedeutende Opposition auftrat, wird sich bald zeigen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte