Die Gegenwart: Pessimismus — Symbolismus — Erotik — Futurismus — Realismus

§ 71. Das neue Jahrhundert hat neue Wandlungen, neue Richtungen, neue Schlagwörter gebracht: die Symbolisten (Dekadenten), die Erotiker, die Futuristen, die Egofuturisten, die Lucisten usw., und — charakteristisch für heute — kaum ist eine Richtung aufgetaucht, so ist sie von einer andern abgelöst; man lebt gegenwärtig schnell in Russland. Selbstverständlich ist auch das neue Jahrhundert keine hermetisch abschließende Scheidewand — der Pessimismus gedeiht weiter in der Form, die er bisher angenommen hatte, und zwar in sehr bedeutenden Vertretern. Während die frühere Zeit aber ganz dem Bauern galt, beginnt jetzt — zunächst nur in der Literatur — die Herrschaft des Arbeiters. Die vagen und nur in dem einen Ziel, dem der Zerstörung, einigen Bestrebungen des Nihilismus wurden durch den bestimmteren, mehr den wirklichen Lebensverhältnissen Rechnung tragenden Sozialismus ersetzt. Die von Deutschland und noch mehr von Frankreich importierte sozialistische Lehre gewann in Russland festeren Böden und stellt also vor allem die Arbeiterfrage in den Vordergrund. So wenig das einstweilen politisch von Belang war, so intensiv lebt die Literatur diesem Gedanken, natürlich, wie ehedem beim Bauern, mit der obligaten Übertreibung. Die Nöte des Arbeiters, überhaupt des um das tägliche Brot hart Ringenden, finden sehr beredte Vertreter.

§ 72. An der Spitze steht Gorkij, der Sänger der Barfüßler, der Landstreicher, der Vagabunden. Seiner Geburt nach gehörte er nicht zu dieser Kategorie, er stammte aus gut bürgerlicher Familie. Nur wurde der 1868 in Nishnij-Nowgorod geborene Alexej Michailowitsch Pjeschkov — so ist sein wahrer Name — mit sieben Jahren Vollwaise, und nun begann für den Verlassenen eine wahre Odyssee von Irrfahrten und schweren Nöten, die ihn später den symbolischen Decknamen Gorki) („der Bittere") annehmen ließen. Er arbeitete in einem Schuhwarenladen, bei einem Schreiber, war Koch auf einem Wolgadampfer, lernte dieses und jenes Handwerk; er durchzog den ganzen Süden Russlands, sich verdingend und verdienend, wo sich ihm etwas bot. Aber bei aller schweren Arbeit und auf allen Wanderungen lernte und lernte der mit regem Verstande und reicher Phantasie Begabte; er fand auch Leute, die ihm in seinem Streben weiter halfen. Auf einer Wanderung, in Tiflis, brachte er 1892 zu der Zeitung „Der Kaukasus" eine halb märchenhafte Skizze aus dem Zigeunerleben „Makar Tschudra", und die Erzählung hatte Erfolg. Neue Skizzen, alle dem Leben der Vagabunden und der untersten Gesellschaftsschichten entnommen und in Tifliser, Kasaner, Petersburger Zeitungen veröffentlicht: „Tschelkasch" , „Konowalov", „Gewesene Leute", hatten nicht allein wegen der Neuheit des Gegenstandes, sondern auch wegen ihrer Anschaulichkeit, Lebendigkeit, Lebenstreue noch größeren Erfolg.


Gorkij hatte viel Glück in seiner literarischen Laufbahn, man hat ihn in manchem stark überschätzt. Seine Skizzen kamen schnell in Übersetzungen ins Ausland, und besonders in Deutschland hatte er bald einen großen Freundeskreis. Auch als Dramatiker wurde er sehr beliebt; sein „Nachtasyl" („Auf dem Boden des Lebens") wurde in den Jahren 1903 und 1904 in Berlin mehr als 500mal aufgeführt Andere Dramen, „Die Kleinbürger", „Die Sommergäste", „Kinder der Sonne", hatten geringeren Erfolg, sind aber immerhin besser als die gewöhnliche Tagesware.

Im Jahre 1905 wurde Gorkij wegen Teilnahme an der revolutionären Bewegung verhaftet. Die Nachricht rief in ganz Europa so großes Aufsehen hervor, da8 sich überall Ausschüsse bildeten, welche Telegramme, Adressen an den Zaren mit der Bitte um Begnadigung des berühmten Schriftstellers schickten, und Gorkij wurde in der Tat entlassen.

Er begab sich ins Ausland, nach Schweden, Dänemark, Deutschland, überall gefeiert, am wenigsten in Amerika, Nach Europa zurück, nahm er ständigen Wohnsitz auf Capri.

Gorkij hat in dieser Zeit viel geschrieben. So hat denn manches nicht die Höhe der früheren Werke erreicht, so die farblos langweiligen Romane „Das Städtchen Okurov", die Fortsetzung davon „Matwej Koschemjakin", auch „Die Beichte", die Entwicklungsgeschichte eines reinen Toren und Gottsuchers, mit scharfem Kampf gegen den byzantinischen Gott, ferner das Drama „Die Sykovs".

Höher steht sein sozialer Roman „Die Mutter", ein hohes Lied auf die Mutter Russland, auf den russischen Arbeiter, auf die russische Revolution. Als er bei Ausbruch des Krieges nach Russland zurückkehrte, wurde er sofort wegen dieses Buches unter die Anklage der Gotteslästerung gestellt und stand bis 1915 unter Aufsicht.

Vom Kriege und von der Kriegshetze hat er sich vollkommen ferngehalten. Wenn schon in den früheren Erzählungen über allem Pessi . . . . Liebe schwebt, so dass der Leser selbst seinen ärgsten . . . . . zu lieben beginnt, so hat sich diese heilige Flamme seit . . . . . zu größerer Glut entfacht. Seine „Erinnerungen" (1915) . . . . Kindheit sind trübe und bitter, aber auch voll süßen . . . . . seine Reiseskizzen „Durch Russland" (1915), Eindrücke Wanderungen, haben überhaupt keine philosophierenden Vaga . . . . sondern arbeitsfreudige, tätige, kraftvolle Gestalten aus . . . .

Unter der Herrschaft der Bolschewiki redigierte er eine Zeitlang die Zeitung ,,Neues Leben", in versöhnendem Sinne.

Andrejev (1871 — 1919) wird oft der Jünger Gorkijs genannt. Das stimmt jedoch nur bedingt. Richtig ist, dass beide Pessimisten sind, aber dieser Pessimismus ist verschiedener Art. Bei Gorkij war Hoffnung, bei Andrejev ist Tod. Andrejevs ganze große Welt ist ein Gefängnis, aus dem es kein Heraus gibt, in das kein Lichtstrahl dringt. Gorkij ist Realist; er nimmt, allerdings aus einer bestimmten Klasse, der untersten Schicht, seine Menschen, aber sie sind Menschen, wie wir ihnen täglich auf der Straße begegnen, gesunde Menschen. Andrejevs Menschen sind krank, abnorm, verzerrt, vertiert. Gorkij wählt sich die realsten Situationen des Lebens, Andrejev sucht gern das Mystische, Romantische, grausig Phantastische. Selbst im Stil unterscheiden sie sich; der Andrejevs hat etwas Geschraubtes, Gesuchtes, den Modernisten sich sehr nähernd.

Andrejevs hervorragendste Schöpfung ist sein „Rotes Lachen" (1905), das Wahnsinnslachen über die Blutgräuel des Krieges. Der Stoff, der den ostasiatischen Kriegsereignissen entnommen ist, tut dabei wenig; es soll das Entsetzliche des Schlachtfeldes hervortreten, die grauenhaften Leiden und Qualen, die auf den völlig Unschuldigen fallen, der Wahnsinn, der aus guten und gebildeten Menschen Mörder macht.

Im Wahnsinn kann das Leben nur enden, so entsetzlich ist das Leid, da^ Elend dieser Welt. Das zeigt, allerdings in großartiger Durchführung und Steigerung der Effekte und in vollendeter Aufblätterung der Menschen, der Örtlichkeiten, der Situationen der Dichter im Roman „Das Leben Wassilij Fiwjeiskijs" (1904 — in der deutschen Übersetzung „Der Glaube"); der Priester Fiwjeiskij hält am Glauben fest trotz alles furchtbaren Unglücks um sich herum, trotz des idiotischen Sohnes, trotz der trunkenen Frau; als auch der Glaube versagt, wird er wahnsinnig.

In Nacht und Grauen stürzt uns das Leben. Das spricht sein romantisch-mystischer Roman „Lazarus" (1908) aus. Aus Nacht und Grauen ist Lazarus von Christus erweckt worden, er geht nun in die Welt hinein. Da beginnt die Pein: alle Frauen umwerben ihn, so dass er die Eifersucht des Augustus erweckt, und der lässt ihn jetzt blenden. Da ist wieder Nacht und Grauen um ihn. — Ebenso ist sein Drama „Die schwarzen Masken" ein grauenhaftes Gemisch von Traum und Wirklichkeit.

Die „Philosophie des Eisengitters" ist der alleinige Trost, so sagen und beweisen seine „Memoiren" (1908). Ein 30 Jahre lang Inhaftierter kommt frei. Was nun? Er fühlt sich in der ungewohnten Umgebung verloren. Da umbaut er sein Landhaus wie ein Gefängnis und nimmt sich einen strengen Wärter, den er für seine Strenge zum Universalerben einsetzt. Man sieht, Andrejev will verzerren.

Er will peinigen. Wenn auch psychologisch höchst künstlerisch entwickelt, so ist doch „Die Geschichte der sieben Gehenkten" (1912), ihre Qualen zwischen Verurteilung und Exekution, zugleich für den Leser eine Qual.

Andrejev hat sich leider zum Vielschreiber entwickelt, noch mehr im Drama als im Roman. Daher hat denn keines seiner Dramen rechten Anklang gefunden, weder die satirische Groteske „Nächstenliebe“ (1908), noch seine Eifersuchts- und Ehebruchsdramen wie „Anfissa“ (1909 — die Liebe eines Mannes zu drei Frauen) oder „Katharina Iwanowna“ (1912), noch sein Satansdrama „Anathema“ (Satan lässt den Juden seine Millionen fürs Volk hingeben, das ihn doch steinigt). Am meisten hat noch sein Studentenstück „Gaudeamus“ (1910) Erfolg gehabt. Der junge Student ist nach Sibirien verschickt worden und kommt nun mit 48 Jahren zurück. Er will jetzt wieder studieren — der Lohn für die ausgestandenen Leiden ist, dass er von allen verlacht wird.

In einem Drama „Zu den Sternen“ ist Andrejev nicht Pessimist; es gipfelt in den Worten: „Es gibt keinen Tod für den Menschen, es gibt keinen Tod für den Sohn der Ewigkeit"

Während des Krieges hielt sich Andrejey politisch zurück; einmal ist er aus dieser Reserve herausgetreten. Sein Drama „König, Gesetz und Freiheit" ist eine Verherrlichung von Belgiens Märtyrertum.

Noch gesteigerter ist der Pessimismus, noch mehr ist „Liebe in Hass, Blut in Galle verwandelt" bei Skitalez. „Wild schallt mein Lied, und in dem Wort ,Ich fluche’ klinget Mein ganzes Menschensein." Der Bauernsohn hat am eigenen Leibe die furchtbare Not des Daseins (die Novelle „Spießruten" sind die Spießruten, die er und noch mehr sein Vater durch die menschliche Gesellschaft laufen mussten) kennen gelernt, und daher ist für ihn der Reiche nur der Rohe, Dumme, Gemeine, während der Proletarier immer gut und talentvoll ist. Aber dieser schiefen Subjektivität stehen die wundervollen Beschreibungen der Wolga, ihrer Naturschönheit wie des Lebens und Treibens auf und an ihr gegenüber, die weichen Stimmungen, die er in seinen Personen und durch sie zu erzeugen weiß, die packenden, erschütternden Bilder, die er vom Bauernleben und von der Bauernseele malt.

Etwas müder steht dem Leben gegenüber, auch mehr auf Seite der Intelligenz Wjerjessajev (Pseudonym für Ssmidowitsch), geboren 1867. Bei uns ist er durch seine „Memoiren eines Arztes" (1902) bekannt geworden. Mit Rousseau verspricht er sich von der Rückkehr zur Natur eine moralische Besserung; sein Buch „Zum Leben" (1909) läuft ganz auf diesen Gedanken hinaus. Er gibt auch hübsche Literaturbetrachtungen über Tolstoj, Dostojewskij usw. in seinem „Lebendiges Leben" (1911).

§ 73. Neben diesem realistischen Pessimismus tauchte in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine neue Richtung auf, die das Leben mit derselben pessimistischen Skepsis ansieht, aber Rettung aus dieser Trostlosigkeit will und deshalb zu dem Überirdischen flieht.

Sie verlässt die Wirklichkeit, die reale Welt und wendet sich an den Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne; sie besingt die Ewigkeit, die Stille, das Dunkel, die Finsternis. Für so große, ewige, unfassbare Stoffe gibt es keine fassbaren Gedanken, keine fassbare Form; sie lassen sich nur annähernd im Symbol wiedergeben. So nennen sie sich Symbolisten und nehmen dann, als man verspottend ihre Poesie und ihre Auffassung dekadent heißt, den Namen Dekadenten 107) an, ihn anders definierend: sie fallen ab (lat. decadunt) von allem, was vordem gebräuchlich, was vordem durch den Gebrauch geheiligt war. Die erste Stelle nimmt bei ihnen die Musik, die Leichtigkeit des Verses ein, die Verschiedenheit und der Reichtum des Versmaßes, die Wahl und Stellung der Worte, die Lautnachahmung, kurz alle Verskünstelei. Ihre selbständige Erfindung ist das nicht; Paul Verlaine und Maeterlinck sind die Väter.

Es gibt schon ein paar Vorläufer. Fofanovs (1862 — 1911) Lyrik weiß die flüchtigsten Stimmungen und die leisesten Seelenregungen zum Ausdruck zu bringen. Er hat außerordentlichen Sinn für plastische Bilder und ist vollendet in der Form; er liebt dabei schon die gekünstelten Epitheta, die herbeigezogenen Vergleiche, er müht sich um Versmaß und Reim. Seit 1882 ist er bekannt. Am besten ist ihm wohl das große Gedicht „Das Mysterium der Liebe“ gelungen, aus dem neben der Kraft und dem Wohllaut des Verses schöne Gedanken sprechen. Auch viele kleine Dichtungen „Helle Sterne. Schöne Sterne", „Die Vorahnung“, „Zur Herbsteszeit", „Die Braut" zeigen den gottbegnadeten Poeten.

Minskij (geb. 1860 — Pseudonym für Wilenkin), nicht so bedeutend wie Fofanov, aber von der Jugend einst vergöttert, läutet gleichfalls die neue lyrische Periode ein. Auch für ihn birgt das Leben nur Kummer; neben dem Glück steht gleich das Unglück. In dem Gedicht „Die Dürre" malt er die Verzweiflung der Bauern, weil in der Sonnenglut alles verdorrt und hinsiecht. Da setzt ein Gewitter ein, und alle sind erlöst und gehen frohen Herzens hinaus auf das Feld, in den duftenden Garten. Jedoch im Garten hat der starke Regen ein Nest mit jungen Vögeln ausgewaschen und die Jungen sind tot, und die Mutter umkreist es nun, ruhelos, unaufhörlich, bis auch sie tot hinfällt. Trost in allem Elend gibt ein Sichversenken in den Zauber der Natur; es sind prachtvolle Naturbilder, die er geschaffen im „Abend", in „Auf der Höhe", „Auf dem Schiff". Trost gibt auch die Liebe, und da erinnert er sehr an Heine, den alle diese Dichter aufs genaueste kennen.

Wie Minskij erst nach und nach sich zum Dekadenten entwickelt hat, so auch D. Ss. Mjereshkowskij (geb. 1866). Seine ersten Werke zeigen ihn noch nicht in diesen Bahnen. Er ist eigentlich überall bedeutend, in der Lyrik, im Roman, im Drama, als Dichter, als Essayist, als Kritiker — er will von Tolstojs geistlichen Schriften nichts wissen, und ebenso tritt er der Überschätzung Gorkijs entgegen — , als Gelehrter. Mjereshkowskij ist ein tiefempfindender Lyriker; die Gedichte „In den Alpen", „Auf der Höhe" sind Perlen. Er ist ein guter Romanschriftsteller. Seine Romantrilogie „Der Tod der Götter" — das ist der Kampf der alten heidnischen Welt mit der christlichen (russischen) Welt — hat ihn auch in Westeuropa bekannt gemacht. Sein Roman „Alexander I." hat ein ausgezeichnetes historisches Kolorit; er wurde 1911 von der Zensur freigegeben. Ebenso hat sein Drama „Paul I." wegen des heiklen politischen Stoffes lange unter Zensur gestanden; es offenbart neben Bühnengewandtheit den Dichter. Seine gesammelten Aufsätze ,,Vom Krieg zur Revolution" (1918) bilden wertvolles Material zum Verständnis der Zeit und zeigen den streitbaren, aber sittlich ernsten Denker.

Als Haupt der Schule gilt Balmont (geb. 1867). Er hat viel in Paris und Brüssel geweilt, den Symbolismus also an der Quelle eingesogen. Seine ersten Veröffentlichungen sind schon aus dem Jahre 1887; aber er wurde anfangs verspottet, und erst nach und nach erkannte und anerkannte man seine reiche, kühne Dichtersprache. Seinen Höhepunkt bildet wohl das Buch „Lasst uns sein wie die Sonne" (1904), voll jubelnder Weltfreude und schrankenloser Lebensbejahung. Er hat viel geschrieben. Aus dem Zuvielen hebt sich der Gedichtband der letzten Zeit wieder heraus „Der grüne Weinberg" (1908). Hier zeigt sich nicht allein der gewandte Versmacher, sondern das lebendige Werk eines Künstlers, das an die besten Seiten seiner „Flammenden Gebäude" erinnert. Aus den Gräueln des Krieges rettete er sich durch seinen „Adam, Sonettenkranz". Er hat neben anderen Übersetzungen eine sehr gute Shelleys gegeben.

Brjussov (geb. 1873), ein Deutschrusse („Brüssow"), hat sich durch seine lyrischen Gedichte eingeführt, ist aber immer mehr zum Roman übergegangen und leistet darin Bedeutendes. Vor allem tritt sein Renaissanceroman „Der feurige Engel" (1908) hervor, eine Erzählung aus dem 16. Jahrhundert, worin die Heldin die geheimnisvolle Jungfrau Renata ist, die mit dem feurigen Engel Madiel zu verkehren glaubt und infolge dieses Bekenntnisses als Hexe verbrannt werden soll. Ein romantisch-mystisch-phantastischer Stoff, jedoch voll meisterhafter lebenswahrer kulturhistorischer Bilder. Die Art, wie er sich in die Denk- und Empfindungsweise eines fremden Volkes und in vergangene Zeiten versetzt und dies in prägnante Fassung bringt, offenbart ein reiches und reifes Talent Diese Höhe erreicht nicht der Roman „Der Siegesaltar" (1912). Er ist weniger dichterisch, mehr gelehrt; aber vorzüglich ist Brjussov gelungen, farbenreiche und dabei wahre Bilder aus spätrömischer Zeit vor unsere Augen zu zaubern. Seine lyrischen Gedichte, unter denen wohl „Klänge" und die Sammlung „Schattenspiegel" (1911) die besten sind, zeigen nicht die Gewandtheit Balmonts, kommen gedanklich ihnen aber gleich. Er hat die Dichtungen des Vaters der Symbolik Verlaine hübsch ins Russische übertragen. Im Krieg hat er stark bramarbasiert 108).

Im Roman entwickelt sich, vielleicht noch bedeutender als Brjussov, Bjelyj (geb. 1880, Pseudonym für Bugajev). Er ist zugleich der Wissenschaftler unter den Symbolisten; seine umfangreiche Untersuchung über „Die Geschichte und Theorie des Symbolismus“ (1909) rechtfertigt die Ziele der Schule. Seine Anfangsleistung „Symphonien in Prosa" ist nicht hervorragend; sie können nicht erwärmen. Höher steht „Asche“ der Ruf der Verzweiflung, dass alles im Leben zu Asche vergeht; und ein recht bedeutendes Kunstwerk ist sein großer Roman „Die silberne Taube" (1909). Er ist der erste Teil einer beabsichtigten Trilogie „Ost und West“, die den Widerspruch zwischen dem Russentum und der westlichen Kultur klarlegen soll. Es handelt sich in der „Silbernen Taube“ um einen jungen Gelehrten, der alles gelernt hat, was der gebildete Europäer lernen kann, aber trotzdem eine ungeheure Leere in sich fühlt, und, da ihm der Westen mit seiner Kultur keine Heilung bringt, nun Gesundung in der Heimat sucht und sich da zu einer jener unzähligen Sekten, der unheimlich-mystischen der Tauben, hingezogen fühlt. Hier sieht er die Idealverkörperung des Weibes in der Tischlersfrau Matrona, die, gleichfalls von mystischem Wahnsinn umfangen, ihn immer mehr an sich lockt, um von ihm den Heiland zu gebären. Aber er entdeckt bald, dass er doch nach dem Westen gehört. Da töten ihn die Sektierer, die seinen Abfall merken, zu Ehren Gottes. Der Stoff, reichlich seltsam und mystisch, interessiert wohl weniger, mehr der Grundgedanke und die Ausführung. Die Bilder, die Bjelyj vom dörflichen und kleinstädtischen Leben gibt, sind echt und anschaulich; ebenso anschaulich tritt uns die Stimmung vor dem Ausbruch der Revolution entgegen. Den zweiten Teil der Trilogie bildet „Petersburg" (1914). Der Dichter ironisiert die verdorbene, wüste, lügnerische, gleißende Stadt, die als der Mittelpunkt der Kultur gilt. Auch dies Buch ist, so sehr der Stoff zur Realität zieht, phantastisch-traumhaft gehalten.

Eine stark ausgeprägte Dichternatur ist F. Ssollogub (Pseudonym für Tjetjernikov). „Das wirkliche Leben ist der Tod" ist seine Philosophie. Der Gedanke ist wohl am besten in seinem Novellenband „Das Buch der Zaubereien" (1908) zum Ausdruck gebracht; die Wirklichkeit ist nur Schein und Trug; der wahre Herr der Welt ist der Tod. Solche Auffassung vom Leben und der Wahnsinn liegen dicht beieinander. Es ist eine sonderbare Phantasie, wenn die verlassene Braut („Der Kuss des Ungeborenen“) ihr Elend nicht so sehr fühlt, weil ihr das kranke Hirn vortäuscht, sie habe einen Knaben geboren und der umgebe sie überall und liebkose sie — ein sonderbarer Gedanke, aber mit tiefer Innigkeit durchgeführt. Der Wahnsinn triumphiert auch in der Skizze „Schatten“, nicht der laute, tolle des „Roten Lachens“, sondern der langsam heranschleichende, nach und nach die Opfer, Mutter und Sohn, einspinnende. Der Versuch, seinen gut geschriebenen Roman „Der Dämon" zu dramatisieren, ist ihm misslungen. Dagegen hat sein Märchendrama „Nächtliche Tänze" — Grimms zwölf Königstöchter — hohen poetischen lyrischen Reiz. Störend wirkt öfter sein Trivialseinwollen. Am Kriege hat er sich mit lyrischem Paukenschlag und Trompetengeschmetter beteiligt.

Die Dekadenten stießen natürlich auf Widerstand. Ihr schlimmster Gegner, weil über starken Spott, scharfe Satire verfügend, ist wohl Burjenin gewesen, der Mitarbeiter von „Nowoje Wremja". Noch bevor die Dekadenten sich entdeckten, war er ein gefürchteter Kritiker. Er begann schon in den sechziger Jahren in dem Spottblatt „Der Funke", und seine erste Gedichtsammlung „Pfeile" (1881) sind wirkliche Pfeile, satirisch, karikierend, parodierend. Er besitzt ein offenes Auge für alle Schwächen, moralische und politische, und kleidet alle Bosheiten in einen sehr gefälligen Vers. Er hatte auch bedeutenden Erfolg mit seinem gemeinsam mit Ssuworin, dem Herausgeber von „Nowoje Wremja", verfassten Drama „Medea" (1884), das die Frauenfrage sehr scharf anfasst. Im neuen Jahrhundert gehörte nun seine „Liebe" den Dekadenten, in Vers und in Prosa, in „Nowoje Wremja", überall.

§ 74. So lange die revolutionäre Bewegung zur Aktion trieb, also bis 1905, waren die geistigen Kräfte der Jugend von ihr auf das stärkste in Anspruch genommen. Nun zerrann sie: die Kräfte aber waren derartig angespannt gewesen und hatten solche starken Erschütterungen erfahren, dass sie jetzt erschlafften. Solche Zeiten geistiger Ermattung sind der Wucherboden für das Geschlechtliche. So wächst um diese Jahre die Wucherblume der Erotik empor, das sexuelle Problem. Unter der großen Zahl dieser Leute, deren höchste Aufgabe ist, die erwartungsvollen, verlangenden Frauen und Mädchen zu zeichnen, ragen aber ein paar wirklich gut schreibende hervor.

Arzybaschevs (geb. 1878) erster aufsehenerregender, auch bei uns sehr bekannter Roman ist ,,Ssanin" (1907). Arzybaschev sieht alles nur vom sexuellen Standpunkt aus und urteilt einzig und allein nach diesem. Das ist selbst der Angelpunkt in solchen Romanen, deren Hauptthema auf ganz anderem Gebiete hegt, wie im „Millionär" (1908), wo der Multimillionär sich nach Menschentum sehnt, und da er es nirgends findet, sich tötet. Das trifft auch in seinem „Tod des Iwan Lande" (1904) zu, wo der junge, zarte Student als Gottessucher durch das Land wandt, und weil er seine große Idee sich nirgends erfüllen sieht, weit weg von allen menschlichen Behausungen geht und in der Einsamkeit stirbt Das wirkt noch unangenehmer, wenn sich mit dem Erotischen das Grausig-Phantastische mischt, wie in den Romanen: „Das Grauen", „Am letzten Punkt" (1910). Andrerseits darf aber nicht außer acht gelassen werden, dass alle seine Romane, auch seine Novellen („Aus dem Leben eines kleinen Mädchens" 1913, „Revolutionsgeschichten", „Aufruhr") treue Bilder von der russischen Intelligenz um die Zeit der Revolution geben und uns den Ausbruch der Revolution verstehen lassen.

Arzybaschev hat sich kurz vor dem Kriege auch als Dramatiker, natürlich in derselben Richtung, betätigt. Sein Drama „Eifersucht" will die moderne Frau an den Pranger stellen, ist aber nur ein gewöhnliches Ehebruchsdrama. Im Kriege, an dem er als Freiwilliger teilgenommen, hat er das Drama „Der Krieg" verfasst, von dessen Aufführung man jedoch infolge der Unruhen nichts gehört hat.

Sehr kühn in erotischen Bildern, jedoch keineswegs ungeschickt in Anlage und Ausführung, auch in Gedanken ist Dymov mit seinen polygamischen und brünstigen Motiven: „Nyu", „Knabe Wlaß" ; die dann von der weiblichen und männlichen Demimonde verschlungene Frau Wjerbizkaja („Die Schlüssel zum Glück"); Kuprin mit seinen Bordellerzählungen („Die Grube"); und leider zu ihnen auch übergehend Kusmin in seinem neuesten Roman „Die Reisenden". Sonst ist Kusmin ein recht beachtenswerter Lyriker und Novellist. Seine „Novellen" (1909) zeigen glänzenden Stil und blendende Gedanken.

Es bedarf übrigens kaum der Hervorhebung, dass Frau Wjerbizkaja nicht die einzige Schriftstellerin der letzten Zeit ist, im Gegenteil, ihre Zahl ist Legion. Sie beackern eigentlich alle das erotische Feld, und zwar das ganz sumpfige. Die besseren sind Frau M. W. Krestowskaja, die Tochter des „Petersburger Spelunken“ Krestowskij, Frau Dmitrijewa, Frau Ssmirnowa, und mit mehr Bildung und Geschmack Frau Sinai da Hippius, die Frau Mjereshkowskijs.

§ 75. Arzybaschevs und der anderen Berühmtheit hat nicht lange gedauert. Alle verachtend, die Symbolisten für Klassiker erklärend, ist die neue Richtung der Futuristen 108), Egofuturisten, Lucisten emporgestiegen. Sie wollen die „Wortbefreier" sein. Damit stehen sie aber den Symbolisten nicht so fern als sie tun; sie übertrumpfen sie nur durch noch kühnere Bilder, eine noch gewagtere Sprache, noch gewagtere Neubildungen, so gewagt, dass man nicht mit Unrecht gesagt hat, ihre Sprache sei gar kein Russisch mehr und man brauche für sie ein noch zu schreibendes Lexikon. Im Übrigen tout comme chez nous! Je schreiender die Farben, je höher die gesungenen Töne sind, desto größer erscheint sich der Futurist. Mit diesen „grünen" Futuristen will nichts zu tun haben der Egofuturist Ssjewjerjanin, Egofuturist, weil er eigene Wege und eigene Ziele hat. Auch er hat ungewöhnliche Reime, ungewöhnliche Wortbildungen tmd wirtschaftet in seinen Dichtungen mit dem Neuesten, den Propellers und den Automobilen. Aber bei allem ist er ein Dichter. Das zeigen schon seine ersten Gedichtbücher „Der donnerkochende Becher" und „Die goldene Leier" (1912), die im Nu vergriffen waren; das tritt noch besser in der Gedichtsammlung „Victoria regia" (1915) hervor. Neue gedankliche Gesichtspunkte, neue Stoffe bat er gleichfalls nicht. Sein Stoff ist der alte, der der Anakreontik. Bezeichnend nennt er seine letzte Sammlung „Ananasse in Sekt“. Gegen die teutonischen Barbaren ist er kräftig hergezogen.

§ 76. Neben diesen Schulen gibt es Einspänner, und zwar mit nicht unbedeutender dichterischer Veranlagung. In der Lyrik den vortrefflichen K. R. (Konstantin Romanov), den Großfürsten Konstantin Konstantinowitsch. Außer seinen lyrischen Gedichten kennen wir ihn als vorzüglichen Übersetzer Shakespeares und Schillers; er hat auch ein Versdrama „Der König von Juda" geschrieben, das sich durch Wohlklang und Wohllaut auszeichnet. Durch seine wunderhübschen Kindergeschichten bekannt ist. Gar in (Pseudonym für A. Michailowskij); wenn er dies Gebiet verlässt, ist er allerdings schaurig. Im Drama und im Roman leisten recht Bedeutendes die beiden jüdischen Schriftsteller Tschirikov und Aisman. Beide sind vortreffliche Schilderer der Juden, der Intelligenten und dann der in ihrer Denkweise noch im Ghetto Lebenden. Ein dritter Jude, Iuschkjewitsch, wühlt im jüdischen Elend und in der jüdischen Unmoral.

§ 77. Der Symbolismus ist gestorben; der Futurismus liegt im Sterben. Warum? Weil sie lebensfern sind, weil sie auf die Form größeren Wert legen als auf den Inhalt. Und was nun? Es will beinahe scheinen, als brechen wieder bessere Zeiten für die russische Literatur herein, als kehre ein geläuterter, geklärter Realismus ein, keiner mit einseitig aufdringlicher Tendenz, keiner mit Schwelgen in Schmutz und Laster, keiner mit Extremfexerei. Dafür spricht eine ganze Reihe junger Kräfte. Der älteste von ihnen ist Bunin (geb. 1870), der mit seinen ersten lyrischen Gedichten (1887) noch im symbolischen Lager steht, der sich jedoch auch hierin von den andern durch Zartheit und Feinheit der Töne wohltuend abhebt. Seine Novellen und Romane sind aber vollkommen realistisch gehalten und auch nicht mit Autos und Propeller, sondern er geht wieder in den stillen Frieden der Gutshöfe, in die einsamen, verlorenen Weltwinkel. Sein großer Roman „Das Dorf" (in Einzelausgabe 1910) zeigt eine vortreffliche Schilderung des Bauern und Kleinbürgerlebens, nicht mit starker Nervenaufpeitschung, sondern wie es sich Tag für Tag abspielt. Dass er Longfellows „Hiawatha" übersetzt hat, zeichnet ihn vortrefflich.

Noch höher steht Graf Alexej Tolstoj, der 1910 mit seiner ersten Novellensammlung hervorgetreten ist. Er nimmt seine Stoffe aus demselben Milieu wie Bunin, aus dem Leben auf den alten Gutshöfen. Er trifft den russischen Volkscharakter ausgezeichnet. Er hat sich auch dem Drama zugewendet, mit Erfolg. „Die Gewalttätigen" (1913) geben ein lebensvolles, anschauliches Bild aus demselben Milieu, aus dem Leo Tolstojs „Macht der Finsternis" geboren ist.

Gesunder Realismus durchzieht auch das Erstlingswerk des jungen Ssurgutschov, „Das Handelshaus" (1913), das, wie schon der Titel sagt, in eine ganz andere Welt führt. Und es gehören hierher auch wohl die Romane Kraschenninikovs, die mehr auf Seelenstimmung als auf Milieuschilderung hinzielen: „Die Kinder", „Die Schwestern", „Ein Lebensmärchen", „Jungfräulichkeit", die beiden letzteren von großer Zartheit und Feinheit der Empfindungen.

Wohin die Fahrt weiter geht? Das kann niemand sagen. Der Krieg selber hat, abgesehen von kleinen Entgleisungen, keinen Dichter gefunden, ebensowenig der Bolschewismus. Russland hat seit Puschkin, trotz aller Auswüchse, eine außerordentlich schöne, große, reiche, selbständige Literatur gezeitigt. In die weitesten Kreise hat sich der Drang nach Bildung, Wissen, Kunst gelegt; es sind heute nicht mehr einzelne, sondern das Volk sucht Gesundheit und Genuss in den Schöpfungen seiner Dichter. Und das Volk strebt weiter und dürstet nach immer neuen Quellen und will auch gern aus dem Weltenstrom fremder Zivilisation und Kultur trinken. Und die Besten wollen ihm darin helfen. Das Moskauer Künstlerische Theater wurde, wie gesagt, mit dem Ziele Njemirowitsch-Dantschenkos gegründet, den Dichtungswerken Tschechovs und Hauptmanns eine Heimstätte zu schaffen. Es ist eine Heimstätte für sie geworden und ebensosehr für Tolstoj, Gorkij, Andrejev und für alle besseren, gehaltvolleren Stücke russischer Kraft, und auch nicht allein für Gerhart Hauptmann, sondern für unsere und fremde Klassiker und Modernen, für Shakespeare, Goethe, Schiller, Molière, Maeterlinck, Ibsen (eine sehr bedeutende Darstellerin der Gestalten der beiden letzteren war die 1909 gestorbene Kommissarzewskaja), für Strindberg, Stucken, Wedekind, Hardt, Shaw. Und was sich dies Theater als Ziel gesetzt, das hat auch manches andere Theater aufgenommen. Welche Rolle spielt in der Oper Richard Wagner! Und was mit dem Theater geschehen ist, das gilt für die gesamte Literatur. Es sind heute in Russland weite Kreise nicht nur in der einheimischen Literatur gut bewandert, man kennt gut außer Goethe und Schiller auch Schlegel, Novalis, Hoffmann und von den Neueren und Neuesten die Viebig, Dehmel, Knut Hamsun, die Lagerlöf, Maupassant, Kipling. Sollte das alles verloren sein? Wir möchten mit den schönen Worten schließen, mit denen Gorkij, Andrejev und andere 1916 ihre Kundgebung an die ausländischen Berufsgenossen geschlossen haben: „Wir meinen, dass die Böswilligkeiten in den menschlichen Herzen erlöschen und die gegenseitigen Beleidigungen ihre Schärfe verlieren werden, und wenn sich auf den von den Schützengräben aufgewühlten und vom Menschenblute durchtränkten Feldern wieder die Getreideähren erheben, wenn Blumen die Gräber der Gefallenen bedecken,, dann wird die Zeit kommen, in der die entzweiten, jetzt so weit voneinander getrennten Völker wieder auf einem gemeinsamen, großen, allgemein menschlichen Pfade wandeln. Wir glauben und hoffen!"
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte