Volksdichtung

§ 2. In jedem Volk entwickelt sich zuerst die Lyrik *). Solche Lieder sind zunächst rituelle, an religiöse Gebräuche anknüpfend. Es erinnert ein Teil dieser russischen Lieder noch direkt ah die heidnische Zeit, an ihre großen Feste, an die ja nachher in kluger Weise die christliche Kirche angeknüpft hat. Für den ersten Kulturmenschen, den Ackerbauer, ist die Sonne das gütigste Wesen. Der Russe hat daher, genau wie unsere Vorfahren, die Sonnenwenden gefeiert, durch Tänze und durch Gesänge. Noch heute werden zur Sommerwie zur Wintersonnenwende in den Dörfern der Ukraine und in Weißrussland auf den Feldern Holzhaufen angezündet; um sie herum wird getanzt und gesungen; die jungen Burschen und Mädchen springen durch das Feuer hindurch, um sich vor Krankheit zu bewahren. In der Nacht des Sommersonnenwendtags versammeln sich nach dem Volksglauben die Hexen; da blüht auch der Farn, und seine Blüte hat die Zauberkraft, verborgene Schätze in der Erde zu zeigen.

Andere Lieder besingen den Jegor-Tag (23. April), der noch jetzt vom Volke außerordentlich gefeiert wird. Der heilige Jegor-Jurij ist der heilige Georg. Seine Rolle war vordem auch bei den höchsten Kreisen sehr groß, hat doch das Großfürstentum Moskau, das spätere russische Kaiserreich, ihn in den Herzschild seines Wappens aufgenommen. An diesem Tag erschließt Jurij die Erde, gießt den Tau nieder und pflanzt die Gräser und das Korn. Er hat auch Macht über das Vieh. Deshalb fuhrt man am 23. April das Vieh zum erstenmal auf die Weide und ruft Jegor um Schutz an; der Wolf kann ihm ohne Jegors Willen nichts tun.


Ein anderer Feiertag ist der Ssjemik, der 7. Donnerstag nach Ostern. Die Jugend zieht in die Wälder und Haine an den Fluss, und da beginnt das „Kränzeraten“: wessen Kranz am schnellsten fortschwimmt, der heiratet zuerst; wessen Kranz untergeht, der heiratet nicht oder stirbt wohl gar. Der Ssjemik gehört auch den Russalki (bis ins 12. Jahrhundert hieß die ganze Festwoche Russalnja). Die Russalki sind im Süden unsere lustigen, mutwilligen Wassernymphen; im Norden und Osten dagegen gehören sie zur Zahl der bösen Kobolde; in Kleinrussland sind sie auch die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder.

Auch an wichtige menschliche Einrichtungen knüpfen die Gesänge an. Die wichtigste ist die Ehe. Die Lieder sind nun recht charakteristisch für die Entwicklungsstufen der Ehe. In der ältesten Zeit, wo jeder kleinere Kreis für sich abgeschlossen lebte und jeder dem andern nur als Feind gegenüberstand, klagt das junge Mädchen, man solle es vor den „Räubern", d. h. dem Nachbarstamm, schützen. Dann verwischen sich diese Schranken, und nun klagt sie, man solle sie nur nicht zu billig verkaufen, und erst nachher kommt die freie(re) Wahl.

§ 3. Einen Schritt weiter in der Entwicklung eines Volkes bedeutet das Epos, bei den Russen die Bylinen. Die russischen Bylinen erzählen Tom Vergangenen (es war), natürlich vom vergangenen Großen, Hervorragenden. Freilich ist da ein Unterschied zwischen dem deutschen Heldenepos, den französischen chansons de geste, der englischen Ritterpoesie einerseits und andrerseits den russischen Bylinen der älteren Zeit. Zwar hat auch in unsern Gedichten der Held eine ganz außergewöhnliche Körperkraft und Gewandtheit, aber er stellt sie in den Dienst des Ideals, er kämpft für Recht, Tugend, Schönheit. In den russischen Bylinen, den älteren, ist von sittlichen Ideen, von Ritterlichkeit keine Spur.

Der Hauptheld der älteren Bylinen**) ist Sswjatogor. Er ist von Riesenwuchs und hat eine solche Kraft, das ihn die Erde kaum tragen kann. — Neben ihm steht Wolga Sswjatosslawitsch. Auch seine Stärke ist außerordentlich; als der Knabe erst 1 ½ Stunden alt ist, bittet er schon, ihn nicht mehr in Windeln zu wickeln, sondern in einen festen Stahlpanzer und ihm einen Stab von 300 Pud Gewicht in die Hand zu geben. (Der „Stab" entspricht unserem Zepter, ist also ein Zeichen der Würde — 1 Pud = 40 Pfund.) Jedoch neben dieser Stärke tritt jetzt ein anderer Zug hervor, mit dem diese Byline in ihrer Weltanschauung um einen Schritt über Sswjatogor hinausgeht: Wolga ist auch schlau. Schlau ist er, weil von der Schlange geboren. Mit seiner Schlauheit besiegt er den türkischen Zaren, tätet ihn, heiratet seine Frau und wird in dessen Land selber Zar. Da er von einem Tier abstammt, kann er sich selber in ein Tier, in einen Fisch, einen Falken, einen Wolf verwandeln, je nachdem es seine Schlauheit erfordert. Er ist also unser Werwolf, der übrigens durch die ganze indogermanische Sagenwelt geht. Diese Byline führt uns auch wohl insofern einen Schritt weiter, als man in dem Zuge gegen den fremden Zaren Anklänge an die wirkliche Geschichte sehen kann, an Olegs Zug nach Zargrad.

Wiederum einen Schritt weiter geht die Byline in Mikula Sseljaniwowitsch. Auch er ist ungeheuer stark, aber die Kultur leuchtet hinein. Er ist der Sohn eines Ackerbauers, er selber ist Ackerbauer, er liebt die Mutter Erde.

Der erste spielte also im Süden wo Wladimir herrscht, der letztere im Norden, wo die Republik Groß-Nowgorod die gebietende Macht war.

Wladimir selbst spielt keine führende Rolle; diese haben nur seine „Paladine“, die er nach seiner Hauptstadt Kijev ruft, damit sie von dort aus Befehle empfangen, um dem Vaterlande zu dienen. Die „Brüderschar“ kehrt dann nach vollbrachter Tat zurück und empfängt nun aus seinen Händen den „grünen Wein". Es liegt also bedeutende Ähnlichkeit mit Artus und seiner Tafelrunde vor. Wir treten in diesem Zyklus auf geschichtlichen Boden, nicht allein durch Wladimir, sondern durch die noch heute im Volke so beliebte Figur des Ilja Muromjez***), d. h. Ilja aus Murom (zwischen Wladimir und Nishnij Nowgorod gelegen). Ilja ist Ackerbauer, und als solcher sorgt er für Ordnung auf der heimatlichen Scholle; er ist aber auch Kosakenataman, und als solcher kämpft er gegen die zahlreichen Steppenfeinde des heimatlichen Bodens, gegen die räuberischen Tataren; er ist auch Christ, und als solcher kämpft er gegen die Heiden für die christliche Kirche, für den christlichen Glauben, für den Glauben, der vor allem Schutz der Armen, der Witwen und Waisen will. Da ist also eigentlich schon „der Ritter" vorhanden. Weniger christlich, dafür desto russischer ist, dass ihm die Kräfte beim Trinken kommen. Mit diesen Kräften fängt und tötet er den Drachen Ssolowjej, der durch sein furchtbares Pfeifen und Zischen alle Menschen betäubt, dann andere Ungeheuer, ferner den Heiden Idolischtsche , endlich befreit er Kijev vom Zaren Kalin.

Zum Wladimir Zyklus gehört auch der aus Rjäsan aus fürstlichem Geschlecht stammende ehrlich-tapfere Dobrynja, der einen Feuerdrachen tötet und Ilja im Kampfe hilft, im Gegensatz zu einer dritten Hauptperson dieses Zyklus, dem Aljoscha Popowitsch, der zwar auch sehr kühn und tapfer ist, aber „neidische Augen und raffende Hände" hat. Bedenkt man, dass Popowitsch der Sohn eines Popen bedeutet, so stimmt das nachdenklich.

Wie sehr den Dichternc daran lag, Iljas Kraft als ganz außerordentlich hinzustellen, zeigt sehr hübsch eine Byline, die Ilja mit Sswjatogor zusammenbringt: Einstmals zog Sswjatogor mit Ilja Muromjez über das Blachfeld, und sie stießen auf eine große Gruft, auf der eine Aufschrift geschrieben war: „Wem bestimmt ist in der Gruft zu liegen, der wird sich auch hineinlegen." Es legte sich zuerst Ilja hinein, die Gruft passt nicht für ihn; es legte sich Sswajatogor hinein, die Gruft war wie eigens für ihn gemacht. Sswjatogor bat Ilja die Gruft mit einem Deckel zu schließen, aber Ilja weigerte sich. Da deckte sich Sswjatogor selber zu. Aber als er sich zugedeckt hatte, konnte er den Deckel nicht mehr heben. Er bat Ilja, mit dem Schwerte auf den Deckel zu schlagen. Ilja schlug querüber den Deckel, da wuchs ein eisernes Band über ihn hin; und er schlug längs, und ein zweites Band wuchs darüber. Nun verstand Sswjatogor, dass für ihn die Zeit gekommen war zu sterben. Er bat Ilja sich zum Grabe herabzubeugen und gab ihm einen Teil seiner Heldenkraft; er selber entschlief.

Andere Helden des Wladimir-Zyklus sind weniger charakteristisch.

Ein hiervon verschiedenes Bild bietet der Nowgoroder-Zyklus. Nowgorod ist die große, mächtige, reiche Handelsstadt, die ihre Schiffe weithin in das Ostmeer sendet und sie von fernen Landen unermessliche Reichtümer hereinbringen lässt. Zu solchen Seefahrten gehört Mut, Kühnheit, Unternehmungslust. Zwei Personen treten da hervor: „Ssadko, der reiche Handelsherr", ein solch kühner Seefahrer, und aus den ihn umgebenden Scharen „Wasska Busslajew". Diese Scharen müssen natürlich auf der See außerordentlich wagemutig und tollkühn sein; das Tollkühne bringen sie aber auch nach Hause zurück, und in diesem Gefühl setzen sie sich hier über jede Ordnung, jedes Recht, jeden Zwang hinweg. So ist denn Nowgorod selber der Mittelpunkt wilder, blutiger Unruhen, in denen sich besonders Wasska Busslajew hervortut: er hätte, wenn ihn die Mutter unter Flehen nicht davon abgehalten, 5.000 Nowgoroder Bauern auf einmal getötet; er kann, als er ins Heilige Land zur heiligen Stätte zieht, sein tolles Wesen selbst hier nicht lassen und büßt dann seinen Frevelmut mit dem Tode.

Später liegt, dem 12. Jahrhundert angehörend und zugleich das wichtigste Denkmal des 12. Jahrhunderts, ein Heldenepos in unserem Sinne, „Das Lied vom Heereszug Igors gegen die Polowzer" 4). Der geschichtliche Vorgang, der in das Jahr 1185 fällt, ist an und für sich unbedeutend: der Nowgoroder Fürstensohn Igor kommt den Städten Kijev und Tschernigov gegen die räuberischen Polowzer zu Hilfe. Im Anfang glücklich, gerät er nachdem in Gefangenschaft. Schließlich kann er entfliehen, während sein gleichfalls gefangener Waffengefährte Wladimir die Tochter des Polowzerchans heiratet und dann nach Hause zurückkehrt. Das Gedicht überragt die vorhergehenden Bylinen bei weitem: einmal durch den wirklich historischen Untergrund, dann durch die ganze Auffassung seines Dichters, durch den Ausdruck der tiefen Gefühle und Gedanken über die traurige Lage der russischen Heimat — traurig, weil sich die Häupter gegenseitig zerfleischen — , und durch den Ausdruck der Erinnerung an die erhabenen Taten der Vorfahren. Dazu gibt der Dichter herrliche Landschaftsbilder. Wer er selber ist? Wahrscheinlich ein Teilnehmer am Zuge, jedenfalls ein vornehmer, gebildeter Mann, vielleicht ein Sänger, wie sie damals am Kijewer Hof häufiger waren. Das Lied selber nimmt Bezug auf einen solchen Sänger, namens Bojan, der im 11. Jahrhundert gelebt und Jarosslav verherrlicht hat. Es hebt aber ausdrücklich hervor, dass es nicht wie die früheren Bylinen und wie jener Bojan „Erdachtes" bringt, sondern wirkliche Geschichte. Der Dichter versichert uns, dass er von jener alten Art nichts wissen will. Und doch sind gerade die Stellen, wo er ihr folgt, die schönsten, d. h. da, wo er das mythologische Element verwendet: „Auf der Spitze des Baumes sitzt der böse Div“ und „die (Walküren-) Jungfrau streift mit den Schwanflügeln über das blaue Meer."

Natürlich ist bei aller Geschichte die Phantasie das Überwiegende — rein historische Lieder kommen erst nach der Tatarenzeit.

§ 4. Von den Bylinen sind die Märchen 5) zu unterscheiden. Märchenhaftes haben ja auch die Bylinen; aber diese haben einen Ort der Handlung und haben handelnde Personen, wenn auch märchenhafte Wunder vollbringende. Das Märchen ist aber nur Phantasie, jenseits von Raum und Zeit. Auch äußerlich unterscheiden sich beide: die Byline hat die gebundene Form des Verses, das Märchen die freiere, prosaische Form.

Handelnde Personen sind die Sonne, der Mond, der Donner, der Wind oder Phantasiewesen: der Zar vom Meer, der Waldgott, die zwölfköpfige Schlange, der unsterbliche Zauberer Koschtschej, die böse Hexe Baba-Jaga. Diese sehen die Zukunft voraus, helfen oder schaden durch irgendein Naturwunder dem Helden, und der Held sucht etwas Phantastisches: das goldene Borstenschweinchen, den Wundervogel, dessen Federn wie Feuer funkeln, den Hirsch mit dem goldenen Horn, das lebende und das tote Wasser. Hierher gehören z. B. die Märchen von „der Sonne und dem Wind", von „der Hexe und der Sonnenschwester", vom „versteinerten Reich".

Im Gegensatz zu solchen überirdischen Mächten erzählen die „Volksmärchen“ von Menschen, immer aber unter dem Gesichtswinkel des Wunderbaren. Da sind drei Brüder, von denen der jüngste von den beiden bösen älteren schlecht behandelt wird. Er hat einmal einen Hecht gefangen und ihn freigelassen. Dafür verleiht ihm dieser prophetische Gabe und allerlei Kräfte: sein Eimer geht von selber zu Wasser, sein Beil haut von selber Holz, sein Schlitten fährt von selber in den Hof; in einer einzigen Nacht erbaut er sich ein prächtiges Schloss und führt als Gattin eine Zarentochter heim. Einem andern hilft anstatt des Hechtes ein Wunderpferd. Oder es sind drei Schwestern, die älteren wieder böse, die jüngste gut. Die bösen planen ihren Tod, fallen aber selber in die für die jüngste gegrabene Grube. Oder die böse Stiefmutter schickt die Stieftochter zur Baba-Jaga, damit diese sie brät und auffrisst, was natürlich nicht geschieht. Solche Märchen sind „der Königssohn Iwan", „der leuchtende Vogel". Ob in allen diesen Gestalten die Dichtung Naturkräfte verkörpert hat: in der Baba-Jaga den Wintersturm mit seiner alles ertötenden Macht, im Königssohn Iwan den hellen, segenspendenden Sonnenstrahl, der des Winters Macht bricht, ist recht fraglich.

In anderen Märchen bilden Tote die übernatürlichen Elemente.

Die „Tiermärchen". Wie der Urmensch der Natur näher stand, so war auch sein Verhältnis zu den Tieren anders als heute: er stellte sich ihnen gleich, er betete sie sogar an, je nach dem Grade ihrer Gefährlichkeit. Das ist eine Erscheinung bei allen Völkern. Während aber die Tiersage bei andern Völkern frühzeitig Literatureigentum wird und dadurch einen didaktisch-allegorischen Charakter annimmt — vgl. den französischen roman du renart, den deutschen „Reineke Vos“ — , bleibt sie bei den Russen Volksbesitz und ohne diesen Einschlag. Die Literatur hat sich in Russland erst im 17. Jahrhundert an sie gewagt. Die Hauptrollen im russischen Tiermärchen spielen der Fuchs, der Wolf, der Bär, die Katze, der Hahn. Hübsch sind die durch Gleichklang entstandenen Namen: der Fuchs heißt Lisaweta Iwanowna, der Bär Michail, der Hahn Pjetka.

§ 5. Auch der Sprichwörter muss wohl gedacht werden, hat doch in Russland das Sprichwort eine so große, ausgedehnte Bedeutung. Manches weist seinem Ursprung nach auf jene frühe Zeit zurück: „Wen Gott nass macht, den trocknet er auch wieder." Gott ist hier der Regen, die Sonne. Ebenso wohl „die Sonne arbeitet am Tag, sie ruht in der Nacht." Nestor kennt schon Sprichwörter; noch mehr kommen dann in der Tatarenzeit.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte