Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821 — 1881)
§ 61. In den Rahmen aller dieser Zeitrichtungen passt nicht Dostojewskij, nicht etwa, weil er nicht realistisch geschrieben hätte, sondern weil bei ihm über dem Realismus die Mystik und die Romantik schweben, weil für ihn die reale Welt sich aus ihrem Elend nur durch die Flucht in den Himmel der Mystik und der Romantik erlösen kann. Er fällt auch aus dem Rahmen der andern durch seine überragende Bedeutung heraus.
Dostojewskijs Werke erklären sich zum großen Teil aus dem elterlichen Hause; sein Vater gehörte zum geistigen Proletariat Russlands, er war am städtischen Krankenhaus in Moskau Arzt, der mit der zahlreichen Familie in zwei Zimmern wohnen musste.
Fedor Michailowitsch Dostojewskij 105) wurde im Jahre 1821 geboren. Die Erziehung des Knaben war religiös. Dieses religiöse Gefühl macht eine bedeutende Eigenart seines poetischen Talents aus. Nach der Übersiedlung des Vaters aus Moskau nach Petersburg kam der junge Mann in die Ingenieurschule, wo er viele Bücher las: Goethe, Schiller, E. T. A. Hoffmann und die Franzosen Corneille, Racine, Viktor Hugo, Balzac, George Sand. Er wurde ein glühender Verehrer Schillers; die Frucht dieser Verehrung war eine „Maria Stuart", die aber ebenso wie ein anderes Drama dieser Zeit „Boriss Godunov" nicht erhalten blieb. In seine späteren Werke hat sich allerdings nur wenig von Schillers Idealismus und Humanismus hinübergerettet.
Er trat dann ins Heer, nahm aber schon 1844 seinen Abschied, um sich der Literatur zu widmen. Anfangs übersetzte er Romane, dann verfasste er selber 1846 den Roman „Arme Leute“, eine Beschreibung des Beamtenproletariats in Petersburg, das er im elterlichen Hause sehr genau kennen gelernt hatte. Der Roman entzückte Bjelinskij.
Eine Reihe anderer folgte, alle in den „Vaterländischen Annalen“ veröffentlicht: „Die Wirtin" (1847), „Das schwache Herz", „Die fremde Frau", „Der eifersüchtige Mann" (1848).
Da wurde er 1849 wegen Teilnahme an den Versammlungen des Petraschewskijschen Kreises verhaftet und zum Tode verurteilt. Nachdem der schon nervenschwache junge Mann die ganze Zeremonie, die einem Erschießen voranging, durchgemacht hatte, wurde plötzlich die Begnadigung verkündet, und er nach Sibirien verbannt Man kann sich hiernach nicht wundern, dass er Zeit seines Lebens Epileptiker gewesen ist, was bei der Beurteilung seiner Werke außerordentlich in Betracht gezogen werden muss. Die Erlebnisse in Sibirien zerrütteten seine Nerven weiter. Seine „Memoiren aus dem Totenhaus" bringen Bilder von dem, was in Omsk seine Mitsträflinge und er duldeten; es hat ihn dort nur sein tief religiöses Gefühl aufrecht erhalten. Nach zehn Jahren durfte er nach Petersburg zurückkehren.
Er griff wieder zur Feder und gab nun mit seinem Bruder die Zeitschrift „Die Zeit" heraus. In ihr wurden gleichzeitig „Die Memoiren aus dem Totenhaus" (1861 — 1862) und ein anderer Roman „Die Gekränkten und Beleidigten" veröffentlicht. „Die Gekränkten und Beleidigten" sind der Analyse eines niedergedrückten und gestörten Gemüts gewidmet. Dostojewskij konnte sich tief in die Leiden und in die Gedankenwelt eines solchen kranken Menschen hineindenken, war er doch selber Psychopath.
Die Zeitschrift wurde jedoch bald wegen eines Aufsatzes über die polnische Frage verboten. Der kranke Dichter litt nun unter Geldmangel; auch seine schwindsüchtige Frau, die er aus Sibirien mitgebracht hatte, die Witwe eines Gefangenenaufsehers, kostete viel. So ging er denn teils zur Erholung, teils um den Gläubigern zu entfliehen, ins Ausland, nach Paris, nach London, wo er mit Herzen zusammentraf, nach Genf.
Er kehrt zurück, und neues Unglück häuft sich auf ihn. Die Frau stirbt; sein Bruder, mit dem er eine zweite Zeitschrift „Die Epoche" herausgab, stirbt auch; die Zeitschrift geht ein. Er flieht wieder, geht nach Wiesbaden und — verspielt sein letztes, geborgtes Geld. Er eilt wieder nach Russland. Dieser Zeit gehören die Romane „Der Spieler", die „Memoiren aus dem Keller", vor allen aber „Verbrechen und Strafe" (1866), sein bestes, allerdings unvollendetes Werk, an.
Der Gedanke zu „Verbrechen und Strafe" war wohl schon in Sibirien entstanden. Der Held des Romans Rasskolnikov will seine Mutter und Schwester unterstützen; er tötet deswegen eine alte Wucherin. Die Hauptaufgabe der Erzählung ist die Analyse der seelischen Leiden des Verbrechers vor dem Morde und nach Vollendung des Mordes. Obwohl ihm das Werk großen Erfolg, auch pekuniären, brachte, besserte sich seine Lage nur wenig, und er war gezwungen, sehr viel zu schreiben, zu viel.
Bemerkenswert aus der Folgezeit sind die Romane „Der Idiot (1868), „Die Dämonen" (1871), „Das Tagebuch eines Schriftstellers (1876).
In den „Dämonen" tritt uns der Politiker Dostojewskij entgegen. Der Revolutionär von 1849 hatte sich inzwischen zum extremen Slawophilen entwickelt. Er bekämpft in „den Dämonen" mit schärfsten Waffen, mit leidenschaftlichem Hasse — was Dostojewskij tut, tut er immer ganz — die unheilvollen Wortführer (Dämonen) des Nihilismus. Das
Buch hat ihm unter der revolutionären, selbst unter den Liberaldenkenden bittere Feindschaft zugezogen; noch heute vergeben es ihm manche Kreise nicht. Dostojewskij war bei der aufrichtigsten Frömmigkeit ein Fanatiker, der alles Heil nur in der von ihm als richtig erkannten Sache erblickte, der, weil er Russland liebte, die andern Völker hasste, der fest daran glaubte, dass die westliche Welt nur durch das russische Volk gesunden könne.
Großes, sehr großes Aufsehen erregte dann wieder neben der Rede, die er 1880 in Moskau bei Enthüllung des Denkmals für Puschkin (er feierte den Volksdichter Puschkin) hielt, der Roman „Die Brüder Karamasov". Die Karamasovs sind eine reiche Gutsbesitzerfamilie, allesamt Verbrecher; der Vater ist ein Betrüger und moralischer Schmutzfink; die drei Söhne werden seine Mörder, nur geht der, welcher den Mord wirklich vollzieht, frei aus, während der am wenigsten Beteiligte vom Gericht verurteilt wird. Das ist der äußere Rahmen des sehr großen Romans. Den wirklichen Inhalt bilden religiöse Fragen, Fragen nach Gott und Unsterblichkeit, Gedanken, die zeigen sollen, wie weit wir uns vom wahren Glauben entfernt haben. Das exemplifiziert der Dichter am besten dadurch, dass er Christus noch einmal zur Erde niederkommen und ihn vor den Großinquisitor zitieren lässt, und der Großinquisitor verurteilt ihn wegen seiner Irrlehren zum Verbrennungstod. Gemeint hat Dostowjeskij mit dem spanischen Großinquisitor den Vertreter des Heiligsten Synod seiner Kirche. Er dachte noch an eine Fortsetzung des Romans, starb aber darüber, 1881.
Alle Werke Dostojewskijs stellen nur die traurigen Seiten des Lebens dar. Ihr Gegenstand ist die große Stadt mit ihren engen Straßen und schmutzigen Kellern und Winkeln. Er kennt ausgezeichnet das Spelunkenleben, das Leben der Sträflinge und der vom Schicksal Gezeichneten. Seine Hauptstärke liegt in der Seelenanalyse, in der Verlegung der seelischen Leiden der Menschen. Er will Mitgefühl für den Kranken, Schwachen, Hilfsbedürftigen, Verzweifelten, mag er noch so niedrig, so verkommen sein. ,,Der vergessenste letzte Mensch ist auch ein Mensch und nennt sich dein Bruder", sagt er in den „Beleidigten und Gekränkten", wohl nach Viktor Hugos „Les misérables". Ebenso will er uns aber zurückstoßen von dem krassen Materialismus und Egoismus, wie er sich in den Karamasovs offenbart.
Dostojewskijs Werke erklären sich zum großen Teil aus dem elterlichen Hause; sein Vater gehörte zum geistigen Proletariat Russlands, er war am städtischen Krankenhaus in Moskau Arzt, der mit der zahlreichen Familie in zwei Zimmern wohnen musste.
Fedor Michailowitsch Dostojewskij 105) wurde im Jahre 1821 geboren. Die Erziehung des Knaben war religiös. Dieses religiöse Gefühl macht eine bedeutende Eigenart seines poetischen Talents aus. Nach der Übersiedlung des Vaters aus Moskau nach Petersburg kam der junge Mann in die Ingenieurschule, wo er viele Bücher las: Goethe, Schiller, E. T. A. Hoffmann und die Franzosen Corneille, Racine, Viktor Hugo, Balzac, George Sand. Er wurde ein glühender Verehrer Schillers; die Frucht dieser Verehrung war eine „Maria Stuart", die aber ebenso wie ein anderes Drama dieser Zeit „Boriss Godunov" nicht erhalten blieb. In seine späteren Werke hat sich allerdings nur wenig von Schillers Idealismus und Humanismus hinübergerettet.
Er trat dann ins Heer, nahm aber schon 1844 seinen Abschied, um sich der Literatur zu widmen. Anfangs übersetzte er Romane, dann verfasste er selber 1846 den Roman „Arme Leute“, eine Beschreibung des Beamtenproletariats in Petersburg, das er im elterlichen Hause sehr genau kennen gelernt hatte. Der Roman entzückte Bjelinskij.
Eine Reihe anderer folgte, alle in den „Vaterländischen Annalen“ veröffentlicht: „Die Wirtin" (1847), „Das schwache Herz", „Die fremde Frau", „Der eifersüchtige Mann" (1848).
Da wurde er 1849 wegen Teilnahme an den Versammlungen des Petraschewskijschen Kreises verhaftet und zum Tode verurteilt. Nachdem der schon nervenschwache junge Mann die ganze Zeremonie, die einem Erschießen voranging, durchgemacht hatte, wurde plötzlich die Begnadigung verkündet, und er nach Sibirien verbannt Man kann sich hiernach nicht wundern, dass er Zeit seines Lebens Epileptiker gewesen ist, was bei der Beurteilung seiner Werke außerordentlich in Betracht gezogen werden muss. Die Erlebnisse in Sibirien zerrütteten seine Nerven weiter. Seine „Memoiren aus dem Totenhaus" bringen Bilder von dem, was in Omsk seine Mitsträflinge und er duldeten; es hat ihn dort nur sein tief religiöses Gefühl aufrecht erhalten. Nach zehn Jahren durfte er nach Petersburg zurückkehren.
Er griff wieder zur Feder und gab nun mit seinem Bruder die Zeitschrift „Die Zeit" heraus. In ihr wurden gleichzeitig „Die Memoiren aus dem Totenhaus" (1861 — 1862) und ein anderer Roman „Die Gekränkten und Beleidigten" veröffentlicht. „Die Gekränkten und Beleidigten" sind der Analyse eines niedergedrückten und gestörten Gemüts gewidmet. Dostojewskij konnte sich tief in die Leiden und in die Gedankenwelt eines solchen kranken Menschen hineindenken, war er doch selber Psychopath.
Die Zeitschrift wurde jedoch bald wegen eines Aufsatzes über die polnische Frage verboten. Der kranke Dichter litt nun unter Geldmangel; auch seine schwindsüchtige Frau, die er aus Sibirien mitgebracht hatte, die Witwe eines Gefangenenaufsehers, kostete viel. So ging er denn teils zur Erholung, teils um den Gläubigern zu entfliehen, ins Ausland, nach Paris, nach London, wo er mit Herzen zusammentraf, nach Genf.
Er kehrt zurück, und neues Unglück häuft sich auf ihn. Die Frau stirbt; sein Bruder, mit dem er eine zweite Zeitschrift „Die Epoche" herausgab, stirbt auch; die Zeitschrift geht ein. Er flieht wieder, geht nach Wiesbaden und — verspielt sein letztes, geborgtes Geld. Er eilt wieder nach Russland. Dieser Zeit gehören die Romane „Der Spieler", die „Memoiren aus dem Keller", vor allen aber „Verbrechen und Strafe" (1866), sein bestes, allerdings unvollendetes Werk, an.
Der Gedanke zu „Verbrechen und Strafe" war wohl schon in Sibirien entstanden. Der Held des Romans Rasskolnikov will seine Mutter und Schwester unterstützen; er tötet deswegen eine alte Wucherin. Die Hauptaufgabe der Erzählung ist die Analyse der seelischen Leiden des Verbrechers vor dem Morde und nach Vollendung des Mordes. Obwohl ihm das Werk großen Erfolg, auch pekuniären, brachte, besserte sich seine Lage nur wenig, und er war gezwungen, sehr viel zu schreiben, zu viel.
Bemerkenswert aus der Folgezeit sind die Romane „Der Idiot (1868), „Die Dämonen" (1871), „Das Tagebuch eines Schriftstellers (1876).
In den „Dämonen" tritt uns der Politiker Dostojewskij entgegen. Der Revolutionär von 1849 hatte sich inzwischen zum extremen Slawophilen entwickelt. Er bekämpft in „den Dämonen" mit schärfsten Waffen, mit leidenschaftlichem Hasse — was Dostojewskij tut, tut er immer ganz — die unheilvollen Wortführer (Dämonen) des Nihilismus. Das
Buch hat ihm unter der revolutionären, selbst unter den Liberaldenkenden bittere Feindschaft zugezogen; noch heute vergeben es ihm manche Kreise nicht. Dostojewskij war bei der aufrichtigsten Frömmigkeit ein Fanatiker, der alles Heil nur in der von ihm als richtig erkannten Sache erblickte, der, weil er Russland liebte, die andern Völker hasste, der fest daran glaubte, dass die westliche Welt nur durch das russische Volk gesunden könne.
Großes, sehr großes Aufsehen erregte dann wieder neben der Rede, die er 1880 in Moskau bei Enthüllung des Denkmals für Puschkin (er feierte den Volksdichter Puschkin) hielt, der Roman „Die Brüder Karamasov". Die Karamasovs sind eine reiche Gutsbesitzerfamilie, allesamt Verbrecher; der Vater ist ein Betrüger und moralischer Schmutzfink; die drei Söhne werden seine Mörder, nur geht der, welcher den Mord wirklich vollzieht, frei aus, während der am wenigsten Beteiligte vom Gericht verurteilt wird. Das ist der äußere Rahmen des sehr großen Romans. Den wirklichen Inhalt bilden religiöse Fragen, Fragen nach Gott und Unsterblichkeit, Gedanken, die zeigen sollen, wie weit wir uns vom wahren Glauben entfernt haben. Das exemplifiziert der Dichter am besten dadurch, dass er Christus noch einmal zur Erde niederkommen und ihn vor den Großinquisitor zitieren lässt, und der Großinquisitor verurteilt ihn wegen seiner Irrlehren zum Verbrennungstod. Gemeint hat Dostowjeskij mit dem spanischen Großinquisitor den Vertreter des Heiligsten Synod seiner Kirche. Er dachte noch an eine Fortsetzung des Romans, starb aber darüber, 1881.
Alle Werke Dostojewskijs stellen nur die traurigen Seiten des Lebens dar. Ihr Gegenstand ist die große Stadt mit ihren engen Straßen und schmutzigen Kellern und Winkeln. Er kennt ausgezeichnet das Spelunkenleben, das Leben der Sträflinge und der vom Schicksal Gezeichneten. Seine Hauptstärke liegt in der Seelenanalyse, in der Verlegung der seelischen Leiden der Menschen. Er will Mitgefühl für den Kranken, Schwachen, Hilfsbedürftigen, Verzweifelten, mag er noch so niedrig, so verkommen sein. ,,Der vergessenste letzte Mensch ist auch ein Mensch und nennt sich dein Bruder", sagt er in den „Beleidigten und Gekränkten", wohl nach Viktor Hugos „Les misérables". Ebenso will er uns aber zurückstoßen von dem krassen Materialismus und Egoismus, wie er sich in den Karamasovs offenbart.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte