Karamsin (1766 — 1826)

§ 27. Wenn man Lomonossov den ersten russischen Gelehrten nennen kann, so ist Karamsin der erste russische Literat. Mit der Literatur hatte sich vor ihm schon dieser und jener beschäftigt, da war es aber etwas Nebensächliches gewesen, ein Zeitvertreib. Mit Karamsin wird sie Beruf. Als Literaten lagen ihm die Sprache wie ihre Schöpfungen gleichviel am Herzen; er ist in beiden der Reformator Russlands geworden. Kommt noch ein drittes Gebiet hinzu, sozusagen ein Spezialgebiet: Karamsins Bedeutung als Historiker.

Lomonossov hatte die russische Sprache von den Slawenismen befreit und die russische Volkssprache gefordert. Daraus hatte sich etwas Sonderbares entwickelt: man gebrauchte die Volkssprache, sobald es sich um gewöhnliche, alltägliche Gefühle und Gedanken handelte; erhoben sich diese über die Alltäglichkeit, so glaubte man auch von der Alltagssprache Abstand nehmen zu müssen und kehrte zu der feierlichen alten Sprache der Bibel zurück. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Fonwisin. Fonwisin in seinen Komödien, Satiren und Briefen ist ein anderer als Fonwisin in seinen Übersetzungen aus dem Französischen; in den ersteren schreibt er russisch, in den Übersetzungen ist die Sprache eine gemischte, sein Stil unnatürlich, schwülstig. Karamsin hat nun gelehrt und in seinen Schriften durchgeführt, stilistisch und lexikalisch, dass die Schriftsprache die der mündlichen Rede, d. h. der Rede des Gebildeten sein muss: einfach und zugleich leicht, gefällig, fließend.


Mit Karamsin tritt zugleich eine bedeutende Wendung in der russischen Literatur ein. Es hatte zwei Richtungen gegeben: die deutsche und mehr im Vordergrund die französische. Mit Karamsin beginnt der Kampf gegen den französischen Pseudoklassizismus, gegen die raison Voltaires, und die Franzosen verlieren ihre überragende Macht. An die Stelle tritt die Empfindung, der Sentimentalismus. Der Sentimentalismus ist eingeführt durch Karamsins ,,Briefe eines russischen Reisenden“ und seine Romane, beide aus deutscher Anregung hervorgegangen, aus deutschem Geiste geboren.

Karamsin (1766 — 1826) ist wohl von allen russischen Schriftstellern der deutscheste gewesen. Der Vater, ein Landedelmann im Gouvernement Ssimbirsk, hatte dem Kinde einen deutschen Erzieher gegeben, ihn dann in Moskau in eine deutsche Pension geschickt. Als Moskauer Student hörte er hauptsächlich deutsche Vorlesungen, philosophische über Gellert, literarische über Gottsched, verkehrte er in den deutschgesinnten Freimaurerkreisen, schloss er mit dem „Stürmer und Dränger" Lenz einen Freundschaftsbund. Er sprach und schrieb ausgezeichnet deutsch. ,,Ich lese nicht viel in meiner Muttersprache. Wir sind noch arm an Schriftstellern." Er war außerordentlich vertraut mit Gellert, mit Geßner, Haller, Kleist; unter den Zeitgenossen liebte er den „Zürcher Propheten, den großen Mann und Christen" Lavater, und Lenz wies ihn auf Kant, Wieland, Herder, Schiller — nicht auf Goethe; die verletzte Eitelkeit gestattete das Lenz nicht.

Auf Lenz’ 47) Zureden und mit der von ihm ausgearbeiteten Reiseroute machte sich Karamsin 1789 auf den Weg und schrieb seine „Briefe eines russischen Reisenden" 48). Er reiste in Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich, England. Seine „Briefe" sind ein Lobgesang auf Deutschlands Geistesheroen; selbst als er in Paris weilt und dort den ganzen Tag über französische Kunst und Literatur in sich geschlürft hat, liest er abends Schiller.

Karamsin ist ein Jünger von Deutschlands „Sturm“ d. h. der einen Seite des Sturms, der sentimentalen, empfindsamen. Damit stimmt sehr wohl überein, dass der junge Karamsin, also der Schreiber der „Briefe", für Geßner, für Bodmer, für Haller schwärmt, und als bei seinem Aufenthalt in Weimar Herder ihn fragt, wen er denn von den deutschen Dichtern am meisten liebe, er antwortet: „Klopstock“. Die empfindsame Richtung des „Sturms" stand auf der Seite dieser — man denke an den Maler Müller oder an Joh. Heinrich Voß, die ihre Idyllen auf Geßner aufbauten. Die empfindsame Richtung des „Sturms" schwärmt auch für die Engländer Sterne, Young, Thomson, Milton, für Fingal, Ossian, vor allen aber für Goethes „Werther". Für sie schwärmt gleichfalls Karamsin. Der „Sturm" hat als Ideal Rousseau, weil dieser fort will vom Treiben der Welt in den Schoß der Natur. So Karamsin.

Karamsin hat nun etwa kein Verständnis für den Sturm im „Sturm". Den Stürmer Schiller, nicht den späteren abgeklärten Schiller, liebt er. Bei der Lektüre von „Fiesko" schreibt er in seinen „Briefen": „Welche Kraft in den Gefühlen! Welche Malerei in der Sprache! Fiesko hat stärker auf mich gewirkt als ,Don Carlos', obgleich ich diesen auf dem Theater sah und obgleich ihm die Kritik den Vorzug gibt." Und, wie gesagt, in Paris erholt er sich des Nachts, wenn er Corneille und Racine gesehen hat, an Schillers Jugenddramen.

Damit ist auch seine Stellung zu den Franzosen, zum französischen Pseudoklassizismus gekennzeichnet. „Die französische Tragödie ist erhaben, edel, majestätisch, aber nie rührt sie, nie erschüttert sie mein Herz wie die Muse Shakespeares und einiger, nicht vieler Deutschen. Die französischen Dichter haben einen feinen, zarten Geschmack, und in der Kunst zu schreiben können sie als Vorbild dienen. Nur in der Erfindung, Wärme, im tiefen Naturgefühl — verzeiht mir, geheiligte Schatten Corneilles, Racines, Voltaires — müsst ihr den Engländern und den Deutschen nachstehen. Eure Tragödien sind voll von schönen Bildern, in denen sehr geschickt Farbe zu Farbe, Schatten zu Schatten getan ist; aber ich bewundere sie zum großen Teil mit kaltem Herzen. Überall mischt sich das Natürliche mit dem Romanhaften, überall mes feux, ma foi, überall Griechen und Römer à la française, die in verliebtem Entzücken verschmelzen, bisweilen philosophieren und einen einzigen Gedanken in langen Tiraden ausspinnen und sich in dem Labyrinthe der Beredsamkeit verlieren und zu handeln vergessen." Das ist ja alles das, was Lessing und nach ihm die Stürmer angriffen, und weswegen sie gerade Shakespeare zum Vorbild nahmen — wie Karamsin. Karamsins Begeisterung für Shakespeare setzte sich in die Tat um durch seine Übersetzung von „Julius Cäsar" (1787), dem beliebtesten Stück der „Stürmer" — in der Vorrede greift er den „großen Sophisten" Voltaire als den obersten Vertreter des französischen Rationalismus sehr scharf an. Sein Interesse für Lessing schuf die Übersetzung von „Emilia Galotti".

Der sentimentale Gedanke des „Sturms“ ist das Vorwiegende in Karamsins Stimmung. Der lässt uns auch seine Wertschätzung von Ifflands Familienbildern und seine Achtung vor Kotzebue erklären. Wir dürfen ihn deshalb nicht als blinden Bewunderer Deutschlands einschätzen; er hat häufig ein scharfes Urteil über unsere Schwächen gefällt. Andrerseits ist es auch Zeit, unsere Meinungen über Iffland und Kotzebue etwas zu revidieren, sie zu betrachten, ohne dass man Goethe und Schiller als Gradmesser nimmt. Der Anfang dazu ist jetzt endlich beim 100. Todestag Kotzebues gemacht 49).

Auch seine Verehrung für Wieland — Karamsin hat mit scharfem Auge Wielands größtes Verdienst sofort erkannt, seine komischen Erzählungen, durch die wir ja in Deutschland eigentlich erst einen Roman haben — spricht nicht gegen sein Bekennen zum „Sturm“; einer der bedeutendsten, vielleicht der „schlimmste“ Stürmer Wilhelm Heinse war ein Schüler Wielands und Verehrer des klassischen Altertums.

Den besten Beweis für seine Zugehörigkeit zum sentimentalen „Sturm“ geben seine Romane, worüber besonders zu sprechen sein wird (§ 29).

Es ist noch ein häufig auftretender Irrtum zu beseitigen, seine „Briefe“ seien durch Sternes „Sentimental Journey“ veranlasst worden. Natürlich wird er hieran auch gedacht haben; aber ehe er Sterne kannte, hatte ihm schon Lavater angeraten, ein „Tagebuch“ anzulegen, und denselben Gedanken hatte er bei Nicolai, der in den Moskauer Freimaurerkreisen sehr bekannt und beliebt war, in dessen „Beschreibung einer Reise durch Deutschland“ ausgeführt gesehen. Und nicht nur der äußere Rahmen ist deutschen Ursprungs, auch viele Betrachtungen Karamsins sind direkt aus deutschen Werken entnommen, so die Betrachtungen über Berlin und Potsdam aus Nicolais „Berlin und Potsdam“, die Betrachtungen über englische Sitten und Gebräuche teils aus Moriz' „Reisen eines Deutschen in England“, teils aus dem unmittelbar vor seiner Reise (1787) erschienenen „England und Italien“ von J. W. Archenholz.

Karamsins Beruf nach seiner Rückkehr von der Reise war der des Kritikers; als Dichter nimmt er eine untergeordnetere Position ein. Zur Verfechtung und zur Förderung der von ihm in den „Briefen“ niedergelegten Ansichten ist er außerordentlich tätig gewesen. Er gab von 1791 bis 1801 eine Reihe von Zeitschriften heraus 27), „das Moskauer Journal“, „die Aglaja“, „die Aonidyj“, das „Ausländische Pantheon“, „das Pantheon russischer Autoren“.

Nach 1801 wandte er sich, mitbestimmt durch die Schreckensherrschaft der Zensur — das Schicksal seines Freundes Nowikov stand ihm ja lebhaft genug vor Augen — , der Geschichte zu, und damit sind wir zu dem dritten Gebiete gelangt, auf dem seine Bedeutung liegt.

Man hatte im 18. Jahrhundert in Russland historische Denkmäler herausgegeben, aber nachlässig, voll Fehler, und ohne jede Kritik. Dasselbe betrifft das geographische Gebiet. Tatischtschev und Schtscherbatov hatten in ihren russischen Geschichten schon gewissenhafter gearbeitet; aber von pragmatischer Forschung findet man auch bei ihnen nur wenig. Die findet man zuerst bei Schlözer, der jedoch die russische Geschichte natürlich vom deutschen Standpunkt aus ansah. Diese Mängel will Karamsins „Geschichte des russischen Staates“ (II Bde.; der letzte von Bludov, 1816 — 1829) beseitigen. Das ganze Werk zeigt den Schüler Plattners; der Gesichtspunkt, unter dem er alle Handlungen sieht, ist der des Moralischen, verbunden mit Patriotismus 50).

Karamsin wurde 1803 zum Reichshistoriographen ernannt. Er starb 1826.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte