Die französische und die deutsche Richtung. — Die Freimaurerei. — Djershawin

§ 23. Katharina stand also, sofern ihr die Deutschen nicht nützen konnten, auf französischer Seite, und mit ihr viele Gebildete; der französische esprit, die Voltairesche raison haben ja auch heute noch Anziehungskraft, und zwar berechtigte. Diese Richtung konzentrierte sich, wie gesagt, in Petersburg. Das Bild bleibt jedoch unvollkommen, wenn man nun von Moskau sagen wollte, man sei dort im alten deutschen Geleise geblieben. Im Gegenteil, gerade die Jugend Moskaus rührte sich außerordentlich, freilich wieder in deutscher Richtung. Aber diese war auch im Heimatlande eine andere geworden. Man war dort den Franzosen entgegengetreten und hatte sie aus dem Felde geschlagen. In Moskau rüstete sich jetzt die Jugend gleichfalls dazu. Mit an erster Stelle hat hierzu die Freimaurerei beigetragen.

Die Freimaurerei 88) hat nur kurze Zeit in Russland existiert, von 1771 bis 1794 und dann von 1802 bis zu ihrer endgültigen Schließung wegen „revolutionärer Umtriebe“ im Jahre 1822. Ihr haben in dieser kurzen Zeit auch noch viele Schlacken, viel Missgunst, Neid, Zank angehaftet. Aber ihre Grundgedanken waren edel: Sittliche Hebung des einzelnen, Nächstenliebe, Opfersinn. Die Freimaurer kämpften für sittliche Werte, für höhere Güter gegenüber dem Materialismus und Atheismus. An der Spitze der Moskauer Freimaurer 39) stand der aus Deutschland stammende Professor Schwarz, der sowohl durch seine moralphilosophischen Vorlesungen über Spinoza und Rousseau als auch durch seine Vorträge über englische und deutsche Literatur im Sinne der „Sentimentalität“ außerordentlichen Einfluss auf die jungen Studenten ausübte und sie, „ohne dass sie es recht merkten“, von der materialistischen Seite zu der Gefühlsphilosophie Rousseaus hinüberzog.


Mit ihm eng befreundet und sein Nachfolger in der Führung war der Deutschenfreund N. J. Nowikov (1744 — 1818), ein Organisationstalent ersten Ranges. Der frühere Voltairianer und Ismailovsche Offizier, der die Palastrevolution für Katharina mitgemacht hatte, war, unbefriedigt in seinem Beruf und in seinem Voltairianismus, zu den Freimaurern übergegangen und hatte sich dann, als er durch Schwarz Gewissensruhe gefunden, ganz in ihren Dienst gestellt. Seine philanthropische Tätigkeit ist geradezu großartig in ihrer Art: er richtete Volksschulen, Krankenhäuser, Apotheken, Buchdruckereien ein. Er gründete literarische Gesellschaften („Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft"), Zeitschriften, erst die freimaurerische „Das Morgenlicht“, dann satirische Blätter „Die Drohne" (1769) und „Die Maler" (1773). Breitingers „Diskurse der Maler" hatten ihm den Titel und Inhalt gegeben. Seine Bücher wie seine Zeitschriften propagieren die deutsche Geschmacksrichtung gegenüber dem französischen Pseudoklassizismus. Nowikov wurde auch Herausgeber der „Moskauer Nachrichten" 27).

Nowikov hat sich sehr große Verdienste um das leibliche wie das geistige Wohl des russischen Volkes erworben, was nicht hinderte oder was vielmehr dazu beitrug, dass er wegen „revolutionären Treibens" 4V2 Jahre in Schlüsselburg strengste Kerkerhaft hatte.

Von diesen beiden Männern aus ergoss sich ein Strom der Bildung unter die studierende Jugend wie überhaupt unter die Gebildeten. Mit ihnen verkehrten auf das engste der junge Karamsin, dann Kutusov, der Übersetzer des „Messias", Labsin, der Übersetzer von Jung-Stilling, J. Turgenjev, Lopuchin u. a. Ein sehr anschauliches Bild der bewegten freimaurerischen Zeit gibt Tolstoj in seinem „Krieg und Frieden".

Nowikov ist auch sonst für die russische Literatur 40) von Bedeutung gewesen. Er ist der erste in Betracht kommende Bibliograph. Sein „Versuch eines historischen Wörterbuchs über die russischen Schriftsteller" ist in Anbetracht des vor ihm existierenden wenig zuverlässigen Materials höchst anerkennenswert. Ähnliches will seine „Historische Bibliothek".

Die Moskauer Jugend rührte sich, wie gesagt. Zunächst lernte sie aber noch. So gehen denn einstweilen noch beide Richtungen nebeneinander her.

§ 24. Französisch gerichtet sind die jetzt in die Erscheinung tretenden literarischen Zirkel, die Salons. Nach französischem Muster gebildet, kultivierten sie französische Sprache und Literatur, schlossen aber keineswegs das Deutsche aus. Ja, im Salon des Fürsten Lwov waren die tonangebenden Persönlichkeiten die Deutschenfreunde Djershawin und Chemnizer, und im Salon der Fürstin Daschkowa, der ersten, langjährigen Präsidentin der auf ihre Anregung 1783 gegründeten „Russischen Akademie", verkehrte sogar Radischtschev. Die Daschkowa war offenbar eine kluge, gebildete Frau; dass sie aber Präsidentin der Akademie wurde, war eine Dankesabtragung von Seiten Katharinas, da sie durch ihre Koketterie den General Panin zur Beseitigung Peters geködert hatte. Sie gehörte offenbar zur französischen Gemeinde, sie machte neben russischen Versen gern französische. Aber bei Eröffnung der Akademie hob sie ostentativ hervor, dass sie sich als Präsidentin „unter den Schutz des blinden Vaters der Mathematik" Euler stelle. Sie schickte mit Vorliebe die jungen Studenten nach Göttingen, und mit Djershawin gründete sie die Zeitschrift „der Gesellschafter". Als ihr Katharina „befahl", ein Drama zu verfassen, schrieb sie zu Kotzebues ,,Armut und Edelsinn" eine Fortsetzung „Die Hochzeit des Fabian" oder „Die bestrafte Geldgier".

Auf französischem Boden steht der als Dramatiker seiner Zeit sehr geschätzte Fonwisin (1745 — 1792). Berühmt wurde er durch die beiden satirischen Lustspiele „Der Brigadier" (1764) und „Der Unerwachsene" (1782) — gewöhnlich „Der Landjunker" betitelt. Beide Stücke geißeln die Sittenrohheit, Unbildung und Scheinhelligkeit seiner Landsleute, ihre falsche Erziehung nach französischem Muster, und das Nachäffen französischer Sitten. Das lässt ihn zunächst nicht als Anhänger der Franzosen erscheinen, aber sein scharfes Auge und sein schärfer Verstand konnten unmöglich an diesen Gebrechen seiner Zeit vorbeigehen. Französisch ist doch sein ganzer Gedankenkreis; auch die Sprache lässt den Französling erkennen. Damit ist nun keineswegs gesagt, dass er das Deutsche nicht gekannt oder gar verachtet hätte. Er stammte von Deutschen ab, vom alten Rittergeschlecht „von Wiesen", das zum Orden der Schwertbrüder gehört hatte ; er war auch deutsch erzogen — Reichel war sein Universitätslehrer in Moskau gewesen. Französischen Geist atmet offenbar sein satirisches Journal „Der Freund der ehrenwerten Leute“, aber in diesem ist z. B. der Briefwechsel zwischen dem Gutsbesitzer Durykin und Starodum, in dem es sich um die Wahl eines Lehrers für Gutsbesitzerkinder handelt, weiter nichts als eine Überarbeitung aus Rabeners satirischer Schrift ,,Schreiben eines vom Adel an einen Professor, in welchem einen guten Hofmeister zu wählen gebeten wird“ und ,,Antwort des Professors nebst zwo Taxen von einem geschickten und elf ungeschickten Hofmeistern".

In französischer Richtung laufen auch die Tragödien und Komödien Knjashnins (1742 — 1794). Seine besten Tragödien „Jaropolk und Wladimir" und ,,Wladissan" sind Kopien, die erstere von Racines „Andromache", die zweite von Voltaires „Mérope". Ganze Szenen, ganze Akte sind einfach Übersetzungen. Man brauchte ihn deshalb gar nicht zu erwähnen, wenn die Stücke nicht doch einen Vorzug gegen die Vorzeit aufwiesen: ihre Sprache ist reiner, ihr Vers glatter. Aber sonst sind sie abgesehen von den Namen französisch, fern von der russischen Wirklichkeit, von der Wirklichkeit überhaupt; ebenso sind seine Komödien „Der Prahler", „Der Sonderling".

Näher der Wirklichkeit, weil russische Leute und russische Verhältnisse herausgreifend, steht Kapnist (1757 — 1823)Seine Komödie „Ränke" (1798) geißelt die Bestechlichkeit und die Verleumdung, die im russischen Gericht herrschte. Die Anlage des Stückes ist jedoch französisch. Es rief übrigens die heftigste Erbitterung der Beamten hervor und durfte lange nicht gegeben werden.

Bei den Russen hatten sich mittlerweile alle Arten der Poesie eingeführt; eine fehlte noch — das Epos. Bei allen übrigen Völkern hatte es seine Triumphe gefeiert, bei den Italienern Tassos „Befreites Jerusalem", bei den Engländern Miltons „Verlorenes Paradies", bei den Franzosen „Die Henriade", bei den Deutschen „Der Messias". Fehlte noch Russland. Lomonossov hatte sich darin versucht, war aber in seinem „Peter der Große“ nicht über zwei Gesänge hinausgekommen. Cherasskov (1733 — 1807) wählte die „Rossiade" (1779), die den Höhepunkt in der Geschichte Russlands, die Eroberung Kasans durch Iwan IV., verherrlichen soll. Der Titel ist pompös gewählt, der Stoff minimal. Was Cherasskov wollte? Seine Herrscherin Katharina II. rückte die „östliche Frage" d. h. die Vertreibung der Türken aus Europa in den Vordergrund, und da wollte sich der Patriot und Christ empfehlen, indem er seine Kaiserin und ihre Pläne mit der großen Vergangenheit in Zusammenhang brachte. Sonderbar war ja, dass der Befreier vom tatarischen Joch gar nicht Iwan IV. gewesen, sondern 100 Jahre vorher Iwan III. Trotzdem hat sich „die Rossiade" in jener Zeit Ansehen erworben; selbst Karamsin nennt sie ein hervorragendes Werk. Weshalb sie gefiel? Weil man damals den Bombast, das Gespreizte, das Fremde, kurz die ganze Unnatur des Pseudoklassizismus liebte, und pseudoklassisch ist sie; Iwan IV. und seine Fürsten und seine Heerführer sind gar keine Russen, die Tataren keine Tataren, sondern griechische oder trojanische Helden oder französische Ritter.

Cherasskov hat noch ein Epos „Wladimir“ (1785) geschrieben, das von Wladimir dem Großen, der das Christentum in Russland eingeführt hat, handelt — es hat wenig Anklang gefunden, weil es den Grundgedanken des Epos verletzt: es erzählt zu wenig, bringt zu wenige historische Ereignisse, bewegt sich dafür in allegorischen Betrachtungen.

Cherasskov schrieb noch Oden, Anakreontika, Erzählungen nach französischem Vorbild. Er war jedoch keineswegs ein Deutschenhasser. Als Kurator der Moskauer Universität zog er die Deutschen heran; Schwarz und Nowikov waren durch ihn berufen.

Einen durchschlagenden Erfolg hatte dagegen ein anderes Epos „Duschenka“ von Hippolit Bogdanowitsch (1743 — 1803), nur eine Umarbeitung der Lafontaineschen „Psyche“, jedoch auf russischen Boden versetzt. Aber wie der Franzose mit der alten Fabel des Apulejus seinen Erfolg dadurch erzielt hatte, dass er alles auf französischen Boden brachte und auf französische Verhältnisse übertrug, so ist „Duschenka“ eine russische Märchenprinzessin, und russische Verhältnisse reden zu uns, und wenn wir nun noch hinzufügen, dass sein Vers sich frei macht von allen „Regeln", dass sein scherzender Ton ein natürlicher ist, dass die Bilder sich an unsere Phantasie und an unser Gefühl wenden, dann haben wir trotz der französischen Grundlage die deutsche Richtung. Vom heutigen Standpunkt aus mag sein Werk ja anmuten, als „tanze jemand Menuett in Bauernstiefeln“, aber den Zeitgenossen gefielen die Verse mit ihren wechselnden Reimen und der wechselnden Silbenzahl, die Befreiung von Steifheit und Schwulst.

§ 25. Und damit sind wir zur Deutschrichtung gekommen. Von Bedeutung ist hier Chemnizer (1744[1745] — 1784), besonders als Fabeldichter. Chemnizer war von Geburt Deutscher; seine Eltern stammten aus dem sächsischen Freiberg, in dem Lomonossov studiert hatte. Seine „Fabeln und Erzählungen" (1779) sind ein Muster von einfacher und natürlicher Sprache. Er ist ganz Gellert. Schon der Titel seines Buches ist dem Gellertschen nachgebildet, und unter seinen 30 Fabeln sind 18 direkt aus Geliert genommen, und von den übrigen lehnt sich auch noch ein Teil an ihn an; so ist sein „Bauer mit der Last" Gellerts „Reisende" und sein „Schlaukopf" Gellerts „Hans Nord". Einige klingen an Lafontaine an. Chemnizers Fabeln sind satirisch-lehrhaft. Die Satire trat damals sehr in den Vordergrund; es war eben trotz der katharineischen Tünche manches faul im Staate.

Die Fabel ist immer in Russland eine sehr beliebte Dichtung gewesen. Kantjemir, Tredjakowskij, Ssumarokov, Lomonossov hatten Fabeln geschrieben. Auch W. J. Majkov (1725 — 1778), der sonst als Übersetzer von Friedrichs des Großen Gedichten bekannt ist, auch im komischen Epos mit etwas obszönem Einschlag nicht Unbedeutendes leistet, war ein guter Fabeldichter, ebenso J. J. Dmitrijev (1760 — 1837), der spätere Justizminister; aber Chemnizer übertraf diese bei weitem durch seinen klaren, ungezwungenen, natürlichen, dem Volksdenken genau angepassten Ausdruck. Nach ihm kam allerdings ein noch Größerer, Krylov.

Chemnizer hat neben Fabeln auch Festoden, Satiren, Epigramme geschrieben, ohne besonderen Wert.

Chemnizers Fabeln waren beliebt wegen ihrer Satire. Kritik und Satire beherrschen, wie gesagt, diese ganze Zeit. Nur mussten sie zahm sein; sonst traf der Blitzstrahl, wie er den alle diese Leute überragenden Radischtschev traf.

Radischtschev 41) (1750 — 1802) ist sehr berühmt, auch sehr bedauernswert gewesen. Seine Berühmtheit brachte ihm sein Todesurteil ein, gnädigst ersetzt durch Verschickung nach Sibirien, der Transport natürlich in Ketten; und der Aufenthalt dort war für ihn so entsetzlich gewesen, dass er, als nach seiner Begnadigung durch Paul I. sein Vorgesetzter ihm im Scherz mit einer abermaligen Verbannung nach Sibirien drohte, er sofort zum Gift und zum Rasiermesser griff. Er war einer von jenen jungen Leuten gewesen, die Katharina zum Studium nach Leipzig geschickt hatte; er hatte sich dort an Gellert und an den sehr beliebten Professor der Philosophie Plattner angeschlossen; Gellert legte er seine literarischen Versuche vor. Radischtschevs Aufsehen erregendes Werk, die Quelle seines Ruhms und seines Unglücks, war die 1790 erschienene „Reise von Petersburg nach Moskau ", dem Titel nach unverfänglich, dem Inhalt nach die schwerste Anklage gegen die russische Justiz, gegen die russische Regierung, gegen die vornehme Gesellschaft, gegen die verrotteten Zustände im ganzen Reich; auch die Leibeigenenfrage wird scharf angeschnitten, der Verkauf ganzer Bauernfamilien, das ius primae noctis der Herren usw. Man hat früher gesagt, wohl durch Puschkin falsch geleitet, Radischtschev habe seine Ansichten einerseits auf den Franzosen aufgebaut, andrerseits sei sein Werk, wie schon der Titel zeige, eine Nachbildung von Sternes „Sentimental Journey“. Diese äußere Anlehnung an Sterne stimmt allerdings, aber eben nur die äußere, sonst hat die neuere Kritik gefunden, dass seine Äußerungen über Glaubensduldung, seine Verteidigung der Glaubensfreiheit, seine Auffassung vom Staatsgebilde, von wirklicher Kultur nur Widerspiegelungen der Gedanken Plattners waren. Und seine Äußerungen über die Zensur zeigen ein genaues Studium von Herders Forderungen betreffend die Freiheit des Druckwortes. Die Gräfin Daschkowa sah darin auch „Nachwirkungen“ von Klopstock.

Ebenso wie sein Hauptwerk aus deutschem Boden wächst, so beruht seine in Sibirien verfasste Schrift „Über den Menschen, über seine Sterblichkeit und seine Unsterblichkeit“ neben Hinweisen auf Locke und Rousseau auf dem Studium Leibniz' und Mendelssohns.

Böse Kritiker sehen wir auch in Radischtschevs Freundeskreis. Am nächsten stand ihm in Leipzig der junge Uschakov, der sich im Alter von 21 Jahren vergütete. Radischtschev gab seine Biographie heraus, die erste Biographie eines russischen Privatmannes. Kutusov hat er seine „Reise " gewidmet Kutusov war ein glühender Verehrer deutscher Dichtkunst, vor allen Klopstocks, von dessen „Messias“ er die ersten 10 Gesänge übersetzt hat. Fürst Schtscherbatov 42) hat zahmer und etwas maskiert dasselbe Thema wie Radischtschev in seiner Schrift „Schädigung der Sitten in Russland“ behandelt. Er bricht den Stab über die Sittenverderbnis zu Katharinas Zeit und lobt im Gegensatz dazu die Vergangenheit. Er ist auch der Verfasser einer umfangreichen Geschichte Russlands, welche die Grundlage von Karamsins Werk wurde.

§ 26. An der Spitze der Deutschrichtung steht, über allen, auch über den Franzosenanhängern, Djershawin 43). Djershawin ist der bedeutendste Dichter Russlands vor Puschkin; denn Karamsins Bedeutung liegt nur zum Teil auf poetischem Gebiet, er ist mehr Schriftsteller, mehr Kritiker. Und von den vorhergehenden übertrifft ihn vielleicht dieser oder jener auf diesem oder jenem Gebiet, wie Chemnizer in der Fabel. Alle jedoch haben immer nur ein Gebiet; Djershawin zeigt sich auf vielen als Meister.

Djershawin (1743 — 1816) ist deutsch erzogen; allerdings war er nicht wie Lomonossov in Deutschland selber. Der Sohn eines Orenburger Landedelmanns, wurde er im Hause erzogen und zwar — charakteristisch für Rußland — durch einen zur Zwangsarbeit verschickten Deutschen. Das Verdienst dieses Mannes ist groß, denn er machte den Knaben mit Hauer, Hagedom, Geliert, Kleist, Klopstock bekannt und schuf so Eindrücke, die der Maßstab der ganzen dichterischen Laufbahn Djershawins geworden sind. Er beschäftigte sich mit diesen Dichtern noch mehr, als er nach Ssaratov in die große Deutschenkolonie als Offizier zur Unterdrückung des Pugatschowschen Aufstandes kommandiert war. Im Sinne dieser Vorbilder ist Djershawins ganze Dichtung aufzufassen; ihnen ist er treugeblieben, auch im Alter, obwohl sein langes Leben ihn auch mit Goethe und Schiller bekannt werden ließ. Djershawin war ein gebildeter Mann — er war Gouverneur, dann Senator und Präsident des Kammerkollegiums und schließlich Justizminister — ; er konnte natürlich auch französisch und englisch; er hat sich eingehend mit Sterne, mit Ossian beschäftigt. Aber sein Herz blieb bei den Deutschen.

Er hat früh mit Dichten begonnen, mit Scherzgedichten, Madrigalen, Epigrammen, sich zunächst aber auf Übersetzungen beschränkt. Er übertrug einen Teil von Klopstocks „Messias“, von Fénelons „Télémaque“ von Friedriefe des Großen Oden „Oden übersetzt und verfasst am Tschitalagaj-Berg“ (1776 — sie stammen aus seiner Kommandozeit an der Wolga; der Tschitalagaj-Berg liegt bei Ssaratov). Die beiden ersten Übersetzungen sind verloren gegangen; sie existierten nur handschriftlich — auch jetzt nimmt die handschriftliche Literatur, aus politischen Gründen, noch einen großen Raum ein.

Das erste selbständige Werk ist die große Ode „Feliza“ (1782), eine Verherrlichung Katharinas. (Katharina hatte in ihrem Märchen vom Prinzen Chlor die gütige Fee, die dem Prinzen die Rose ohne Domen suchen hilft, Feliza genannt.) Sie hatte Erfolg, den größten natürlich bei der Verherrlichten, die daraufhin die „Akademie der Künste“ ins Leben rief und die Fürsten Daschkowa veranlasste, eine besondere Zeitschrift „den Gesellschafter der Freunde der russischen Literatur" zur Pflege der Literatur zu gründen.

Hatte schon „Feliza" großes Aufsehen erregt, so tat dies noch mehr seine Ode „An Gott“ (1784). Mit ihr wurde eigentlich sein Dichterruhm für sein ganzes Leben gesichert. Und gerade auf diesen Gedichten baut sich der Vorwurf auf, er arbeite ganz im Schwulst Lomonossovs. Das trifft jedoch nur zum Teil zu; es ist manches Schwülstige, Gespreizte, Hochtrabende vorhanden, da ist er der Schüler Lomonossovs. Aber er hat noch einen anderen Ton: Djershawin ist Russlands Klopstock. Der ernste, gravitätische, feierliche, heilige Ton von Klopstocks „Messias“, von dem er ja Teile, übersetzt hatte, der religiös-erhabene Schwung dieser Sprache war ihm eigen geworden. Das ist etwas anderes als der Prunk und der Schwulst in Worten; bei ihm handelt es sich um Gedanken, um Empfindungen, um naturwahre Bilder. Alle seine Lieblingsdichter haben dieses Thema behandelt — es war eben Zeitthema — Klopstock in seiner Ode „An Gott“, Haller in seiner „Ewigkeit“, Hagedorn in seinen „Gedanken über einige göttliche Eigenschaften“, Geliert im „Lob des Schöpfers“, Kleist, Herder in „Gott“, und so fern diese Dichter von Opitz stehen, so fern ist Djershawin von Ronsard und Lomonossov. Auf der anderen Seite hat man ihn einfach als Plagiator dieser hingestellt; das tut gewissermaßen noch sein sonst so verdienter Herausgeber Grot. Das ist auch verfehlt: natürlich werden bei einem solchen Thema manche Gedanken, auch gewisse Wendungen und Ausdrücke wiederkehren, und man kann da wohl von Einwirkungen, sprechen, aber das ist weit von sklavischer Nachahmung.

Djershawin war Hofdichter; man hat ihn oft den „Sänger Katharinas“ genannt, ihn wegen „Feliza“, wegen seines „Traumes eines Mursen“ (1783 — Djershawin hielt sich für den Abkömmling eines Mursen, Fürsten, aus der Goldenen Horde), gleichfalls einer Verherrlichung Katharinas, und wegen mancher Gelegenheitsgedichte, die er als Hofdichter zu Hoffestlichkeiten zu verfassen hatte, der Schweifwedelei geziehen. Wir Deutschen neigen gern dieser Auffassung zu, indem wir an unsere „Hofdichter", die Canitz, König, Besser, denken. Was uns aber diese so widerwärtig macht, ihre Lüsternheit und Gemeinheit, das fehlt bei Djershawin, und Hofdichter und Hofdichter ist ein Unterschied — Lomonossov war sogar ein „Grobianus", und bei Djershawin ist doch sonst nichts Lakaienhaftes; warum sollte also das Lob, das er seiner Herrscherin spendet, nicht auch innere Überzeugung sein können? Auch Moliére ist Hofdichter gewesen.

Das Gelegenheitsgedicht nimmt bei Djershawin einen weiten Raum ein. Wie tief empfunden ist da seine Ode „An Sappho“ in der er seinen Schmerz über den Tod seiner ersten Gattin ausdrückt! Sicher hat er das aus gleichem Anlass niedergeschriebene Gedicht Hallers gekannt und ist auch vielleicht dadurch inspiriert worden, aber gemeinsam haben beide Gedichte nur das Ereignis und einzelne damit naturnotwendig zusammenlaufende Gedanken.

Zur ersten Periode von Djershawins Dichtkunst, der feierlichen nach Klopstocks Muster, zählen seine naturbeschreibenden Gedichte: er ist für Russland der Schöpfer der Naturbeschreibung, des Idylls geworden. Zu diesen rechnet vor allen sein „Wasserfall" (1791). Als er Gouverneur von Olonjez (Finnland) war, hatte er dort den mächtigen Wasserfall Kiwatsch, der heute jährlich von vielen Tausenden angestaunt wird, besucht und bewundert. Auch Lomonossov hat sich in der Naturbeschreibung versucht; aber wie arm, wie empfindungslos nimmt sich seine Poesie der Djershawins gegenüber aus! Die Wucht, die Majestät des Falles steht anschaulich vor unsern Augen, dröhnt in unser Ohr; andrerseits spüren wir mit ihm die Stille des umgebenden Urwaldes, sehen wir den Beherrscher dieser wilden Einsamkeit, den schleichenden, raubenden Wolf, die flüchtige Hirschkuh. Freilich stören die vielen Reflexionen; der ewige Lauf des Wassers muss zu einem langen Vergleich mit dem Lauf des Lebens herhalten. Auch stört die Länge des Gedichts überhaupt. Aber wenn wir dieses ausscheiden, dann steht doch ein wirkliches Idyll vor uns, das erste in Russland.

Schöne Naturbilder bieten auch sein „Spaziergang in Zarskoje Ssjelo", „An die Muse", „Die Wiederkehr des Frühlings", „Auf den Übergang über die Alpen" (gemeint ist Ssuworovs Übergang über den St. Gotthard); „Das Haus der Dobrada" 44) (Dobrada ist eine gütige Fee) u. a. Bei manchen hat ihm, nach eigenem Geständnis, Geßner vorgeschwebt, auch Klopstock, auch Ossian.

Das war der jüngere Djershawin; dem älteren öffnete das Leben die Augen, dass er über der philosophierenden „schweren" Dichtkunst Hallers — er hatte ihr übrigens auch im „geistlichen Lied" seinen Tribut gezollt — , die leichte Hagedorns ganz übersehen oder sie nicht genügend verstanden hatte. Der ältere suchte sich aus den Kümmernissen dieser Welt, dem Verdruss und den Misshelligkeiten herauszuretten und fand Erholung in der frischen, leichten Poesie der deutschen Anakreontiker. Und verwandt mit der Anakreontik Hagedorns war die scherzende, witzige Art der Fabel Gellerts. In Deutschland hatte Geliert eine Legion von Fabeldichtern heraufbeschworen; in Russland war sie, wie wir schon gesehen, nicht weniger beliebt. Djershawin hatte schon ein paar Fabeln in der Jugend geschrieben; kultiviert hat er sie erst in den späteren Jahren. Noch 1810 und 1811 sammelte er alle wieder und brachte sie mit manchen Verbesserungen heraus. Sie zeichnen sich durch eine leichte, gefällige Sprache, durch Witz, Laune, Ungezwungenheit aus. Zum Teil sind sie stark politisch-satirisch gehalten, gegen Alexander, gegen die Minister, selbst gegen Araktschejev. Djershawin hat Humor: so entscheidet er sich in der Fabel „Der Tod und der Greis" nicht für den Schluss, den Äsop, Lafontaine ihr geben, wo der Alte auf die Frage des Todes, was er denn jetzt tun solle, antwortet, „er möge ihm doch beim Aufheben der Last helfen", sondern er schließt mit Hagedorns Wendung „Freund, geht zu meinem Nachbar hin!"

Der Kult Anakreons in Russland ist durch Djershawin gekommen. Es hatten schon vor ihm Lomonossov, Ssumarokov, Kantjemir anakreontische Gedichte geschrieben, es waren Versreimereien gewesen. Der erste wirkliche Anakreontiker in Russland war Djershawin. Angeregt war er durch zwei 1794 erschienene Bücher, durch „die Nachahmung des Alten" von seinem Amtskollegen in Petrosawodsk N. Emin und durch Lwovs Ausgabe des „Anakreon". Neben diesen Büchern holte er sich aber Rat bei seinen deutschen Freunden. Manche Gedichte seiner ersten Sammlung (1794) klingen an Herder an („Herkules"; seine „Fesseln" an „Hellas Veilchen"), auch an Goethe („An Lisa" ist das „Heideröslein"; „Die Grille" ist Goethes „An die Zikade"). Ein Teil seiner Anakreontika ist recht derb, wie bei unsern Anakreontikern. Aber wie wir wissen, dass bei unsern Dichtern ein großer Unterschied zwischen der grünen Theorie und der Wirklichkeit war, dass sie sich oft in Wein und Liebe berauschten in — Worten, so darf man nicht etwa auf einen lockeren Lebenswandel in seinen alten Tagen schließen. Auch der fromme Gellert hat die „Schwedische Gräfin" geschrieben. Man kommt wohl am ehesten mit der Antwort Jean Baptiste Rousseaus auf die Frage, wie er zugleich so fromme Oden und so frivole Lieder habe schreiben können, fort, „er habe sich bei beiden nichts gedacht".

Die ganze Anakreontik ist etwas spielerisch, im Inhalt wie in der Form. Wenn z. B. Ramler einer Ode auf einen Granatapfel auch die äußere Form eines Granatapfels zu geben versuchte, so sehen wir dasselbe in Djershawins „Pyramide", und wenn er bei einer andern Ode stolz bemerkt, er habe in der ganzen Strophe den Buchstaben r vermieden, so gehören derartige Spielereien zum Wesen der Anakreontik. Da6 selbst die größten Geister an solchen Kleinigkeiten Gefallen fanden, zeigt Goethe mit dem Wort „Käse" in den „Geschwistern".

Es ist ein paarmal der Name Goethes erwähnt worden. Djershawin war ein Zeitgenosse Goethes und Schillers. Aber er hat zu ihnen wenig Beziehungen gehabt, eigentlich keine. Wem so der tändelnde Geist der Anakreontik ins Blut überging, wer so in seinen jungen Jahren für das Pathos, die Feiertagsstimmung Klopstocks geschaffen war, der konnte unmöglich Verständnis für die tiefe Innerlichkeit des einfachen Menschenherzens finden. Djershawin hat sich an ein paar Dichtungen Goethes und Schillers versucht, in Übersetzungen, aber dabei ist es geblieben. Über Schiller hat er sich geäußert: „Schiller hat offenbar viel Verstand, viel Wissen, auch viele schöne Verse; aber kommt es daher, dass in ihm kein Pindarsches Feuer ist, das packt und mit sich reißt, oder dass er nicht den süßen Nektar des Horaz hat, ich las kein einziges Dichtwerk von ihm ohne Langeweile", und sich gewissermaßen über sich selbst wundernd, fügt er hinzu: „So verschieden und seltsam ist der Geschmack". Wir sagen das letztere auch.

Djershawin musste auf Befehl Katharinas ein paar Dramen schreiben 45) ; sie hatte es ja auch andern befohlen. Er hat damit wenig Glück gehabt. Sie sind aber nicht so schlecht, sicher nicht seine Tragödie „Herodes und Mariamne". Sie ist, wie alle Tragödien bis zu dieser Zeit, nach französischem Muster geschrieben; aber der Dichter wie der Denker rütteln schon etwas an der Theorie: Djershawin sagt ausdrücklich, dass er die Personen nicht aus der Phantasie, sondern aus der Geschichte geschaffen hat. Das ist schon ein Schritt an Shakespeare heran.

Djershawins Verdienst liegt auf lyrischem Gebiete, und da ist er der erste russische Dichter, denn er reimt nicht nur, er arbeitet nicht nur mit dein Verstände, sondern er verfügt auch über Phantasie, über schöne, starke, dichterische Phantasie 46).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte