Die „Anklageliteratur", ihre Ausströmungen und Genströmungen. — Die Narodniki
. . . . hatten die Regierung, die gesellschaftlichen Zustände auch . . . . Lermontov und Turgenjev und Gontscharov. Ihre Anklagen . . . . . in zweiter Linie; in erster Linie standen für sie die Analyse der menschlichen Seele, das innere Erlebnis, das Künstlerische. In der Anklageliteratur 93) ist es eher umgekehrt: sie hat praktische Zwecke im Auge, sie will Missstände aufdecken, sie scharf beleuchten, um sie dann zu bessern; das Künstlerische kommt erst hinterher.
§ 49. An der Spitze der Ankläger steht Ssaltykov (1826 — 1889), anfangs unter dem Pseudonym Schtschedrin 94) schreibend. Seine Satire überragt alle vorhergehende, in der Form wie im Inhalt. Sie wäre noch viel schärfer, schneidender gewesen, hätte nicht aus Furcht vor der Zensur so manche bittere Pille vom süßesten Zucker umgossen werden müssen. Vieles tritt aus diesem Grunde in der Form der Allegorie auf und wird, je weiter wir uns von jener Zeit entfernen, um so unverständlicher. Die weitschweifige Sprache, die uns heute recht veraltet erscheint, ist gleichfalls zum guten Teil auf dies Konto zu setzen.
Russland hat zu Ssaltykovs Lebenszeit verschiedene Phasen der politischen und sozialen Entwicklung durchgemacht; sie alle begleitet sein Spott, bei allen findet sein durchdringender Blick die Mängel und Fehler heraus, und sie geißelt seine scharfe Zunge mit glänzendem Witz, mit glänzender Schlagfertigkeit. Bisweilen geschieht es mit überlegenem Humor, bisweilen aber auch mit dem Herzblut, denn er ist Patriot, der seinem armen Lande helfen will, und das geht nicht mit Vertuschen und laisser aller, sondern nur mit dem schonungslosen Aufdecken aller Lüge, aller sittlichen Gebrechen.
Der junge Staatsbeamte hatte sich recht früh durch Gedichte bekannt gemacht, dann durch satirische Erzählungen, deren Stoff und Art der Behandlung an Dostojewskij und Njekrassov erinnern. Diese satirischen Erzählungen gefielen der Regierung so wenig, dass sie ihn — 10 Jahre, von 1848 bis 1858 — in der Gouvernements Verwaltung von Wjatka festsetzte. Die Früchte der Verbannung waren für den dann bald den Staatsdienst quittierenden die „Skizzen aus dem Gouvernement“ (1856 bis 1857); sie machten seinen Namen sofort in Russland populär. Sie sind, sich nur wenig von Gogols Typen unterscheidend, ein Hohn auf den Dünkel der Beamtenwelt, ihre moralische Minderwertigkeit, ihr Nichtstun, ihre Bestechlichkeit, ihre Trunkenheit. Der durch die „Skizzen" erworbene Ruhm steigerte sich fortgesetzt, nachdem er mit Njekrassov die Herausgabe der „Vaterländischen Annalen'' übernommen hatte.
Der verlorene Krimkrieg zeitigte eine gewaltige Umwälzung nicht nur in politischer Hinsicht, sondern im ganzen Volksdenken. Wie verlief jedoch diese Aufwärtsbewegung? Wie sieht Ssaltykov dies? Die Leute sind jetzt alle liberal , haben neue Ideen, berauschen sich an ihnen, schwatzen, debattieren und tun — nichts. Diese Leute geißelt er in „der Stadt Glupov" (Dummstadt) und, auf die Beamten besonders angewendet, in „den Zeichen der Zeit".
Die Jahre schreiten fort: die Aufhebung der Leibeigenschaft ist gekommen, mit ihrem wirtschaftlichen Umschlag. Stark leidet darunter der Landadel, der sich nun neue Existenzbedingungen und Existenzmittel suchen muss. Er wendet sich nach Petersburg und hofft dort die Möglichkeit zu finden, das frühere Leben fortzusetzen, durch Nichtstun und durch Vergnügungen; andere versuchen aber auch, im geheimen oder offen, die Wirkungen des Gesetzes zunichte zu machen und die früheren Zustände zurückzuführen. Diese Leute trifft er mit seinem Spott im „Tagebuch eines Provinzialen in der Hauptstadt" und in „den Briefen aus der Provinz" (1869). Besonders werden hier wie in seinen „Männlichen und weiblichen Pompadours" und in „den Herren Taschkentern“ 95) die Gouverneure (Pompadours) mit ihren Frauen und die Beamten (Taschkenter) mitgenommen, die sich liberal und freidenkend gebärden, im Grunde genommen aber die früheren Taschkenter geblieben sind; denn „Taschkent ist das klassische Land der Hammel, die immer zum Geschorenwerden bereit sind und denen nach dieser Operation von neuem die Haare mit erstaunlicher Schnelligkeit wachsen. Zu dieser Operation braucht man weder Ehre noch Gewissen, noch Verstand noch Wissen — nötig sind nur fest zupackende Hände".
Dieselbe scharfe Waffe führt er weiter in „der Geschichte einer Stadt nach den Originalurkunden" (gemeint ist wieder Glupov), in „der Zuflucht Monrepos" (1879), in „Jenseits der Grenze". Der Hauptangriff gilt immer und immer wieder den Beamten, dann auch den Kulaks, d. h. den gewissenlosen Landaufkäufern und Schiebern; er schrickt aber auch nicht vor den höchsten Personen zurück — es war sehr gewagt, mit Decknamen natürlich, Alexander I. und seine Pfeiferscha, d. i. Frau von Krüdener, dann Araktschejev usw. anzugreifen.
Aus den siebziger Jahren stammt ein Roman „Die Herren Golowlev". Ssaltykov gibt darin ein sehr düsteres Sittengemälde vom Verfall einer begüterten Landadelsfamilie, die durch Nichtstun, Trunksucht, durch Mangel an Kraft, sich in die neuen durch Aufhebung der Leibeigenschaft bedingten Verhältnisse zu fügen, durch Mangel an — Liebe, die nun einmal zu allen menschlichen Lebensaufgaben nötig ist, zugrunde geht.
Schwer traf ihn das Verbot der „Vaterländischen Annalen" im Jahre 1884, nachdem er sie anderthalb Dezennien mit großem Geschick durch alle Fährnisse hindurchgesteuert hatte. Sein Lebenszweck und sein Lebensunterhalt waren damit unterbunden. Der müde Mann zog sich zurück und schrieb neben kleinen, religiösen Charakter tragenden „Märchen" nur noch seine „Erzählungen aus Poschechonien " (eine Art Abdera), ein Kulturbild aus der Zeit vor der Reform, fast ebenso düster und mit ähnlichem Hintergrund wie „Die Herren Golowlev", aber doch versöhnend, voll christlicher Liebe und Humanität.
Ssaltykov ist wieder einmal eine Kolossalfigur, die aus der Zeit herausragt. Dieselben Bestrebungen haben jedoch viele, keineswegs unbedeutende Männer, nur reichen sie nicht an seine Größe. Die radikale Jugend, welcher der revolutionäre Herzen zu wenig revolutionär geworden war, sammelte sich jetzt um Ssaltykov und bald um noch schärfere Ankläger.
Njekrassov (1821 — 1877) hatte den von Puschkin gegründeten „Zeitgenossen" 1847 übernommen, und wenn sich dieser in den ersten Jahren auch noch ziemlich harmlos gab, so hatte er doch von 1855 ab die Maske immer mehr fallen lassen und zwar so, dass 1866 sein Schicksal besiegelt war; er wurde suspendiert. Dann redigierte Njekrassov, wie wir gesehen, mit Ssaltykov zusammen „Die Vaterländischen Annalen". Er selber beteiligte sich daran jedoch meist nur belletristisch, durch Gedichte, schön in Form und Inhalt, aber bitter, gallig, worüber später (§ 51).
Böse, aber der Jugend sehr genehme Kritiker waren Tschemyschewskij, Dobroljubov und später Pissaijev, reine Tendenzkritiker, deren ästhetische Urteile durch den parteipolitischen Standpunkt beeinflusst wurden; sie wollten vor allem parteipolitische Agitatoren sein.
An Gelehrsamkeit, Schärfe des Urteils, an Charakter überragt Tschemyschewskij 96) (1828 — 1890) bei weitem die andern. Er war Gelehrter; er hat ein Werk über Lessing geschrieben (1857), dann Adam Smiths „Untersuchung über den Volksreichtum" bearbeitet, im Alter Schlossers „Weltgeschichte" übersetzt. Auch treffliche Aufsätze über Gogol, über Bjelinskij sind aus seiner Feder geflossen, und in diesen literarischen Betrachtungen tritt der Anhänger der Lessingschen Lehren markant hervor. Aber die Literatur fesselte ihn nur in der ersten Zeit; nachdem ist er ganz und gar Sozialpolitiker geworden. Seine politisch-ökonomischen Aufsätze nehmen in den Jahren 1855 bis 1864 einen weiten Raum im „Zeitgenossen" ein und erregten großes Aufsehen. An den „Vaterländischen Annalen" konnte er sich nicht mehr beteiligen, da saß er schon in Sibirien — 20 Jahre. Neben seinen politischen Aufsätzen trug sein Roman „Was tun?" (1863) die Schuld daran. Dieser radikale Roman mit seiner äußerst scharfen Beleuchtung der neuen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, mit der neuen Auffassung von der Ehe und dem Heraustreten der Frau in die Öffentlichkeit — die Materie ist ungefähr dieselbe wie in Turgenjevs „Neuland" und in Tolstojs „Lebendem Leichnam" — wurde für staatsgefährlich erachtet.
Noch schärfer, aber weniger gelehrt und weniger gründlich — an beiden hinderte ihn ein früher Tod — ist sein Schüler Dobroljubov (1836 — 1861). Er führte sich auch mit einigen und zwar glänzenden Aufsätzen über Literatur, über Turgenjev, Gontscharov, Ostrowskij ein, aber mehr zogen ihn die Philosophie und vor allem reale, die Masse des Volks berührende Fragen an, wie Pädagogik, politische Ökonomie. Im „Zeitgenossen" leitete er die satirische Abteilung, „den Pfiff, und schrieb hier unter dem Pseudonym Konrad Lilienschwager schonungslose, ätzende Artikel gegen das langsame Fortschreiten der Reform, gegen die Minderwertigkeit der liberalen Errungenschaften. — Eine noch schärfere Tonart als „Der Pfiff'* schlug nach Dobroljubovs Tod „Der Funke" an.
Den extremsten Standpunkt von diesen vertritt Pissarjev (1841 — 1868). War für Tschemyschewskij das Schöne einzig und allein das Leben gewesen, hatte Dobroljubov den Zweck jeder Kunst und jeder Literatur nur als einen untergeordneten, „dienenden" angesehen, so bestreitet Pissarjev (im „Zeitgenossen", nachher im „Russischen Wort") jeden Nutzen der Poesie und verwirft aus diesem Grunde den ganzen Puschkin. Das sind natürlich durch die Hitze des Kampfes erzeugte Übertreibungen, konnte er sich doch für Turgenjevs Basarovfigur begeistern. Aber er will auch gar nicht Ästhet sein; sein Interesse gehört den Naturwissenschaften, die er in die Tiefe des Volkes hineintragen will. Für die brausende, vorwärts stürmende, materialistische, sozialistische, atheistische, nihilistische Jugend war er eine unbedingte Autorität, so laut sie auch schrie, sie erkenne nirgends eine Autorität an.
§ 50. Satire und Kritik kommen von Gelehrten und gehen zu Gelehrten; für die Masse des russischen Volks waren sie unverständlich und einflusslos. Eine die breiteren Schichten interessierende, diese zum Kampfe gegen die ungeheuren Missstände und Missbräuche aufrüttelnde „Anklage"-literatur musste also eine andere Form finden. Das war der Roman.
Der Roman hatte schon vorher einen recht breiten Raum eingenommen; jetzt drängt er die andern Dichtungsarten vollends beiseite und bekommt eine außerordentlich weite und große Tragkraft. Der Roman wird ein anderer als früher. Er ist auch realistisch, naturalistisch, aber schon der Stand, die Geburt, die Lebensbedingungen seiner Autoren geben ihm eine besondere Färbung. Die früheren Romanschriftsteller waren gebildete Leute gewesen, viele hatten die Universität hinter sich; sie hatten zum großen Teil dem Adel, dem wohlhabenden Adel angehört, waren daher in der Lage gewesen, durch Reisen ins Ausland ihre Bildung zu erweitern und zu vertiefen; sie hatten infolge ihrer Umgebung und ihrer Kenntnisse einen allgemein menschlicheren Blick, allgemein menschlichere Auffassungen und Anschauungen gewonnen. Andrerseits aber war der Blick nach einer Richtung hin einseitig geblieben: der Abstand zwischen ihnen, zwischen ihrer Lebensatmosphäre und der jener Leute da unten war zu groß, als dass etwas anderes als eine höchst oberflächliche Kenntnis dieser herauskommen konnte. Jetzt wurde der Mann des mittleren, des unteren Standes, der Proletarier Schriftsteller, der Mann, der selber die Not und das Elend und den Hunger mit angesehen und mit durchgekostet hatte, der unter der schwersten Arbeit und den schwersten Entbehrungen sich allenfalls bis zur Universität durchgerungen hatte, um dort doch zu scheitern, weil die Existenzmittel nun ganz versagten. Diesen Unterdrückten, den Proletariern, zu denen sie also selber zählten, gehört ihr Mitgefühl; die Armen und ihre Leiden wollen die der übrigen Welt zeigen, damit man ihnen hilft, damit man Stellung, nimmt für sie und gegen ihre Unterdrücker. Unterdrücker waren die Regierung sowohl wie die Gesellschaft. Gegen beide richtet sich also der Roman, er wird damit politischer Tendenzroman.
Meist sind die Autoren recht objektiv, was nicht so schwer war, weil das Elend der Unterdrückten ebensosehr wie die Herzlosigkeit und Grausamkeit der Mehrzahl der Unterdrücker nur allzusehr in die Augen sprang. Dass sich anderseits manche diese Objektivität nicht bewahren, sondern einseitig ungerecht übertreiben, verwundert auch kaum.
Wir bekommen also Bilder nur der Not und des Elends, Bilder von hungernden, dürstenden, frierenden Menschen, Bilder auch von Trunkenbolden und Dieben, Bilder der gemeinen Wirklichkeit — lange vor Zola und ohne seine Pornographie.
Der unterdrückteste, rechtloseste aller Stände war vor der Reform der Bauernstand gewesen; ihm gilt daher der größte Teil der Schilderungen. Man hat für alle diese Schriftsteller den etwas weit fassenden Namen Narodniki (Volksmaler) geprägt.
Grigorowitsch (1822 — 1899) war gelernter Maler und wandte sich auch später wieder von der Literatur zur bildenden Kunst zurück. Es waltet daher in ihm bei aller realistischen Auffassung doch ein ausgeprägtes ästhetisches Gefühl vor. Seine erste Erzählung „Das Dorf" (1847) wurde von Bjelinskij freudig begrüßt. Es folgten in den fünfziger Jahren u. a. „Anton Gorjemyka" (Kummervoll), ,,Die Fischer“, ,,Die Proletarier“, „Nebenwege“ — alle in denselben Bahnen; das Elend der Bauern, die Härte der Verwalter, die Laune der Gutsherrn sind ihre Stimmungsthemata. „Die Fischer“ zeichnen sehr schöne landschaftliche Bilder aus. Auch das Beamtentum und den Beamtendienst kennt er gut; die Skizze ,,Die Nachbarin“ zeichnet beides vorzüglich.
Bedeutender als Grigorowitsch ist Pissjemskij (1820 — 1881). Er hat Ähnlichkeit mit Dostojewskij; nur kennt er nicht dessen feine Seelenanalyse , sondern schildert die Welt der Tatsachen in ihren unbarmherzigen Folgen. Seine ersten Romane laufen noch in romantischer Richtung, und zwar in der Byronschen, aber seine „Tausend Seelen“ (1858) zeigen schon die sog. gebildete Gesellschaft in ihrer Oberflächlichkeit, ihrem Egoismus, ihrer Genusssucht in derb realistischer Weise; ein aus kleinen Verhältnissen heraufgekommener Vizegouverneur eines Provinzstädtchens — 1.000 „Seelen" — ist der Typ dieser Leute. Der Roman fand großen Beifall.
Die Reform ging ihm zu langsam vorwärts, weil allzuviele unwissende und unfähige Leute sie lenkten, weil allzu vieles total missverstanden wurde. Sein bester Roman „Das aufgewühlte Meer“ (1863) — das ist der Aufruhr, der in der Reformbewegung tobt — spiegelt dies wieder. Zu dem Missverstandenen der Reform zählt er auch die Art und Weise, wie sich die Frau emanzipiert. Das ist scharf gegeißelt, mit erotischem Einschlag, in der „Ehe aus Leidenschaft", in „Ist sie schuldig?" Er wühlt dabei recht tief im Schmutz herum. Dieses scharfe Urteil über die Frau mildert dann der Roman „Im Strudel" (1863). Pissjemskij will das feste Band der Familie. Aus den siebziger Jahren stammt noch eine ganze Reihe von Romanen und Dramen; die Dramen, z. B, „Die Bürger", „Die Freimaurer" hatten keinen Erfolg.
Jünger ist Pomjalowskij (1835 — 1863), Sohn eines Diakonus und selber im geistlichen Seminar erzogen. Daher die Lebenstreue seiner „Skizzen aus der Burssa" (d. i, das Priesterseminar), die in grellen Farben die verkehrte Erhebung in den Seminaren beleuchteten; sie fanden in dieser Zeit der Schulreform großen Anklang. Pomjalowskij hat mancherlei geschrieben — am gelesensten war sein ,,Molotov" (1861), einer von jenen Helden, die nachher Gorkij so propagiert hat, ein Barfüßler, der Armut und Hunger bis zur Neige auskostet, der aber alle Leiden und Mühsale ohne viel Klagen erträgt und immer weiter arbeitet, weil er etwas hat, was Gorkijs Helden nicht haben, ein Ideal, kein besonders hohes, aber doch eines: er will so viel erwerben, dass er im Alter behaglich wie ein Bürger leben kann. Molotov ist dabei keine Idealfigur, er ist vollkommen realistisch hingestellt mit all den unangenehmen Eigenschaften des Proletariers, mit seinem Misstrauen, seinen plebejischen Manieren, seiner Ungebildetheit. Diese Ungebildetheit erscheint Pomjalowskij als die Wurzel alles Übels, und deshalb suchte er ihr auch praktisch in seinem Privatleben entgegenzutreten; seine Lieblingsidee war, Schulen für Arme einzurichten.
An die Figur des Molotov erinnern sehr die Gestalten A. Michajlovs (Pseudonym für Scheller). Er wurde hauptsächlich durch zwei Romane bekannt: „Faule Sümpfe" (1874) und „Das Leben Schupovs" (1865}. Die Gutsbesitzer sind die Despoten und Bösewichter, die Gutsbesitzerinnen sehen alle Bauern und Diener als Pöbel an und verachten und peinigen sie, während für diese das Leben nur eine Kette bitterer Prüfungen und Leiden ist. Seine Gestalten verraten übrigens hier und da die Einwirkung Dickens'. Auch er wollte praktisch helfen, er hielt eine Schule für arme Kinder.
Ebenso malt, mit Übertreibung, das Elend des Dorflebena Sassodimskij. In seinem besten Roman „Die Chronik des Dorfes Ssmurin" (1874 — unter dem Pseudonym Wologdin erschienen) tritt die ideale Figur eines allen andern voraneilenden Schmiedes auf im Gegensatz zu dem reichen, rückschrittlichen, lasterhaften Fabrikanten.
Noch düsterer schildert Armut und Elend Reschetnikov in seinem . . . . das sind die als Burlaken (Barken- . . . . . Kama vermietenden Bauern — . . . . . . . Mädchen erstrebt, das es sich aber Freudenmädchen wird, wohl ein . . . .
Dieselben trostlosen Bilder von Armut, Trunk, Laster gibt Lewitovin seinem ,,Kummer der Städte und Dörfer“. So sehr der Inhalt beider Schrittsteiler aber zusammenläuft, eben so sehr geht ihr Stil auseinander. Der Reschetnikovs ist entsprechend der nördlichen Heimat des Verfassers rau und hart, während der Lewitovs den Wohlklang und die Musik des Südens hat. Weniger schroff tritt das Elend in seinen „Steppenskizzen“ (1861) hervor, wo liebliche Naturbilder, glückliche Idyllen dann und wann hineinleuchten.
Traurig, wiederum ganz traurig stimmt Naumov in seinen Romanen „Im tiefen Abgrund“ und „Im vergessenen Land" (1858). Das vergessene Land ist Sibirien. Naumov zeigt die Armut, die Unterdrückung der sibirischen Bauern, die allerdings nie Leibeigene im europäischen Sinne waren, dafür aber unter der Faust der reich gewordenen Bauern lebten, die Landstrich für Landstrich ankauften und aussogen. Wir bekommen auch sonst treffliche Einblicke in das Land und in die Sitten des fernen Ostens.
Gleb Usspjenskij (1840 — 1902) steht über den Vorhergehenden; er ist nicht bloß Photograph, er will auch zeigen, dass es in diesen verlumpten, schmutzigen, betrunkenen, betrügerischen Gestalten trotz alledem etwas vom Seelenleben gibt. Er malt den Auswurf der Stadt mit seiner moralischen Verwilderung, mit seinen tierischen Trieben in „den Sitten aus der Rasstjerjajewa-Straße“ (liederliche Straße) und in „dem Bankerott“ (beide 1866 im „Zeitgenossen“ erschienen). In ebenso erschreckender Weise schildert er das ländliche Proletariat, so dass man ihn eine Zeitlang für einen Anhänger der Leibeigenschaft gehalten hat. Das war er aber keineswegs; er wollte nur die Illusionen, denen man sich gern über die Befreiten hingab, zerstören, er wollte diese richtig zeigen, damit man ihnen an richtiger Stelle helfen konnte. Seine besten Werke sind hierin „Neue Zeiten und neue Sorgen“ und „Die Macht der Erde“ (1882), eine Anklage für beide Teile, für die Gutsbesitzer wie für die Bauern. Usspjenskij geht mit den scharfen Waffen der Satire, auch des bissigen Humors den öffentlichen Einrichtungen des mit der Bauernemanzipation zusammen geschaffenen Mir und der Obschtschba zu Leibe, d. h. der Gemeindeverwaltung, in deren Hand das den Bauern überwiesene Anteilland war; der einzelne Bauer selber war nicht Besitzer. Er griff diese Institutionen an, weil sie die Kräfte des Individuums zu sehr lähmten und weil sie andrerseits die unmoralische Geldwirtschaft großzogen.
Der Seelenanalytiker und zwar der der kranken Seelen wird er ganz in seinen letzten Novellen „Das kranke Gewissen“. Wenn es ein Heilmittel in all dieser Trostlosigkeit gibt, dann kann dies nur Bildung, Bildung, Bildung sein, und Genesung in der schönen, freien Natur.
Slatowratskij möchte man beinahe den Antipoden Usspjenskijs nennen. Er sieht das Heil gerade im Mir, in der Obschtschina, im Artjel (Arbeitergemeinschaft); Voraussetzung ist dabei der Geist der brüderlichen Liebe. Usspjenskij will der Intelligenz helfen, Slatowratskij achtet sie gering; Wert hat für ihn nur die Arbeit des Arbeiters. Usspjenskij mildert die Schrecken des Elends etwas durch den darüber flutenden Humor, Slatowratskij verstärkt sie noch durch sein Pathos. Seine erste, 1866 im „Funken" veröffentlichte Skizze „Die Viehseuche" gab er unter dem Pseudonym „Der kleine Schtschedrin" heraus, etwas gewagt, denn von der Ssaltykov doch gerade charakterisierenden scharfen Satire hat er wenig. Slatowratskij hat viele, dicke Bände geschrieben, in denen besonders der reich gewordene Bauer der Peiniger ist. Sein bestes Werk ist „Fundamente" (1884). Hübsche Schilderungen bieten „Die Wochentage auf dem Lande" (1882). Land und Landleben zeichnet er trefflich.
§ 51. Die „anklägerische" Lyrik konzentriert sich eigentlich in einer einzigen Person, allerdings einer bedeutenden, Njekrassov (1821 — 1877). Als Herausgeber kennen wir ihn (§ 49). Njekrassov ist vor allem aber Lyriker“ und zwar ein Lyriker von Gottes Gnaden. Seine Dichtungen reißen durch die Macht des Gedankens, die Tiefe der Empfindungen, die Musik der Form hin. Mit heiligem Eifer tritt er für den Armen, den Darbenden, den Geprügelten ein, kämpft er gegen die Rohheit und Unwissenheit der Herrschenden wie der Beherrschten. Dem Bauern gilt seine Liebe, weil da die Not am größten ist. Das wusste er aus eigener Erfahrung: er war der Sohn eines verarmten Gutsbesitzers. Gedichte wie „Die Heimat" und „Die Ungläubigen" sprechen von dieser Not.
Njekrassovs erste Gedichte gefielen Bjelinskij, und der half dem jungen darbenden Studenten. Aber Bjelinskij starb bald, und Njekrassov stand wieder dem Nichts gegenüber. Da rettete ihn „ Der Zeitgenosse", der durch seine Gewandtheit bald zu der gelesensten Zeitschrift Russlands wurde. Nach dem „Zeitgenossen" übernahm er, wie wir gesehen, die „Vaterländischen Annalen", und so war er gegen äußere Not gesichert; die sehr anstrengende Tätigkeit zermürbte jedoch seine Kräfte.
Njekrassovs Muse ist die Muse der Trauer, der russischen Melancholie, sie ist aber zugleich auch die Muse der Anklage und der Rache. Er geht auf das schärfste mit den Sünden der Väter ins Gericht, er geißelt jedoch nicht minder die Sünden der Jugend, er geißelt alle Lüge, allen Schmutz. Viele herrliche Gedichte geben uns solche Stimmungen wieder: „Das vergessene Dorf", „Vor dem Regen", „Im Hospital", das in Gedanken, Empfindung, Versmaß einzig großartige „Begräbnis", dann die größeren Dichtungen „Die Bauernkinder", „Der Korbflechter", „Der Frost", „Die Stille", und bitterste Satire enthält sein großes Epos, an dem er von 1866 bis 1876 gearbeitet hat, „Wer lebt glücklich in Russland?" mit der Antwort „Der Trunkenbold".
Alle diese Dichtungen 98) zeigen aber nicht allein, welch feines Ohr ihr Schöpfer für die traurigen Erscheinungen des Menschenlebens hatte, sondern auch welch scharfes Auge er für die Schönheit und die große, versöhnende Güte der die Menschen umgebenden Natur besaß.
Njekrassov ist der Anwalt des Bauern, der Herold des Proletariats, aber nur, soweit sie in der Not sind — wenn die Not andere Personen trifft, dann ist er auch bei ihnen zur Hand: die Dekabristenfrauen Fürstin Trubezkaja und Fürstin Wolkonskaja und ihr und ihrer Männer furchtbares Los sind mit derselben Liebe, demselben tiefen Mitgefühl behandelt wie irgendein gequälter Proletarier.
Am ehesten reicht an Njekrassovs Poesie noch die Nikitins und Pleschtschejevs. Hervorragend sind Nikitins 99) Volkslieder; Gefühlstiefe und Einfachheit sind ihre Merkmale; sie sind fast den Kolzovschen ebenbürtig. Im „Kulak" ( — Landaufkäufer — 1858) greift er, scharf in die Zeitfragen hinein.
Pleschtschejev ist aach ein „Ankläger", ein sehr scharfer, freilich nur im Anfang. Er hatte schon in seinen ersten Gedichten (1846) für „die höchsten Ideale des menschlichen Herzens" geschwärmt und seine „Brüder vorwärts ohne Furcht und Zweifel auf zum Heldenkampf" gerufen, d. h. zur Revolution. 1849 hatte er dann an der Verschwörung Petraschewskijs persönlich teilgenommen. Die Folge war, dass er zum Tode verurteilt, dann aber zu zehn Jahren Verbannung nach Orenburg und nach dem Kaukasus begnadigt wurde. Allzuviel Hoffnung hatten ihm diese zehn Jahre nicht eingebracht; nach seiner Rückkehr sehnte er sich nicht nach dort. So sind seine späteren „Gedichte" (1858) und seine „Neuen Gedichte" (1863) düster, melancholisch, jedoch nicht mehr in dem Grade aufreizend wie früher. Sie sind voll Tiefe der Empfindung, bringen stimmungsvolle Naturbilder, haben weichen, musikalischen Klang. Seine Novellen und Lustspiele sind von wenig Wert, dagegen Übersetzungen aus Heine, Lenau, Herwegh, Hebbel („Maria Magdalena"), Byron („Sardanapal"), Tennyson, Alfieri gut.
Auch Ogarjov (†1877), der Freund Herzens, der mit ihm in die Verbannung ging und mit ihm den „Kolokol" herausgab, kann hierher gezählt werden, eine Lermontovsche Gestalt. Er ist verzweifelt, möchte Trost im Träumen suchen, aber auch dies tötet ihm die kalte Vernunft. Am verzweifeltsten klingen seine „Monologe". Er ist der Sänger der Armut, der Not, des Todes und — was zu den Anklägern sonst weniger gehört — der verratenen Liebe, ganz Lermontov.
§ 52. Das „anklägerische" Drama vertritt Ostrowskij, ein großes Talent, durch den die schlummernde dramatische Dichtung erst wieder Leben erhielt und, in neuen Bahnen gehend, eine bedeutende Höhe erreichte.
Das Theater war ja in Russland seit seinem Entstehen außerordentlich beliebt gewesen; jedoch die Zuschauer stellten geringe Anforderungen, sie hatten auch nicht das richtige Verständnis, denn bessere Stücke wie die Gogols und Gribojedovs schlugen nicht allzu tief Wurzel. Man liebte mehr Schau- und Singspiele, einheimische wie übersetzte, vollkommen wertlose Sachen 100). An solche schwachen Stücke verschwendeten gute Mimen wie Martynov, Schtschepkij, Karatygin ihre Kräfte. So hielten sich durch ihre hervorragende Darstellung die mäßigen Dramen eines Obodowskij, wie sein „Belisar", aus dem Deutschen überarbeitet, sein „Verzaubertes Haus", aus dem Französischen überarbeitet, bis in die sechziger Jahre mit bestem Erfolg. Etwas höher stand Polewoj, der uns bekannte Literat, mit seinen Stücken patriotischen Inhalts: „Der Großvater der russischen Flotte" (1839), „Der Kaufmann Igolkin", einer Episode aus der Schlacht bei Poltawa, und mit seinen Überarbeitungen Shakespeares „Hamlet", „Romeo und Julie", auch Molières und Schillers. Der Kriegs- und Siegesdramatiker Kukolnik hatte wegen seiner Themen den größten Erfolg. Dahin gehören „Die Hand des Höchsten rettete das Vaterland" (1834), „Fürst Skopin Schujskij" (1835); am meisten schlug seine ad hoc gemachte „Seefeier in Ssewastopol" (1854 — Sieg über die Türken bei Sinope) durch. Er kam auch noch auf den Gedanken, italienische Künstler und Dichter zu dramatisieren, z. B. Tasso, hatte aber trotz der eleganten Verse wenig Erfolg.
Meilenweit über allen ist Ostrowskij (1823 — 1886). Seine Dramen sind anklägerisch ; sie leuchten unbarmherzig in die Sünden und Gebrechen eines Standes hinein, um den sich bis jetzt niemand gekümmert hatte, der aber ein „wahres Reich der Finsternis " bildete, in den Kaufmannsstand.
Ostrowskij 101) ist wie Gogol Vertreter der realistischen (naturalistischen) Schule. Aber Gogol lag vor allem an der Komik der Situation; seine Personen sollten die Lachmuskeln der Zuhörer in Bewegung setzen. Derlei geht jedoch nicht ohne einen gewissen Zwang an den Personen wie an der Handlung. Ostrowskij ist objektiver; er bleibt streng sachlich, real, er nimmt die Vorgänge wie sie sind und verzichtet auf jede Effekthascherei. Effekte brachten seine Vorwürfe an und für sich schon genug; seine Umgebung war wie dazu gemacht. Die Moskauer Handelsleute, reich, geschwollen reich, aber geizig, unwissend, borniert, dummstolz, roh, sittenlos, abgefeimt, betrügerisch — so sah sie der Junge jeden Tag; sein Vater war eine Art Rechtskonsulent, den sie häufig gebrauchten. Später lernte er sie noch näher kennen, als er im Handelsgericht arbeitete. So ausgerüstet, trat er schon 1846 mit einigen kleinen Sachen hervor, die starken Unwillen bei den Betroffenen erregten. Von einer wirklichen, erfolgreichen Tätigkeit kann man jedoch erst seit 1852, seit dem Erscheinen seiner „Armen Braut", sprechen.
Ostrowskij ist der fruchtbarste Dramatiker, speziell Komödienschreiber Russlands gewesen; natürlich ist manches von untergeordneter Bedeutung. Ein erstklassiges dramatisches Talent verrät schon sein Stück „Armut ist keine Sünde" (1854). Es hat als Hauptaufgabe, die Sünden des Kaufmannsstandes zu geißeln. Es blickt aber auch etwas vom Slawophilen hindurch, der er trotz aller „Anklägerei" im Grunde seines Herzens immer gewesen ist; es läuft auf das Lob der alten Zeit, ihrer Lieder, ihrer Spiele hinaus und auf das Bedauern, dass von allen nur die Erinnerung geblieben ist. Das zeigen noch deutlicher seine historischen Stücke, sein „Kosma Minin" (1862 — einer der Befreier Russlands aus schlimmster Zeit, der des Interregnums), sein „Pseudodemetrius“ (1867) (sozusagen eine Fortsetzung von Puschkins „Boriss Godunov“) auch seine „Wassilissa Mjelentjewa" 102) (s. S 58). Aber von diesen historischen Stücken wollte weder die Kritik noch das Publikum etwas wissen, mit Recht: was er nicht selber sah, konnte er nicht beleben. Als bestes Stück wurde von beiden sein „Gewitter" 103) (1859) angesehen; Dobroljubov nannte es einen Lichtstrahl im „Reich der Finsternis". Durch ein schweres Naturgewitter wird ein inneres Gewitter, d. h. die Herzensangst einer jungen Ehefrau wegen eines Fehltritts so gesteigert, dass sie alles gesteht und dann die Sühne im Tod sucht. Ostrowskij fällt damit aber keineswegs ein Verdammungsurteil über sie, sondern klagt vielmehr die sie umgebenden Verhältnisse an und die Personen, welche die ärmste durch ihre Verbohrtheit, ihr allzu starres Festhalten am Herkömmlichen, durch ihre Kälte zu diesem Schritt verleiten. Diese schlimmen Personen gehören, wie immer bei ihm, dem Kaufmannsstand, dem „Reich der Finsternis" an.
Ostrowskij folgte auf das lebhafteste allen Fortschritten, welche die Reform brachte, und schloss sich auf das innigste allen neuen Lebenserscheinungen an, blieb aber gegen die Missstände in ihrem Gefolge nicht blind. In dem Stück „Eine einträgliche Stelle" (1860) sind die Wort- und Maulhelden, die von jenen Zeiten ordentlich gezüchtet wurden, bitter gegeißelt.
Auch andere Stücke: „Ein alter Freund ist besser als zwei neue" (1860), „Hartes Brot", „Tolles Geld" (1874), „Das Herz ist' kein Stein" (1880), die alle dem Kaufmannsstande und seinen Missständen gelten, sind wertvoll.
Trotz aller Anerkennung, die der Dichter fand, kam er aus pekuniärer Notlage erst gegen Ende seines Lebens heraus, als ihn schon die aufreibende Arbeit gebrochen hatte. Da fielen ihm auch endlich Ehrungen zu: er wurde Intendant der Moskauer Theater und Vorsitzender der „Gesellschaft russischer dramatischer Schriftsteller".
Ostrowskijs Stücke haben unendlich dazu beigetragen, den Geschmack des Publikums zu heben. Wenn es heißt, er habe keine wirklichen Dramen geschrieben, sondern nur lose Szenen aneinander gereiht, so ist das ein Vorwurf, der vom heutigen Standpunkt aus schon wiederholt zurückgewiesen ist. Ostrowskijs Gestalten haben noch eben Vorzug: sie sind nicht durchweg schwarz in schwarz gemalt; seine Bösewichte sind nicht ganz Bösewichte und nur Bösewichte, sondern sie haben auch hier und da einen Vorzug, eine Tugend, sie sind eben reale Menschen. Ostrowskijs Sprache ist so mannigfaltig und abwechslungsreich wie die Puschkins.
Dasselbe große Verdienst, das sich Ostrowskij um das russische Lustspiel erworben hat, steht Leo Tolstoj für die Tragödie zu; nur hat ihn das russische Publikum viel später, erst in der letzten Zeit, schätzen gelernt. Ausführliches darüber § 62.
Hinter diesen beiden stehen alle übrigen weit zurück. Zwar hat auch Turgenjev (s. § 47) Komödien verfasst; sie sind jedoch tief unter seinen Romanen und Erzählungen. Sie geben nicht üble Bilder von der alten Zeit, aber die alte Zeit tritt so sehr als die gute alte hervor, dass an ihr eigentlich nicht viel auszusetzen ist, und vom Einläuten einer neuen ist noch viel weniger die Rede. Es steckt auch Humor und Satire darin, aber ihre Signatur ist Harmlosigkeit.
Ebensowenig kann man hierher die Stücke rechnen, die Ostrowski] in Gemeinschaft mit N. J. Ssolowjov und die der letztere allein geschrieben hat. Ganz hübsch ist z. B. die gemeinsame Komödie „Ein glücklicher Tag" (1881) und ebenso niedlich ist Ssolowjovs eigene „Auf der Schwelle zur Tat" (1881), aber sie sind nur niedlich, womit wohl genug gesagt ist.
Anders ist es mit Pissjemskij. Wenn auch mehrere Stücke allgemein gehalten sind, wenn sie nur allgemeine Schäden hervorheben wie den Kult des Gottes Baal, so ist doch sein „Bitteres Loos" (1858) ein sehr schwer anklagendes „Bauerndrama“, das erste effektvolle dieser Gattung noch vor Tolstojs „Macht der Finsternis".
In der Komödie steht Ostrowskij am nächsten Potjechin. Dass seine Stücke bitter waren und bei der Regierung keine angenehmen Gefühle auslösten, beweisen die Schwierigkeiten, welche die Zensur ihrer Aufführung bereitete; ein Teil wurde überhaupt nicht zugelassen. Schon sein erstes Stück „Menschengericht ist kein Gottesgericht" (1853) Wagt an, ebenso sein „Flittergold" (1858). Am besten zeichnet den Kampf zwischen der alten und der jungen Generation seine Komödie „Das losgerissene Glied" (1865), freilich sind ihm die Typen der alten Generation besser gelungen als die der neuen. — Man darf übrigens auch nicht ganz an seinen Romanen vorübergehen, z. B. an „Den armen Edelleuten" (1859), an „Den Blutsaugern im Dorf" (1880). Schon die Titel sprechen eine deutliche Sprache.
Speziell das Beamtentum wählt sich zur Zielscheibe Mann in mehreren oft aufgeführten Stücken. Sein „Spinngewebe" (1865) ist ein scharfer Angriff auf die Gerichte, die alles Leben mit ihrem Gespinst überziehen, einschnüren und töten. Es ist lebendig geschrieben, hat viele gute Einfälle, nur neigt es stark zur Vaudeville-Gattung. Eine andere Komödie „Die Schwätzer" (1868) geißelt, wie der Titel schon sagt, die mit der Reform zusammen einsetzende öffentliche Redewut, die sich im Debattieren und in Erörterungen gar nicht genug tun konnte, dafür aber destoweniger oder gar nicht zum Handeln führte. Man hat ihn wegen dieses Stückes zu den Reaktionären werfen wollen, es ist aber nur Objektivität, ebenso wie er rein objektiv in seinem „Allgemeinen Wohl" (1869) die unter dieser Firma segelnden egoistischen Bestrebungen des Provinzbeamtentums bloßlegt.
Ungefähr denselben Strang zieht Graf Wl. A. Ssologub (s. § 36) in seiner Komödie „Der Beamte" (1857); sie hatte wenig Erfolg.
Desto größeren hatte der äußerst gewandte und sehr fruchtbare Viktor Krylov († 1906). Er griff mit den Komödien „Die Landschaftsabgeordneten“ (1874) und ,,Gegen den Strom" in den Kampf der tobenden Geister. Später trat bei ihm die Politik zurück. Er übersetzte vorzüglich Lessings „Nathan" und überarbeitete eine Reihe französischer Stücke.
§ 53. Die „Anklageliteratur" erzeugte selbstverständlich Gegendruck; ihre äußersten Konsequenzen, Atheismus, Nihilismus konnten nicht ohne Antwort bleiben. So zeigt sich denn der extreme Gegensatz, der von einer Reform überhaupt nichts wissen will; neben ihm gemäßigtere Elemente, die vor der Reform sich von dieser eine durchgreifende Besserung versprachen oder nach ihrer Einführung, da sie gegen manche übriggebliebenen oder auch neuerstandenen Missbräuche nicht blind waren, doch eine langsam vorschreitende Gesundung erhofften, jedenfalls keine Über- oder Umstürzung, keine dilettierenden Versuche, keine nebelhaften Neuerungen wollten. Das Proletariat hatte bei den „Anklägern" die Führerrolle gehabt; diese übernimmt bei ihnen wieder der Gebildete. Stark hervortretende Geister gibt es freilich unter ihnen nur wenige. Einer von diesen wenigen ist:
Katkov (s. § 46), an Schärfe und an Schlagfertigkeit Ssaltykov nicht so fernstehend. Er nahm den politischen Kampf in der Monatsschrift „Russischer Bote" und in der Tageszeitung „Moskauer Nachrichten" auf. Auf seine Rechnung ist zu setzen, dass „Der Zeitgenosse", „Die vaterländischen Annalen" verboten, Tschemyschewskij nach Sibirien verbannt wurde. Freilich wurden auch seine „Moskauer Nachrichten" suspendiert, jedoch nur auf kurze Zeit, um dann desto schärfer wieder in streng nationalem, reaktionärem, absolutistischem Sinne zu arbeiten. Natürlich halfen ihm die politischen Verhältnisse; Karakassovs unseliges Attentat kam; Dmitrij Tolstoj, auf den Katkov sehr großen Einfluss hatte, wurde „Verfinsterungsminister“.
§ 54. Die „Ankläger“ fanden auch ästhetische Gegner, deren Stimme allerdings im Winde verhallte, nicht etwa, weil sie unbedeutende Männer waren; die Zeit war gegen sie. Annjenkov (1812 — 1887) und Drushinin (1824 — 1864) anerkannten der Kunst gegenüber nur den rein ästhetischen Standpunkt; sie wollten nicht Tendenzkritiker sein wie Ssaltykov und Tschemyschewskij, sie wollten sich auch nicht von Pissaijev belehren lassen, dass ein paar Stiefel wertvoller sei als die Verse Puschkins. Der Politik standen sie fem. Annjenkov hat sehr wertvolle Aufsätze in den „Vaterländischen Annalen", im „Zeitgenossen", im „Boten Europas" über Turgenjev, über Ostrowskij, über Gogol geschrieben. Er gab auch Puschkins Werke heraus. In seinen Kritiken trägt er oft eine von Bjelinskij abweichende Meinung vor.
Dnishinins erste Tätigkeit gehörte dem „Zeitgenossen“ solange dieser noch nicht im radikalen Fahrwasser segelte, dann schrieb er für „die Lesebibliothek", für den „Funken", für „den Russischen Boten". Er war ein sehr guter Kenner auch der westeuropäischen Literatur; er hat mehrere Stücke Shakespeares übersetzt, und manches sehr Lesenswerte über Balzac, Thackeray geschrieben. Dass er ein bedeutendes Erzählertalent besaß und vorzüglich Menschen zu charakterisieren und das menschliche Herz, besonders das weibliche, zu analysieren verstand, beweist sein Roman „Pauline Saks" (1849). Er rollte mit diesem zum ersten Male in der russischen Literatur die weibliche Frage auf. Die junge Frau liebt einen andern. Der Ehemann hält sich nicht für berechtigt, sie zu verdammen und ihr die Möglichkeit zu nehmen, dem geliebten Mann zu folgen. — Dnishinins treffliches Herz und gesunder Verstand ließen ihn die „Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Schriftsteller und Gelehrten" ins Leben rufen.
Auch Apollon Grigorjev (1822 — 1864) ist ein Gegner der „Ankläger". Er bekennt sich aber auch nicht zur rein ästhetischen Kritik der Vorhergehenden, sondern vertritt die Carlylesche organische Kritik, d. h. er sieht zwischen der Kunst und der Kritik eine organische Verwandtschaft, in der Erkenntnis des Idealen. Es steckt auch vieles vom Slawophilen in ihm. Seine kritischen Abhandlungen in den „Vaterländischen Annalen", im „Russischen Wort", im „Russischen Boten" konnten gegen die gegnerischen nicht aufkommen.
§ 55. Von den Dichtungsarten ist der Roman hier gleichfalls am besten vertreten. Mancher „klagt" auch „an" und nicht etwa bloß den Nihilismus und den Atheismus, sondern genau dieselben Sünden und Gebrechen, gegen die sich die „anklägerische" Literatur wandte, aber doch ist ein bedeutender Unterschied zwischen beiden: er hält Maß in seinen Anklagen, er sieht nicht überall Missstände, er sieht auch lichtere Seiten; er klagt nicht an bloß der Anklage wegen.
Noch auf dem Boden der Ideale der vierziger Jahre steht Kljuschnikov. Sein bester Roman „Luftspiegelung" (1864) spricht von den Leuten, die mit hohen Idealen im Herzen sich mit dem ganzen Feuereifer ihrer Seele in die revolutionäre Bewegung stürzen und dort nun nach und nach erkennen, dass alle diese Ideale an der alltäglichen Wirklichkeit zerschellen, dass die ganze Bewegung — Luftspiegelung ist.
Wie Kljuschnikov kämpft gegen den Nihilismus, gegen seine sinnlose Zerstörungswut, gegen seine blutigen Konsequenzen Krestowskij. (Nicht zu verwechseln mit der gleichfalls Romane schreibenden, weniger bedeutenden Frau Chwoschtschinzkaja, deren Pseudonym Krestowskij ist.) Bekannt machte er sich durch seine „Petersburger Spelunken" (1864 bis 1867), worin er nach Sues „Pariser Geheimnissen" die schaurigen Nachtseiten der Hauptstadt schilderte. Er war ein guter Kenner der französischen Literatur, wie die meisten dieser Schriftsteller wieder über eine gediegene Bildung verfügen, auch im äußeren Leben wieder mehr hervortreten; Krestowskij nahm 1877 als offizieller Hofhistoriograph am russisch türkischen Kriege teil. Lesenswert sind seine Romane: „Nicht der erste und nicht der letzte" (1859), ,,Durchtriebene Schelme" (1887).
Den Bauern gilt natürlich auch das Mitgefühl dieser Schriftsteller. Ssalov schrieb von 1877 ab in den „Vaterländischen Annalen“ eine Reihe von Erzählungen, so „Die Mühle des Kaufmanns Tschessalkin“ „Der Pächter" u. a., die uns das hungernde Dorf, die zerlumpten Kinder, die vernagelten Fenster der dem Einsturz nahen Häuser malen gegenüber dem feisten, aufgeputzten, Festmahle feiernden Volksaussauger, dem Kulak. Er bekämpft also auch die Auswüchse der Reform, aber nicht die Reform selber. Seine Naturschilderungen, seine Bilder aus dem ländlichen Leben, Bilder vom Fischfang, von der Jagd sind trefflich.
Den Trotz und Starrsinn des russischen Bauern, ebenso des Kleinkaufmanns, geißelt mit starkem Humor Lejkin. Sein „Stück Brot" (1869) wurde viel gelesen. Tiefen Ernst und tiefe Trauer atmet sein Roman „Auf Lohn" (1891), in dem das Los der armen Bäuerinnen geschildert wird, die nach Petersburg kommen, um Arbeit zu suchen, und dort nur Leid erfahren.
Arm waren nicht bloß die Bauern, arm war infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft auch der Kleinadel geworden; Unfähigkeit, angeborener Leichtsinn trugen natürlich ein gut Teil dazu bei. Davon sprechen die Skizzen, die Tjerpigorjev (unter dem Pseudonym Atawa) in den „Vaterländischen Annalen" brachte, und die er dann unter dem Titel „Verarmung“ (1881) zusammenfasste. Auch Ssaltykov hatte das Thema berührt, aber nur allgemein, während Tjerpigorjev konkrete, lebende Bilder zeichnet.
Lesskov und Mjelnikov behandeln ganz besondere Themen. Lesskov (Pseud. Stjebnizkij) hat auch nihilistische Typen, die unreifen Jünglinge mit den unverstandenen Ideen, manche, die nach Wahrheit verlangen und das Gute wollen, manche, die meisten, die nur den eigenen Vorteil und den eigenen Genuss suchen, beide ihre Kräfte nutzlos verschwendend und ein Chaos für Mann und Weib herbeiführend; er bringt jedoch noch ein anderes Element hinein, die Geistlichkeit, die nur selten bis jetzt berührt ist. Sie spielt schon in seinen ersten großen Roman hinein „Nirgends wohin" („Kein Ausweg" — 1865). Ihr ganz gewidmet ist der Roman „Die Kirchenleute" (1876). Außerordentlich anschaulich und zugleich sympathisch ist hier ihr häusliches Leben mit Frau und Kindern, ihre seelsorgerische Tätigkeit, ihr Kampf mit dem Unglauben, dem Sektenunwesen, dem Nihilismus geschildert. Am wenigsten befriedigt eigentlich sein Roman „Auf Messern" (1872), und dabei hat er die meisten Auflagen erlebt.
Besonders dem Sektenwesen widmet sich Mjelnikov (Pseudonym Pjetscherskij). Um dieses noch vollkommen im Dunkel liegende Gebiet genau kennen zu lernen, ist er in die fernsten, abgelegensten Orte, besonders der Wolgagegend, gewandert, zu den Bauern und kleinen Kaufleuten, den zähesten Schismatikern. In seinen Büchern „Alte Jahre" (1857), „Der Bärenwinkel" (1857), später in „Den Wäldern" (1872), „Auf den Bergen" (1875 — 1881) gibt er eine vorzügliche Schilderung ihrer Sitten und religiösen Gebräuche, wahre Kulturgemälde. In die Erzählungen flicht er eine ganze Reihe von Volkslegenden und Sagen, viele russische Sprichwörter ein. Leider verteilt er zu viel Licht auf die Sektierer, zu viel Schatten auf die Geistlichen, denen er vor allem Trunksucht anhängt. Mjelnikov hat auch mehrere wissenschaftliche historische Arbeiten über die Schismatiker verfasst.
Es verdienen auch die Namen von Markov und von Golowin (Pseudonym Orlowskij) erwähnt zu werden, die beide für den „Russischen Boten" diesen und jenen hübschen Roman geschrieben haben.
§ 56. Im Roman bietet sich noch eine neue Seite. Die russische Frau tritt in die Erscheinung. Turgenjev hatte sie sogar zur Herrin des Mannes gemacht. Das war vordem anders, ganz anders gewesen. Das Leben der russischen Frau noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war genau dasselbe, wie es im 16. Jahrhundert der „Domostroj" vorgezeichnet hatte, d. h. das der oft geprügelten Dienstmagd gegenüber dem strengen und rohen Gebieter. Eine Bresche in diese von den Männern stark verteidigte Festung schlugen die am Ende der vierziger Jahre in Russland eindringenden Werke George Sands, die nicht allein die Frau über sich selbst aufklärten, sondern auch den Männern ihr unrechtes Handeln zur Einsicht brachten. Die ersten Früchte dieser Aufklärung waren Drushinins „Pauline Saks", Herzens (Iskanders) „Wer ist schuld?" gewesen und, stark an „Pauline Saks" erinnernd, Awdjejevs „Stein unter Wasser" (1860). (Ein anderer Roman Awdjejevs „Tamarin" (1852), gleichfalls eine starke Nachahmung (von Lermontovs Pjetschorin) ist trotz der Anlehnung interessant und damals vom Publikum hoch eingeschätzt worden.) Dann kam Turgenjev und neben ihm Gontscharov, die nun aus der unterdrückten Sklavin eine erhabene Gebieterin machten. Und ähnlich stellte sich selbst Pissjemskij, der die Männer mit schonungsloser Satire verfolgt, die Frauen in allem entschuldigt. Im übrigen machte sich nicht bloß theoretisch im Roman der Fortschritt bemerkbar, sondern auch draußen im praktischen Leben; schon 1858 wurden die ersten weiblichen Gymnasien errichtet, also lange bevor man bei uns überhaupt nur eine Ahnung davon bekam. Die Entwicklung ging mit Sturmschritten weiter. Die Frau begnügte sich sehr bald nicht mehr mit der eben erst zugebilligten Stellung in der Familie und der Gesellschaft, sie wird selber handelnd, treibend, sogar politisch treibend. Die Frau auch dieser Art, nicht mehr die Herz und Sinne bestrickende, eher die abstoßende, unweibliche, unreif politisierende kennt man zur Genüge aus Turgenjev.
Diesen Auswüchsen fernstehend, dringt jetzt die arbeitsame, kluge, unabhängige Frau selbständig auch in unser Gebiet; sie tritt selber literarisch für die Rechte ihres Geschlechtes ein.
Schriftstellerinnen hatte es ja lange vorher gegeben. Katharina II., die Fürstin Daschkova ragten hervor. Aus einem Ssmirdinschen (Buchhändler-) Katalog ersieht man, dass am Ende des 18. Jahrhunderts und im Anfang des 19. sehr viele Frauen ihre Gedichte, Erzählungen, Dramen drucken ließen, durchweg dürftig und tendenzlos. Die Frauenfrage behandeln zum ersten Male in ihren Romanen Frau Chwoschtschinskaja, Frau Ssochanskaja, Frau Markovitsch.
In den vielen Romanen der Frau Chwoschtschinskaja (Pseudonym Ws. Krestowskij — alle diese Damen schreiben pseudonym, wie ja auch viele Männer dieser Zeit) sieht man deutlich zwei Perioden. Die der ersten („Der Dorflehrer" 1850, „In Erwartung des Besseren" 1860) zeigen noch das unter der starren Aufsicht der tyrannischen Mutter duldende junge Mädchen, dem auch der schwache Vater nicht helfen kann; dagegen tritt im Roman „Der große Bär" (1871) schon die neue Frau auf, die für das Allgemeinwohl arbeitet, die auf dem Boden der neuen Bewegung steht, die im Kampfe ist mit dem noch die Ideale des Domostroj vertretenden Manne. Frau Chwoschtschinskaja hat ein scharfes Auge für die Fehler jener Zeit. Die großen Phrasenhelden und die kleinen Seelen zeichnen ihre letzten Werke, der Romanzyklus „Die Provinz in der alten Zeit" (1884) und „Pflichten" (1888). Überall haben wir in abgerundeter, anmutender Darstellung treffende Bilder aus dem Leben in der kleinen Provinzstadt, im Dorfe; besonders das Treiben der höheren Schichten ist gut beobachtet und gut wiedergegeben. Mehrere ihrer Romane sind ins Deutsche, auch ins Italienische übersetzt.
Mit grelleren Farben malt ihre Bilder aus der vom Leben abgeschnittenen fernen Provinzstadt, aus dem fernen Dorf, aus dem dort vegetierenden Dasein Frau Ssochanskaja (Pseudonym Kochanowskaja). Die unglückliche Ehe, die aus dem in Russland heilig gewordenen Herkommen resultiert, das junge Mädchen nur nach dem Beschluss der Eltern, nicht nach ihrem Willen dem Mann zu übergeben, dieser Krebsschaden aus der Vergangenheit, der noch immer kräftig Wurzel treibt, ist das Thema ihres ersten besseren Romans „Nach dem Mittagessen" (1857). Großartig ist hier wie in dem folgenden „Aus einer Provinzgemäldegalerie " (1859) die Schilderung der Stagnation fern vom Strom des Lebens, fern vom bildenden Treiben der Großstadt; aber der Roman zeigt zu gleicher Zeit an vielem, dass die alte Zeit auch gut sein kann, dass die Herren und die Leibeigenen durchaus nicht immer Feinde zu sein brauchen, dass sie einander zugetan und treue Diener und treue Schützer waren. Frau Ssochanskaja ist ebenso wie Frau Chwoschtschinskaja außerordentlich gewandt im Ausdruck.
Am geschicktesten fasst die neue Zeit und die neuen Aufgaben Frau Markowitsch (Pseudonym Wowtschok) mit ihrem Roman „Die lebendige Seele" (1868) an. Nachdem die Erzählung erst die Bedingungen entwickelt hat, unter denen sich der Charakter einer Frau vernünftig bilden kann — Erziehung zur Arbeit, zum selbständigen Denken, zur wahren Religiosität — zeigt er, wie eine solche Frau bei einem Ehemann, der unter ihr steht, der nicht schaffen kann und will, alle herkömmliche Sitte und Moral beiseite setzen und ruhig von ihm gehen kann.
§ 57. Aufs engste mit diesem Sittenroman verwandt ist der historische Roman, gibt er uns doch genau wie jener Bilder aus der Vergangenheit oder Gegenwart, nur nicht aus dem Kreise der Kleinen und schnell Vergessenen, sondern aus dem der Großen und Fortlebenden. Hier handelt es sich natürlich um ganz besonders hervorragende Gestalten, um besonders herausfallende Ereignisse. Eine solche Gestalt ist Iwan der Schreckliche. Mit ihm beschäftigen sich mehrere, wieder wirklich bedeutende Leute. An ihrer Spitze steht
Graf A. Tolstoj 104) (181 7 — 1875), ein gebildeter, viel gereister Mann, eine Künstlernatur, ein Dichter. Auch äußere Umstände hatten zu seiner Entwicklung viel beigetragen. In Petersburg geboren, brachte er doch seine Jugend in Kleinrussland zu, dessen prächtige Natur außerordentlich auf das Knabengemüt wirkte; dann wurde er mit dem Thronfolger zusammen erzogen; später war er vielfach im Auslande, in Deutschland, in Italien, wo er mit den erlauchtesten Geistern verkehrte. Die kurze Begegnung des Knaben mit Goethe ist dem alten Tolstoj immer eine der wertvollsten Erinnerungen geblieben. Alle diese Umstände erweckten in ihm ein tiefes Kunstempfinden, ein tiefes Verstehen von Mensch und Natur.
Graf Tolstojs Roman „Fürst Sserebrjanyj" (1861) greift in die schlimmen Zeiten Iwans hinein, wo dieser in seiner steten Angst um Verrat sich mit einer Leibwache, den Opritschniki, umgibt und wo diese Leibwache nun in maßlosester Willkür herrscht und die maßlosesten Grausamkeiten verübt. Fürst Sserebrjanyj kehrt aus dem litauischen Kriege zurück und sieht diese furchtbare Wandlung, sieht den nur nach Blut und Mord dürstenden Herrscher. Mit hohem Mut tritt er ihm entgegen und bezwingt ihn durch seine edlen Gründe. Der Wert des Romans besteht natürlich nicht in diesem Rahmen, am wenigsten in dem Endresultat, sondern in den Bildern, die er vom Zaren, von seiner Umgebung, von den damaligen Sitten und Anschauungen entwirft, und nicht allein von denen Russlands, sondern auch von denen des eben erst in russischen Besitz übergegangenen neu eroberten Sibiriens.
Ungefähr in dieselbe Zeit Iwans greift ein Roman Kostomarovs hinein. Kostomarov ist als Schriftsteller und als Gelehrter gleich bedeutend. Aus seinen vielen gelehrten Arbeiten über russische Geschichte schöpfte er die Stoffe zu seinen Schriftstellereien, bei denen ihm seine Künstlerader wie seine reiche Phantasie sehr zustatten kamen. Mit seinem Roman „Kudjejar" (1875 im „Europäischen Boten") berührt er jene geheimnisvolle Persönlichkeit, die auf die unheilvolle Politik Iwans so entscheidenden Einfluss hatte; so soll durch ihn Iwan zu der entsetzlichen Grausamkeit gegen die Nowgoroder bewogen worden sein. Am Schluss des Romans entpuppt er sich als Sohn Wassilijs III., also als älterer Bruder Iwans.
Ein anderer, früher fallender Roman Kostomarovs „Der Sohn" (1865) führt uns in die Zeit Stjenka Rasins, jenes aufständischen donischen Kosaken unter Alexejs Regierung, der vom Kaspischen Meer an bis Nishnij Nowgorod alles an sich riss und ausplünderte, bis er (1671) gefangen und hingerichtet wurde. „Der Sohn" rächt die vom tyrannischen Gutsherrn beleidigte Mutter; er zündet das Gut des Beleidigers an, gerät aber in Gefangenschaft und wird nun getötet. Das Hauptaugenmerk des Verfassers ist darauf gerichtet, uns mit den Sitten des 17. Jahrhunderts bekannt zu machen, mit den damaligen Hochzeitsgebräuchen und Leichenbegängnissen, mit den Gerichtssitzungen und der Art der Rechtsprechung, kurz mit allem, was dem 17. Jahrhundert eigen war.
Der Pugatschovsche Aufstand, also jener unter Katharina II. tobende Aufstand, der vom Kosaken Pugatschov angestiftet war mit der Proklamation, Kaiser Peter III. lebe noch und er sei dieser Peter, bot gleichfalls reiche Nahrung. Er wurde von dem auf historischem wie auf belletristischem Gebiet gleich fruchtbaren Grafen Ssaliass de Turnemir im Roman „Die Leute des Pugatschov" (1873) behandelt. Er gibt vortreffliche Bilder von der Kasaner Gesellschaft, von der Gärung im Volke, dann von der Einnahme Kasans, auch vorzügliche Charakteristiken der russischen Kommandierenden Bibikov und Ssuworov.
Denselben Stoff wählte auch Danilewskij für sein „ Schwarzes Jahr" (1888). Bedeutender in seiner künstlerischen Ausführung, wenn auch nicht immer treu der Historie folgend, ist Danilewskijs „Brennendes Moskau" (1885 — 1886). Er berührt sich da in vielem mit Leo Tolstojs „Krieg und Frieden". Tolstojs großes und großartiges Werk wird an anderer Stelle besprochen (S 62). Genau wie Danilewskij in manchem mit Tolstoj zusammengeht, genau so gehen sie natürlich auch auseinander: z. B. hat Napoleon bei Danilewskij viel realere Züge, und in der Auffassung der Frau divergieren sie vollkommen. Die Heldinnen Tolstojs sind Heldinnen als Mütter, Töchter, Gattinnen, Danilewskijs Heldin steht auf dem Boden der neuen Bewegung: ihr Opfermut gilt dem Vaterland.
§ 58. Dieselben Stoffe lagen auch dem Dramatiker. In die Epoche Iwans des Schrecklichen greift Ostrowskijs bestes historisches Drama „Wassilissa Mjelentjewa" hinein. Wassilissa ist die ehrgeizige Witwe eines Bojaren, welche die Hand Iwans erstrebt; auch er will sie lind will dazu seine eigene Frau beseitigen. Wassilissa ist aber noch grausamer, sie will den Triumph des Mordes für sich haben und überredet einen Geliebten hierzu. Der Zar erfährt von dem Geliebten, und nun muss Wassilissa sterben. Das ist dramatischer Stoff, aber Ostrowskij hat ihn ein wenig schnell hingeworfen, und so ist es nur dramatisierte Geschichte geworden. Nichts anderes ist sein „Kosma Minin", sein „Pseudodemetrius“, sein „Wassilij Schujskij" (§ 52).
Alexej Tolstoj hatte neben seiner epischen Ader entschieden auch eine dramatische. Seine große Trilogie: „Der Tod Iwans des Schrecklichen" (1858), „Der Zar Feodor Joannowitsch" (1868), „Der Zar Boriss" (1869) packt den Stoff dramatisch an, hat auch gute szenische Effekte, aber Tolstojs Personen reden zu wohlgesetzt, sind blutlos und matt, so dass sie mit einem so großartig erfassten und so großartig durchgeführten Werke wie Puschkins „Boriss Godunov" nicht in Konkurrenz treten konnten.
Noch ein paar Dichter haben sich, keineswegs mit Ungeschick, auf diesem Gebiete, in diesem Stoffe versucht; nur werden auch sie natürlich von der Konkurrenz Puschkins erdrückt. So malt und charakterisiert ausgezeichnet
L. A. Mej. In der „Frau aus Pskov" (1860) ist die Heldin eine Tochter Iwans und einer Bojarenfrau. Sie lebt in Pskov. Iwan will die Pskower wegen ihrer Unbotmäßigkeit züchtigen. Da erkennt er die Tochter, und sein Zorn verraucht. Vortrefflich ist dem Verfasser die Zeichnung der übermütigen Opritschniki, des alten Volksrats, der aufrührerischen Massen gelungen; nur blickt überall ein bisschen stark der gelehrte Inspektor am Moskauer Gymnasium hindurch. Der Gelehrte hat auch sonst mancherlei, zu dem ihn sein Studium führte, dramatisiert: aus dem russischen Altertum, aus der römischen Geschichte, aus der Bibel.
Auch Awjerkijev knüpft in seinem Drama „Freiheit — Unfreiheit" (1868) an Iwan an. Er bringt den Zaren jedoch mehr zu Hause, in seinem Verhältnis zu den Dienern, zu der Leibwache, zu denen, die er liebt, wo er also nicht der Zar ist, sondern Wanja. Awjerkijevs Stücke zeigen den effektsicheren Arbeiter, den geschickten Dramaturgen. Er hat noch ein sehr bemerkenswertes Stück geschrieben, das einzige, das ein Bild aus der Zeit unmittelbar vor Peter gibt, die Komödie „Frol Sskabjejev". Frol ist ein Narr am Hofe Alexej Michailowitschs. Das Stück zeigt das Leben und Treiben des Hofes und der Hofgesellschaft mit Hineinarbeitung aller Scherze und Witze, welche die naive Phantasie des Volkes für diese Narrensperson ausgesonnen und ausgesponnen hatte. Der Narr ist, wie bei uns, kein Narr, sondern eine kluge, witzige, schlagfertige Persönlichkeit.
Auch Kostomarovs Dramen verdienen Erwähnung: „Ssawa Tschalyj" (1838), und sein Trauerspiel „Die Nacht in Pjerejassiaw" (1841), mit kleinrussischem Hintergrund und in kleinrussischer Sprache geschrieben.
§ 59. Fern vom politischen Wirrwarr und jeder revolutionären Bewegung hält sich auch ein Teil der Lyrik, Genüge findend in der reinen Kunst, sich in die Natur versenkend, in die Vergangenheit. Sie alle sind recht bedeutende Dichter.
Den Reigen eröffnet wieder Alexej Tolstoj. Der Verehrer Goethes, Heines, Dantes hat von ihnen die Schönheit der Form übernommen. Besonders gelingt ihm die Beschreibung der Natur, der Natur, die das Entzücken seiner Kindheit gebildet hatte, die kleinrussische. Manche der Gedichte treffen in glücklichster Weise den echten Volkston. Die ernste Seite liegt ihm, auch die religiöse — in erster Reihe steht da die epische Erzählung „Die Sünderin'' (1858). Andere schöne Erzählungen sind „Aljoscha Popowitsch", „Der Drache" (1875) usw.
Eine zarte, weiche Natur, fern allem Leidenschaftlichen, Stürmischen ist A. N. Majkov (1821 — 1895). Er hatte die Rechte studiert, beschäftigte sich aber viel mehr mit Poesie und Malerei. In Italien hatte er sich für die Antike begeistert; der durch sie gewonnenen Richtung blieb er in allem treu. Aus dieser ersten Zeit stammen seine besten Schöpfungen: 1841 seine erste Sammlung Gedichte — 1842 seine „Römischen Skizzen" — 1841 auch das lyrische Drama „Drei Tode". Seine „Römischen Skizzen" mit ihren Bildern aus der Vergangenheit, denen die moderne Zeit gegenübergestellt ist, zeigen die Idealauffassung des Künstlers. Ebenso tritt sie in den „Drei Toden" entgegen, d. h. Gesprächen, welche die durch sinnlose Tyrannenwut zum Tode verurteilten Seneka, Luzian und Lukan führen. Der Gegensatz zwischen dem untergehenden Heidentum und der neuen Welt des Christentums ist kühn herausgearbeitet. Das lyrische Drama hat seine Fortsetzung im „Tod Luzians" und findet seine Krönung in „Zwei Welten".
Der Epiker Majkov hat wirkliche Perlen der Poesie geschaffen in „Savonarola", „Der Dom von Clermont", „Die Beichte der Königin", „Die Fürstin". — Alle Dichtungen haben eine klangvolle, weiche, sich in Ohr und Herz einschmeichelnde Sprache; sie haben auch die russische Melancholie, aber nicht die herbe, sondern die sich in stillem Frieden auflösende.
Ein anderer Dichter, dem es gleichfalls das Altertum angetan hat, diesem das griechische, ist der Halbgrieche Schtscherbin — seine Mutter war Griechin, sein Vater Kleinrasse. Es war also Blutsdrang, der ihn unwiderstehlich nach Griechenland zog. Am besten sind seine Verse „Griechische Dichtungen" (1849). Auch sonst nahm er den Stoff zu seinen Dichtungen aus dem altgriechischen Leben. Er steht Majkov an Schönheit etwas nach.
Kleiner als Majkov ist auch wohl Fet (sein Vater heißt Schenschin). Seine Gedichte, schon die ersten, die er 19 Jahre alt veröffentlichte (1840), zeigen tiefe Seelenstimmung sowie ein lebendiges Sichversenken in die Schönheiten der Natur. Der Freund der Natur fühlte sich in der Stadt nicht wohl, sondern siedelte auf das Land über und schrieb hier praktische Briefe über die Landwirtschaft, dann auch über ländliche Sitten, über das Verhältnis zwischen Bauer und Besitzer und äußert sieh hier unverhohlen zugunsten der alten, vorreformatorischen Zustände. Er gab dies gesammelt unter dem Titel „Aus dem Dorfe" heraus. In späteren Jahren, seit 1877, verließ er diese idyllische Richtung und tändelte, schon ein Vorbote des neu heraufkommenden Dekadententums, in anakreontischen Weisen, tändelte auch im Versbau. So zeigt in seinen „Abendlichen Feuern" (4 Sammlungen 1882 — 1887) das Gedicht „Schatten der Nacht" kein Verb, sondern Substantiv reibt sich an Substantiv. Damit verliert aber der Wert dieser Dichtungen nicht; sie zeigen hübsche Gedanken und tiefes Gemüt. Fet hat auch manches vorzüglich übersetzt, z. B. Goethes „Faust“ und „Hermann und Dorothea“.
Ebenso wenig verbarg sein vorreformatorisches Herz Polonskij. Er schuf sich in seinen Gedichten „Abendläuten" (1869) eine eigene Welt, etwas schwärmerisch, phantastisch, elegisch, reichlich mit philosophischen Betrachtungen durchsetzt, aber voll schöner, warmer Bilder, voll Empfindung. Die Bilder aus dem Kaukasus sind besonders schön. Sehr hübsch ist auch sein großes Scherzgedicht „Grille-Musikant“ (1863). Es zeigt den lachenden, aber unter Tränen lachenden Dichter. So ist sein eigenes Leben wie das der Grille, die den Schmetterling liebt. Der verrät sie aber und umwirbt die Nachtigall. Die Nachtigall tötet ihn jedoch bald, und nun begräbt ihn die Grille. (Im Russischen macht sich das Bild noch weit wirksamer — die Grille ist das männliche Wesen, der Schmetterling das weibliche und die Nachtigall wieder das männliche). Das ist allegorisch das Herzweh des Dichters, der um das Glück der Welt wirbt und es nicht finden kann und darüber zugrunde geht. Weniger hervorragend sind Polonskijs Erzählungen und Romane.
§ 60. Es ist dies auch die Zeit der guten Übersetzer. Eigentümlich ist es, wie gern, wie gierig das Publikum sie aufnahm ; man brauchte Ablenkung von der Trübsal und den Unruhen des Tages.
Gerbel (1827 — 1883), von Abstammung Deutschschweizer, übersetzte vorzüglich Byron. Dann gab er in den fünfziger Jahren die Werke Schillers, Goethes, Shakespeares mit Biographien heraus. Seine eigenen Verse „Echos“ (1857) zeigen auch den Dichter.
Weinberg (1830 — 1908) übersetzte und dichtete für verschiedene Zeitschriften, er gab dann selbst „Das Zeitalter“ heraus. Von Shakespeare hat er neun Stücke übersetzt, ferner aus Byron, Shelley, Gutzkow („Uriel Acosta“). Er gab Goethe und Heine heraus (sein humoristisches Pseudonym war „Heine aus Tambov"). In den achtziger Jahren gründete er, hauptsächlich für Übersetzungen, die Zeitschrift „Die schöne Literatur“.
M. P. Michailov (1826 — 1864) schrieb Verse, Erzählungen, Kritiken. Er übersetzte aus Tennyson, Longfellow, vor allen aber deutsche Gedichte: Heine, Lenau. Er gab Heines „Buch der Lieder'' heraus. Ein viel gelesener Roman von ihm war „Zugvögel", worin er die Sitten und das Treiben der Schauspieler mit Humor und Satire schildert.
§ 49. An der Spitze der Ankläger steht Ssaltykov (1826 — 1889), anfangs unter dem Pseudonym Schtschedrin 94) schreibend. Seine Satire überragt alle vorhergehende, in der Form wie im Inhalt. Sie wäre noch viel schärfer, schneidender gewesen, hätte nicht aus Furcht vor der Zensur so manche bittere Pille vom süßesten Zucker umgossen werden müssen. Vieles tritt aus diesem Grunde in der Form der Allegorie auf und wird, je weiter wir uns von jener Zeit entfernen, um so unverständlicher. Die weitschweifige Sprache, die uns heute recht veraltet erscheint, ist gleichfalls zum guten Teil auf dies Konto zu setzen.
Russland hat zu Ssaltykovs Lebenszeit verschiedene Phasen der politischen und sozialen Entwicklung durchgemacht; sie alle begleitet sein Spott, bei allen findet sein durchdringender Blick die Mängel und Fehler heraus, und sie geißelt seine scharfe Zunge mit glänzendem Witz, mit glänzender Schlagfertigkeit. Bisweilen geschieht es mit überlegenem Humor, bisweilen aber auch mit dem Herzblut, denn er ist Patriot, der seinem armen Lande helfen will, und das geht nicht mit Vertuschen und laisser aller, sondern nur mit dem schonungslosen Aufdecken aller Lüge, aller sittlichen Gebrechen.
Der junge Staatsbeamte hatte sich recht früh durch Gedichte bekannt gemacht, dann durch satirische Erzählungen, deren Stoff und Art der Behandlung an Dostojewskij und Njekrassov erinnern. Diese satirischen Erzählungen gefielen der Regierung so wenig, dass sie ihn — 10 Jahre, von 1848 bis 1858 — in der Gouvernements Verwaltung von Wjatka festsetzte. Die Früchte der Verbannung waren für den dann bald den Staatsdienst quittierenden die „Skizzen aus dem Gouvernement“ (1856 bis 1857); sie machten seinen Namen sofort in Russland populär. Sie sind, sich nur wenig von Gogols Typen unterscheidend, ein Hohn auf den Dünkel der Beamtenwelt, ihre moralische Minderwertigkeit, ihr Nichtstun, ihre Bestechlichkeit, ihre Trunkenheit. Der durch die „Skizzen" erworbene Ruhm steigerte sich fortgesetzt, nachdem er mit Njekrassov die Herausgabe der „Vaterländischen Annalen'' übernommen hatte.
Der verlorene Krimkrieg zeitigte eine gewaltige Umwälzung nicht nur in politischer Hinsicht, sondern im ganzen Volksdenken. Wie verlief jedoch diese Aufwärtsbewegung? Wie sieht Ssaltykov dies? Die Leute sind jetzt alle liberal , haben neue Ideen, berauschen sich an ihnen, schwatzen, debattieren und tun — nichts. Diese Leute geißelt er in „der Stadt Glupov" (Dummstadt) und, auf die Beamten besonders angewendet, in „den Zeichen der Zeit".
Die Jahre schreiten fort: die Aufhebung der Leibeigenschaft ist gekommen, mit ihrem wirtschaftlichen Umschlag. Stark leidet darunter der Landadel, der sich nun neue Existenzbedingungen und Existenzmittel suchen muss. Er wendet sich nach Petersburg und hofft dort die Möglichkeit zu finden, das frühere Leben fortzusetzen, durch Nichtstun und durch Vergnügungen; andere versuchen aber auch, im geheimen oder offen, die Wirkungen des Gesetzes zunichte zu machen und die früheren Zustände zurückzuführen. Diese Leute trifft er mit seinem Spott im „Tagebuch eines Provinzialen in der Hauptstadt" und in „den Briefen aus der Provinz" (1869). Besonders werden hier wie in seinen „Männlichen und weiblichen Pompadours" und in „den Herren Taschkentern“ 95) die Gouverneure (Pompadours) mit ihren Frauen und die Beamten (Taschkenter) mitgenommen, die sich liberal und freidenkend gebärden, im Grunde genommen aber die früheren Taschkenter geblieben sind; denn „Taschkent ist das klassische Land der Hammel, die immer zum Geschorenwerden bereit sind und denen nach dieser Operation von neuem die Haare mit erstaunlicher Schnelligkeit wachsen. Zu dieser Operation braucht man weder Ehre noch Gewissen, noch Verstand noch Wissen — nötig sind nur fest zupackende Hände".
Dieselbe scharfe Waffe führt er weiter in „der Geschichte einer Stadt nach den Originalurkunden" (gemeint ist wieder Glupov), in „der Zuflucht Monrepos" (1879), in „Jenseits der Grenze". Der Hauptangriff gilt immer und immer wieder den Beamten, dann auch den Kulaks, d. h. den gewissenlosen Landaufkäufern und Schiebern; er schrickt aber auch nicht vor den höchsten Personen zurück — es war sehr gewagt, mit Decknamen natürlich, Alexander I. und seine Pfeiferscha, d. i. Frau von Krüdener, dann Araktschejev usw. anzugreifen.
Aus den siebziger Jahren stammt ein Roman „Die Herren Golowlev". Ssaltykov gibt darin ein sehr düsteres Sittengemälde vom Verfall einer begüterten Landadelsfamilie, die durch Nichtstun, Trunksucht, durch Mangel an Kraft, sich in die neuen durch Aufhebung der Leibeigenschaft bedingten Verhältnisse zu fügen, durch Mangel an — Liebe, die nun einmal zu allen menschlichen Lebensaufgaben nötig ist, zugrunde geht.
Schwer traf ihn das Verbot der „Vaterländischen Annalen" im Jahre 1884, nachdem er sie anderthalb Dezennien mit großem Geschick durch alle Fährnisse hindurchgesteuert hatte. Sein Lebenszweck und sein Lebensunterhalt waren damit unterbunden. Der müde Mann zog sich zurück und schrieb neben kleinen, religiösen Charakter tragenden „Märchen" nur noch seine „Erzählungen aus Poschechonien " (eine Art Abdera), ein Kulturbild aus der Zeit vor der Reform, fast ebenso düster und mit ähnlichem Hintergrund wie „Die Herren Golowlev", aber doch versöhnend, voll christlicher Liebe und Humanität.
Ssaltykov ist wieder einmal eine Kolossalfigur, die aus der Zeit herausragt. Dieselben Bestrebungen haben jedoch viele, keineswegs unbedeutende Männer, nur reichen sie nicht an seine Größe. Die radikale Jugend, welcher der revolutionäre Herzen zu wenig revolutionär geworden war, sammelte sich jetzt um Ssaltykov und bald um noch schärfere Ankläger.
Njekrassov (1821 — 1877) hatte den von Puschkin gegründeten „Zeitgenossen" 1847 übernommen, und wenn sich dieser in den ersten Jahren auch noch ziemlich harmlos gab, so hatte er doch von 1855 ab die Maske immer mehr fallen lassen und zwar so, dass 1866 sein Schicksal besiegelt war; er wurde suspendiert. Dann redigierte Njekrassov, wie wir gesehen, mit Ssaltykov zusammen „Die Vaterländischen Annalen". Er selber beteiligte sich daran jedoch meist nur belletristisch, durch Gedichte, schön in Form und Inhalt, aber bitter, gallig, worüber später (§ 51).
Böse, aber der Jugend sehr genehme Kritiker waren Tschemyschewskij, Dobroljubov und später Pissaijev, reine Tendenzkritiker, deren ästhetische Urteile durch den parteipolitischen Standpunkt beeinflusst wurden; sie wollten vor allem parteipolitische Agitatoren sein.
An Gelehrsamkeit, Schärfe des Urteils, an Charakter überragt Tschemyschewskij 96) (1828 — 1890) bei weitem die andern. Er war Gelehrter; er hat ein Werk über Lessing geschrieben (1857), dann Adam Smiths „Untersuchung über den Volksreichtum" bearbeitet, im Alter Schlossers „Weltgeschichte" übersetzt. Auch treffliche Aufsätze über Gogol, über Bjelinskij sind aus seiner Feder geflossen, und in diesen literarischen Betrachtungen tritt der Anhänger der Lessingschen Lehren markant hervor. Aber die Literatur fesselte ihn nur in der ersten Zeit; nachdem ist er ganz und gar Sozialpolitiker geworden. Seine politisch-ökonomischen Aufsätze nehmen in den Jahren 1855 bis 1864 einen weiten Raum im „Zeitgenossen" ein und erregten großes Aufsehen. An den „Vaterländischen Annalen" konnte er sich nicht mehr beteiligen, da saß er schon in Sibirien — 20 Jahre. Neben seinen politischen Aufsätzen trug sein Roman „Was tun?" (1863) die Schuld daran. Dieser radikale Roman mit seiner äußerst scharfen Beleuchtung der neuen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, mit der neuen Auffassung von der Ehe und dem Heraustreten der Frau in die Öffentlichkeit — die Materie ist ungefähr dieselbe wie in Turgenjevs „Neuland" und in Tolstojs „Lebendem Leichnam" — wurde für staatsgefährlich erachtet.
Noch schärfer, aber weniger gelehrt und weniger gründlich — an beiden hinderte ihn ein früher Tod — ist sein Schüler Dobroljubov (1836 — 1861). Er führte sich auch mit einigen und zwar glänzenden Aufsätzen über Literatur, über Turgenjev, Gontscharov, Ostrowskij ein, aber mehr zogen ihn die Philosophie und vor allem reale, die Masse des Volks berührende Fragen an, wie Pädagogik, politische Ökonomie. Im „Zeitgenossen" leitete er die satirische Abteilung, „den Pfiff, und schrieb hier unter dem Pseudonym Konrad Lilienschwager schonungslose, ätzende Artikel gegen das langsame Fortschreiten der Reform, gegen die Minderwertigkeit der liberalen Errungenschaften. — Eine noch schärfere Tonart als „Der Pfiff'* schlug nach Dobroljubovs Tod „Der Funke" an.
Den extremsten Standpunkt von diesen vertritt Pissarjev (1841 — 1868). War für Tschemyschewskij das Schöne einzig und allein das Leben gewesen, hatte Dobroljubov den Zweck jeder Kunst und jeder Literatur nur als einen untergeordneten, „dienenden" angesehen, so bestreitet Pissarjev (im „Zeitgenossen", nachher im „Russischen Wort") jeden Nutzen der Poesie und verwirft aus diesem Grunde den ganzen Puschkin. Das sind natürlich durch die Hitze des Kampfes erzeugte Übertreibungen, konnte er sich doch für Turgenjevs Basarovfigur begeistern. Aber er will auch gar nicht Ästhet sein; sein Interesse gehört den Naturwissenschaften, die er in die Tiefe des Volkes hineintragen will. Für die brausende, vorwärts stürmende, materialistische, sozialistische, atheistische, nihilistische Jugend war er eine unbedingte Autorität, so laut sie auch schrie, sie erkenne nirgends eine Autorität an.
§ 50. Satire und Kritik kommen von Gelehrten und gehen zu Gelehrten; für die Masse des russischen Volks waren sie unverständlich und einflusslos. Eine die breiteren Schichten interessierende, diese zum Kampfe gegen die ungeheuren Missstände und Missbräuche aufrüttelnde „Anklage"-literatur musste also eine andere Form finden. Das war der Roman.
Der Roman hatte schon vorher einen recht breiten Raum eingenommen; jetzt drängt er die andern Dichtungsarten vollends beiseite und bekommt eine außerordentlich weite und große Tragkraft. Der Roman wird ein anderer als früher. Er ist auch realistisch, naturalistisch, aber schon der Stand, die Geburt, die Lebensbedingungen seiner Autoren geben ihm eine besondere Färbung. Die früheren Romanschriftsteller waren gebildete Leute gewesen, viele hatten die Universität hinter sich; sie hatten zum großen Teil dem Adel, dem wohlhabenden Adel angehört, waren daher in der Lage gewesen, durch Reisen ins Ausland ihre Bildung zu erweitern und zu vertiefen; sie hatten infolge ihrer Umgebung und ihrer Kenntnisse einen allgemein menschlicheren Blick, allgemein menschlichere Auffassungen und Anschauungen gewonnen. Andrerseits aber war der Blick nach einer Richtung hin einseitig geblieben: der Abstand zwischen ihnen, zwischen ihrer Lebensatmosphäre und der jener Leute da unten war zu groß, als dass etwas anderes als eine höchst oberflächliche Kenntnis dieser herauskommen konnte. Jetzt wurde der Mann des mittleren, des unteren Standes, der Proletarier Schriftsteller, der Mann, der selber die Not und das Elend und den Hunger mit angesehen und mit durchgekostet hatte, der unter der schwersten Arbeit und den schwersten Entbehrungen sich allenfalls bis zur Universität durchgerungen hatte, um dort doch zu scheitern, weil die Existenzmittel nun ganz versagten. Diesen Unterdrückten, den Proletariern, zu denen sie also selber zählten, gehört ihr Mitgefühl; die Armen und ihre Leiden wollen die der übrigen Welt zeigen, damit man ihnen hilft, damit man Stellung, nimmt für sie und gegen ihre Unterdrücker. Unterdrücker waren die Regierung sowohl wie die Gesellschaft. Gegen beide richtet sich also der Roman, er wird damit politischer Tendenzroman.
Meist sind die Autoren recht objektiv, was nicht so schwer war, weil das Elend der Unterdrückten ebensosehr wie die Herzlosigkeit und Grausamkeit der Mehrzahl der Unterdrücker nur allzusehr in die Augen sprang. Dass sich anderseits manche diese Objektivität nicht bewahren, sondern einseitig ungerecht übertreiben, verwundert auch kaum.
Wir bekommen also Bilder nur der Not und des Elends, Bilder von hungernden, dürstenden, frierenden Menschen, Bilder auch von Trunkenbolden und Dieben, Bilder der gemeinen Wirklichkeit — lange vor Zola und ohne seine Pornographie.
Der unterdrückteste, rechtloseste aller Stände war vor der Reform der Bauernstand gewesen; ihm gilt daher der größte Teil der Schilderungen. Man hat für alle diese Schriftsteller den etwas weit fassenden Namen Narodniki (Volksmaler) geprägt.
Grigorowitsch (1822 — 1899) war gelernter Maler und wandte sich auch später wieder von der Literatur zur bildenden Kunst zurück. Es waltet daher in ihm bei aller realistischen Auffassung doch ein ausgeprägtes ästhetisches Gefühl vor. Seine erste Erzählung „Das Dorf" (1847) wurde von Bjelinskij freudig begrüßt. Es folgten in den fünfziger Jahren u. a. „Anton Gorjemyka" (Kummervoll), ,,Die Fischer“, ,,Die Proletarier“, „Nebenwege“ — alle in denselben Bahnen; das Elend der Bauern, die Härte der Verwalter, die Laune der Gutsherrn sind ihre Stimmungsthemata. „Die Fischer“ zeichnen sehr schöne landschaftliche Bilder aus. Auch das Beamtentum und den Beamtendienst kennt er gut; die Skizze ,,Die Nachbarin“ zeichnet beides vorzüglich.
Bedeutender als Grigorowitsch ist Pissjemskij (1820 — 1881). Er hat Ähnlichkeit mit Dostojewskij; nur kennt er nicht dessen feine Seelenanalyse , sondern schildert die Welt der Tatsachen in ihren unbarmherzigen Folgen. Seine ersten Romane laufen noch in romantischer Richtung, und zwar in der Byronschen, aber seine „Tausend Seelen“ (1858) zeigen schon die sog. gebildete Gesellschaft in ihrer Oberflächlichkeit, ihrem Egoismus, ihrer Genusssucht in derb realistischer Weise; ein aus kleinen Verhältnissen heraufgekommener Vizegouverneur eines Provinzstädtchens — 1.000 „Seelen" — ist der Typ dieser Leute. Der Roman fand großen Beifall.
Die Reform ging ihm zu langsam vorwärts, weil allzuviele unwissende und unfähige Leute sie lenkten, weil allzu vieles total missverstanden wurde. Sein bester Roman „Das aufgewühlte Meer“ (1863) — das ist der Aufruhr, der in der Reformbewegung tobt — spiegelt dies wieder. Zu dem Missverstandenen der Reform zählt er auch die Art und Weise, wie sich die Frau emanzipiert. Das ist scharf gegeißelt, mit erotischem Einschlag, in der „Ehe aus Leidenschaft", in „Ist sie schuldig?" Er wühlt dabei recht tief im Schmutz herum. Dieses scharfe Urteil über die Frau mildert dann der Roman „Im Strudel" (1863). Pissjemskij will das feste Band der Familie. Aus den siebziger Jahren stammt noch eine ganze Reihe von Romanen und Dramen; die Dramen, z. B, „Die Bürger", „Die Freimaurer" hatten keinen Erfolg.
Jünger ist Pomjalowskij (1835 — 1863), Sohn eines Diakonus und selber im geistlichen Seminar erzogen. Daher die Lebenstreue seiner „Skizzen aus der Burssa" (d. i, das Priesterseminar), die in grellen Farben die verkehrte Erhebung in den Seminaren beleuchteten; sie fanden in dieser Zeit der Schulreform großen Anklang. Pomjalowskij hat mancherlei geschrieben — am gelesensten war sein ,,Molotov" (1861), einer von jenen Helden, die nachher Gorkij so propagiert hat, ein Barfüßler, der Armut und Hunger bis zur Neige auskostet, der aber alle Leiden und Mühsale ohne viel Klagen erträgt und immer weiter arbeitet, weil er etwas hat, was Gorkijs Helden nicht haben, ein Ideal, kein besonders hohes, aber doch eines: er will so viel erwerben, dass er im Alter behaglich wie ein Bürger leben kann. Molotov ist dabei keine Idealfigur, er ist vollkommen realistisch hingestellt mit all den unangenehmen Eigenschaften des Proletariers, mit seinem Misstrauen, seinen plebejischen Manieren, seiner Ungebildetheit. Diese Ungebildetheit erscheint Pomjalowskij als die Wurzel alles Übels, und deshalb suchte er ihr auch praktisch in seinem Privatleben entgegenzutreten; seine Lieblingsidee war, Schulen für Arme einzurichten.
An die Figur des Molotov erinnern sehr die Gestalten A. Michajlovs (Pseudonym für Scheller). Er wurde hauptsächlich durch zwei Romane bekannt: „Faule Sümpfe" (1874) und „Das Leben Schupovs" (1865}. Die Gutsbesitzer sind die Despoten und Bösewichter, die Gutsbesitzerinnen sehen alle Bauern und Diener als Pöbel an und verachten und peinigen sie, während für diese das Leben nur eine Kette bitterer Prüfungen und Leiden ist. Seine Gestalten verraten übrigens hier und da die Einwirkung Dickens'. Auch er wollte praktisch helfen, er hielt eine Schule für arme Kinder.
Ebenso malt, mit Übertreibung, das Elend des Dorflebena Sassodimskij. In seinem besten Roman „Die Chronik des Dorfes Ssmurin" (1874 — unter dem Pseudonym Wologdin erschienen) tritt die ideale Figur eines allen andern voraneilenden Schmiedes auf im Gegensatz zu dem reichen, rückschrittlichen, lasterhaften Fabrikanten.
Noch düsterer schildert Armut und Elend Reschetnikov in seinem . . . . das sind die als Burlaken (Barken- . . . . . Kama vermietenden Bauern — . . . . . . . Mädchen erstrebt, das es sich aber Freudenmädchen wird, wohl ein . . . .
Dieselben trostlosen Bilder von Armut, Trunk, Laster gibt Lewitovin seinem ,,Kummer der Städte und Dörfer“. So sehr der Inhalt beider Schrittsteiler aber zusammenläuft, eben so sehr geht ihr Stil auseinander. Der Reschetnikovs ist entsprechend der nördlichen Heimat des Verfassers rau und hart, während der Lewitovs den Wohlklang und die Musik des Südens hat. Weniger schroff tritt das Elend in seinen „Steppenskizzen“ (1861) hervor, wo liebliche Naturbilder, glückliche Idyllen dann und wann hineinleuchten.
Traurig, wiederum ganz traurig stimmt Naumov in seinen Romanen „Im tiefen Abgrund“ und „Im vergessenen Land" (1858). Das vergessene Land ist Sibirien. Naumov zeigt die Armut, die Unterdrückung der sibirischen Bauern, die allerdings nie Leibeigene im europäischen Sinne waren, dafür aber unter der Faust der reich gewordenen Bauern lebten, die Landstrich für Landstrich ankauften und aussogen. Wir bekommen auch sonst treffliche Einblicke in das Land und in die Sitten des fernen Ostens.
Gleb Usspjenskij (1840 — 1902) steht über den Vorhergehenden; er ist nicht bloß Photograph, er will auch zeigen, dass es in diesen verlumpten, schmutzigen, betrunkenen, betrügerischen Gestalten trotz alledem etwas vom Seelenleben gibt. Er malt den Auswurf der Stadt mit seiner moralischen Verwilderung, mit seinen tierischen Trieben in „den Sitten aus der Rasstjerjajewa-Straße“ (liederliche Straße) und in „dem Bankerott“ (beide 1866 im „Zeitgenossen“ erschienen). In ebenso erschreckender Weise schildert er das ländliche Proletariat, so dass man ihn eine Zeitlang für einen Anhänger der Leibeigenschaft gehalten hat. Das war er aber keineswegs; er wollte nur die Illusionen, denen man sich gern über die Befreiten hingab, zerstören, er wollte diese richtig zeigen, damit man ihnen an richtiger Stelle helfen konnte. Seine besten Werke sind hierin „Neue Zeiten und neue Sorgen“ und „Die Macht der Erde“ (1882), eine Anklage für beide Teile, für die Gutsbesitzer wie für die Bauern. Usspjenskij geht mit den scharfen Waffen der Satire, auch des bissigen Humors den öffentlichen Einrichtungen des mit der Bauernemanzipation zusammen geschaffenen Mir und der Obschtschba zu Leibe, d. h. der Gemeindeverwaltung, in deren Hand das den Bauern überwiesene Anteilland war; der einzelne Bauer selber war nicht Besitzer. Er griff diese Institutionen an, weil sie die Kräfte des Individuums zu sehr lähmten und weil sie andrerseits die unmoralische Geldwirtschaft großzogen.
Der Seelenanalytiker und zwar der der kranken Seelen wird er ganz in seinen letzten Novellen „Das kranke Gewissen“. Wenn es ein Heilmittel in all dieser Trostlosigkeit gibt, dann kann dies nur Bildung, Bildung, Bildung sein, und Genesung in der schönen, freien Natur.
Slatowratskij möchte man beinahe den Antipoden Usspjenskijs nennen. Er sieht das Heil gerade im Mir, in der Obschtschina, im Artjel (Arbeitergemeinschaft); Voraussetzung ist dabei der Geist der brüderlichen Liebe. Usspjenskij will der Intelligenz helfen, Slatowratskij achtet sie gering; Wert hat für ihn nur die Arbeit des Arbeiters. Usspjenskij mildert die Schrecken des Elends etwas durch den darüber flutenden Humor, Slatowratskij verstärkt sie noch durch sein Pathos. Seine erste, 1866 im „Funken" veröffentlichte Skizze „Die Viehseuche" gab er unter dem Pseudonym „Der kleine Schtschedrin" heraus, etwas gewagt, denn von der Ssaltykov doch gerade charakterisierenden scharfen Satire hat er wenig. Slatowratskij hat viele, dicke Bände geschrieben, in denen besonders der reich gewordene Bauer der Peiniger ist. Sein bestes Werk ist „Fundamente" (1884). Hübsche Schilderungen bieten „Die Wochentage auf dem Lande" (1882). Land und Landleben zeichnet er trefflich.
§ 51. Die „anklägerische" Lyrik konzentriert sich eigentlich in einer einzigen Person, allerdings einer bedeutenden, Njekrassov (1821 — 1877). Als Herausgeber kennen wir ihn (§ 49). Njekrassov ist vor allem aber Lyriker“ und zwar ein Lyriker von Gottes Gnaden. Seine Dichtungen reißen durch die Macht des Gedankens, die Tiefe der Empfindungen, die Musik der Form hin. Mit heiligem Eifer tritt er für den Armen, den Darbenden, den Geprügelten ein, kämpft er gegen die Rohheit und Unwissenheit der Herrschenden wie der Beherrschten. Dem Bauern gilt seine Liebe, weil da die Not am größten ist. Das wusste er aus eigener Erfahrung: er war der Sohn eines verarmten Gutsbesitzers. Gedichte wie „Die Heimat" und „Die Ungläubigen" sprechen von dieser Not.
Njekrassovs erste Gedichte gefielen Bjelinskij, und der half dem jungen darbenden Studenten. Aber Bjelinskij starb bald, und Njekrassov stand wieder dem Nichts gegenüber. Da rettete ihn „ Der Zeitgenosse", der durch seine Gewandtheit bald zu der gelesensten Zeitschrift Russlands wurde. Nach dem „Zeitgenossen" übernahm er, wie wir gesehen, die „Vaterländischen Annalen", und so war er gegen äußere Not gesichert; die sehr anstrengende Tätigkeit zermürbte jedoch seine Kräfte.
Njekrassovs Muse ist die Muse der Trauer, der russischen Melancholie, sie ist aber zugleich auch die Muse der Anklage und der Rache. Er geht auf das schärfste mit den Sünden der Väter ins Gericht, er geißelt jedoch nicht minder die Sünden der Jugend, er geißelt alle Lüge, allen Schmutz. Viele herrliche Gedichte geben uns solche Stimmungen wieder: „Das vergessene Dorf", „Vor dem Regen", „Im Hospital", das in Gedanken, Empfindung, Versmaß einzig großartige „Begräbnis", dann die größeren Dichtungen „Die Bauernkinder", „Der Korbflechter", „Der Frost", „Die Stille", und bitterste Satire enthält sein großes Epos, an dem er von 1866 bis 1876 gearbeitet hat, „Wer lebt glücklich in Russland?" mit der Antwort „Der Trunkenbold".
Alle diese Dichtungen 98) zeigen aber nicht allein, welch feines Ohr ihr Schöpfer für die traurigen Erscheinungen des Menschenlebens hatte, sondern auch welch scharfes Auge er für die Schönheit und die große, versöhnende Güte der die Menschen umgebenden Natur besaß.
Njekrassov ist der Anwalt des Bauern, der Herold des Proletariats, aber nur, soweit sie in der Not sind — wenn die Not andere Personen trifft, dann ist er auch bei ihnen zur Hand: die Dekabristenfrauen Fürstin Trubezkaja und Fürstin Wolkonskaja und ihr und ihrer Männer furchtbares Los sind mit derselben Liebe, demselben tiefen Mitgefühl behandelt wie irgendein gequälter Proletarier.
Am ehesten reicht an Njekrassovs Poesie noch die Nikitins und Pleschtschejevs. Hervorragend sind Nikitins 99) Volkslieder; Gefühlstiefe und Einfachheit sind ihre Merkmale; sie sind fast den Kolzovschen ebenbürtig. Im „Kulak" ( — Landaufkäufer — 1858) greift er, scharf in die Zeitfragen hinein.
Pleschtschejev ist aach ein „Ankläger", ein sehr scharfer, freilich nur im Anfang. Er hatte schon in seinen ersten Gedichten (1846) für „die höchsten Ideale des menschlichen Herzens" geschwärmt und seine „Brüder vorwärts ohne Furcht und Zweifel auf zum Heldenkampf" gerufen, d. h. zur Revolution. 1849 hatte er dann an der Verschwörung Petraschewskijs persönlich teilgenommen. Die Folge war, dass er zum Tode verurteilt, dann aber zu zehn Jahren Verbannung nach Orenburg und nach dem Kaukasus begnadigt wurde. Allzuviel Hoffnung hatten ihm diese zehn Jahre nicht eingebracht; nach seiner Rückkehr sehnte er sich nicht nach dort. So sind seine späteren „Gedichte" (1858) und seine „Neuen Gedichte" (1863) düster, melancholisch, jedoch nicht mehr in dem Grade aufreizend wie früher. Sie sind voll Tiefe der Empfindung, bringen stimmungsvolle Naturbilder, haben weichen, musikalischen Klang. Seine Novellen und Lustspiele sind von wenig Wert, dagegen Übersetzungen aus Heine, Lenau, Herwegh, Hebbel („Maria Magdalena"), Byron („Sardanapal"), Tennyson, Alfieri gut.
Auch Ogarjov (†1877), der Freund Herzens, der mit ihm in die Verbannung ging und mit ihm den „Kolokol" herausgab, kann hierher gezählt werden, eine Lermontovsche Gestalt. Er ist verzweifelt, möchte Trost im Träumen suchen, aber auch dies tötet ihm die kalte Vernunft. Am verzweifeltsten klingen seine „Monologe". Er ist der Sänger der Armut, der Not, des Todes und — was zu den Anklägern sonst weniger gehört — der verratenen Liebe, ganz Lermontov.
§ 52. Das „anklägerische" Drama vertritt Ostrowskij, ein großes Talent, durch den die schlummernde dramatische Dichtung erst wieder Leben erhielt und, in neuen Bahnen gehend, eine bedeutende Höhe erreichte.
Das Theater war ja in Russland seit seinem Entstehen außerordentlich beliebt gewesen; jedoch die Zuschauer stellten geringe Anforderungen, sie hatten auch nicht das richtige Verständnis, denn bessere Stücke wie die Gogols und Gribojedovs schlugen nicht allzu tief Wurzel. Man liebte mehr Schau- und Singspiele, einheimische wie übersetzte, vollkommen wertlose Sachen 100). An solche schwachen Stücke verschwendeten gute Mimen wie Martynov, Schtschepkij, Karatygin ihre Kräfte. So hielten sich durch ihre hervorragende Darstellung die mäßigen Dramen eines Obodowskij, wie sein „Belisar", aus dem Deutschen überarbeitet, sein „Verzaubertes Haus", aus dem Französischen überarbeitet, bis in die sechziger Jahre mit bestem Erfolg. Etwas höher stand Polewoj, der uns bekannte Literat, mit seinen Stücken patriotischen Inhalts: „Der Großvater der russischen Flotte" (1839), „Der Kaufmann Igolkin", einer Episode aus der Schlacht bei Poltawa, und mit seinen Überarbeitungen Shakespeares „Hamlet", „Romeo und Julie", auch Molières und Schillers. Der Kriegs- und Siegesdramatiker Kukolnik hatte wegen seiner Themen den größten Erfolg. Dahin gehören „Die Hand des Höchsten rettete das Vaterland" (1834), „Fürst Skopin Schujskij" (1835); am meisten schlug seine ad hoc gemachte „Seefeier in Ssewastopol" (1854 — Sieg über die Türken bei Sinope) durch. Er kam auch noch auf den Gedanken, italienische Künstler und Dichter zu dramatisieren, z. B. Tasso, hatte aber trotz der eleganten Verse wenig Erfolg.
Meilenweit über allen ist Ostrowskij (1823 — 1886). Seine Dramen sind anklägerisch ; sie leuchten unbarmherzig in die Sünden und Gebrechen eines Standes hinein, um den sich bis jetzt niemand gekümmert hatte, der aber ein „wahres Reich der Finsternis " bildete, in den Kaufmannsstand.
Ostrowskij 101) ist wie Gogol Vertreter der realistischen (naturalistischen) Schule. Aber Gogol lag vor allem an der Komik der Situation; seine Personen sollten die Lachmuskeln der Zuhörer in Bewegung setzen. Derlei geht jedoch nicht ohne einen gewissen Zwang an den Personen wie an der Handlung. Ostrowskij ist objektiver; er bleibt streng sachlich, real, er nimmt die Vorgänge wie sie sind und verzichtet auf jede Effekthascherei. Effekte brachten seine Vorwürfe an und für sich schon genug; seine Umgebung war wie dazu gemacht. Die Moskauer Handelsleute, reich, geschwollen reich, aber geizig, unwissend, borniert, dummstolz, roh, sittenlos, abgefeimt, betrügerisch — so sah sie der Junge jeden Tag; sein Vater war eine Art Rechtskonsulent, den sie häufig gebrauchten. Später lernte er sie noch näher kennen, als er im Handelsgericht arbeitete. So ausgerüstet, trat er schon 1846 mit einigen kleinen Sachen hervor, die starken Unwillen bei den Betroffenen erregten. Von einer wirklichen, erfolgreichen Tätigkeit kann man jedoch erst seit 1852, seit dem Erscheinen seiner „Armen Braut", sprechen.
Ostrowskij ist der fruchtbarste Dramatiker, speziell Komödienschreiber Russlands gewesen; natürlich ist manches von untergeordneter Bedeutung. Ein erstklassiges dramatisches Talent verrät schon sein Stück „Armut ist keine Sünde" (1854). Es hat als Hauptaufgabe, die Sünden des Kaufmannsstandes zu geißeln. Es blickt aber auch etwas vom Slawophilen hindurch, der er trotz aller „Anklägerei" im Grunde seines Herzens immer gewesen ist; es läuft auf das Lob der alten Zeit, ihrer Lieder, ihrer Spiele hinaus und auf das Bedauern, dass von allen nur die Erinnerung geblieben ist. Das zeigen noch deutlicher seine historischen Stücke, sein „Kosma Minin" (1862 — einer der Befreier Russlands aus schlimmster Zeit, der des Interregnums), sein „Pseudodemetrius“ (1867) (sozusagen eine Fortsetzung von Puschkins „Boriss Godunov“) auch seine „Wassilissa Mjelentjewa" 102) (s. S 58). Aber von diesen historischen Stücken wollte weder die Kritik noch das Publikum etwas wissen, mit Recht: was er nicht selber sah, konnte er nicht beleben. Als bestes Stück wurde von beiden sein „Gewitter" 103) (1859) angesehen; Dobroljubov nannte es einen Lichtstrahl im „Reich der Finsternis". Durch ein schweres Naturgewitter wird ein inneres Gewitter, d. h. die Herzensangst einer jungen Ehefrau wegen eines Fehltritts so gesteigert, dass sie alles gesteht und dann die Sühne im Tod sucht. Ostrowskij fällt damit aber keineswegs ein Verdammungsurteil über sie, sondern klagt vielmehr die sie umgebenden Verhältnisse an und die Personen, welche die ärmste durch ihre Verbohrtheit, ihr allzu starres Festhalten am Herkömmlichen, durch ihre Kälte zu diesem Schritt verleiten. Diese schlimmen Personen gehören, wie immer bei ihm, dem Kaufmannsstand, dem „Reich der Finsternis" an.
Ostrowskij folgte auf das lebhafteste allen Fortschritten, welche die Reform brachte, und schloss sich auf das innigste allen neuen Lebenserscheinungen an, blieb aber gegen die Missstände in ihrem Gefolge nicht blind. In dem Stück „Eine einträgliche Stelle" (1860) sind die Wort- und Maulhelden, die von jenen Zeiten ordentlich gezüchtet wurden, bitter gegeißelt.
Auch andere Stücke: „Ein alter Freund ist besser als zwei neue" (1860), „Hartes Brot", „Tolles Geld" (1874), „Das Herz ist' kein Stein" (1880), die alle dem Kaufmannsstande und seinen Missständen gelten, sind wertvoll.
Trotz aller Anerkennung, die der Dichter fand, kam er aus pekuniärer Notlage erst gegen Ende seines Lebens heraus, als ihn schon die aufreibende Arbeit gebrochen hatte. Da fielen ihm auch endlich Ehrungen zu: er wurde Intendant der Moskauer Theater und Vorsitzender der „Gesellschaft russischer dramatischer Schriftsteller".
Ostrowskijs Stücke haben unendlich dazu beigetragen, den Geschmack des Publikums zu heben. Wenn es heißt, er habe keine wirklichen Dramen geschrieben, sondern nur lose Szenen aneinander gereiht, so ist das ein Vorwurf, der vom heutigen Standpunkt aus schon wiederholt zurückgewiesen ist. Ostrowskijs Gestalten haben noch eben Vorzug: sie sind nicht durchweg schwarz in schwarz gemalt; seine Bösewichte sind nicht ganz Bösewichte und nur Bösewichte, sondern sie haben auch hier und da einen Vorzug, eine Tugend, sie sind eben reale Menschen. Ostrowskijs Sprache ist so mannigfaltig und abwechslungsreich wie die Puschkins.
Dasselbe große Verdienst, das sich Ostrowskij um das russische Lustspiel erworben hat, steht Leo Tolstoj für die Tragödie zu; nur hat ihn das russische Publikum viel später, erst in der letzten Zeit, schätzen gelernt. Ausführliches darüber § 62.
Hinter diesen beiden stehen alle übrigen weit zurück. Zwar hat auch Turgenjev (s. § 47) Komödien verfasst; sie sind jedoch tief unter seinen Romanen und Erzählungen. Sie geben nicht üble Bilder von der alten Zeit, aber die alte Zeit tritt so sehr als die gute alte hervor, dass an ihr eigentlich nicht viel auszusetzen ist, und vom Einläuten einer neuen ist noch viel weniger die Rede. Es steckt auch Humor und Satire darin, aber ihre Signatur ist Harmlosigkeit.
Ebensowenig kann man hierher die Stücke rechnen, die Ostrowski] in Gemeinschaft mit N. J. Ssolowjov und die der letztere allein geschrieben hat. Ganz hübsch ist z. B. die gemeinsame Komödie „Ein glücklicher Tag" (1881) und ebenso niedlich ist Ssolowjovs eigene „Auf der Schwelle zur Tat" (1881), aber sie sind nur niedlich, womit wohl genug gesagt ist.
Anders ist es mit Pissjemskij. Wenn auch mehrere Stücke allgemein gehalten sind, wenn sie nur allgemeine Schäden hervorheben wie den Kult des Gottes Baal, so ist doch sein „Bitteres Loos" (1858) ein sehr schwer anklagendes „Bauerndrama“, das erste effektvolle dieser Gattung noch vor Tolstojs „Macht der Finsternis".
In der Komödie steht Ostrowskij am nächsten Potjechin. Dass seine Stücke bitter waren und bei der Regierung keine angenehmen Gefühle auslösten, beweisen die Schwierigkeiten, welche die Zensur ihrer Aufführung bereitete; ein Teil wurde überhaupt nicht zugelassen. Schon sein erstes Stück „Menschengericht ist kein Gottesgericht" (1853) Wagt an, ebenso sein „Flittergold" (1858). Am besten zeichnet den Kampf zwischen der alten und der jungen Generation seine Komödie „Das losgerissene Glied" (1865), freilich sind ihm die Typen der alten Generation besser gelungen als die der neuen. — Man darf übrigens auch nicht ganz an seinen Romanen vorübergehen, z. B. an „Den armen Edelleuten" (1859), an „Den Blutsaugern im Dorf" (1880). Schon die Titel sprechen eine deutliche Sprache.
Speziell das Beamtentum wählt sich zur Zielscheibe Mann in mehreren oft aufgeführten Stücken. Sein „Spinngewebe" (1865) ist ein scharfer Angriff auf die Gerichte, die alles Leben mit ihrem Gespinst überziehen, einschnüren und töten. Es ist lebendig geschrieben, hat viele gute Einfälle, nur neigt es stark zur Vaudeville-Gattung. Eine andere Komödie „Die Schwätzer" (1868) geißelt, wie der Titel schon sagt, die mit der Reform zusammen einsetzende öffentliche Redewut, die sich im Debattieren und in Erörterungen gar nicht genug tun konnte, dafür aber destoweniger oder gar nicht zum Handeln führte. Man hat ihn wegen dieses Stückes zu den Reaktionären werfen wollen, es ist aber nur Objektivität, ebenso wie er rein objektiv in seinem „Allgemeinen Wohl" (1869) die unter dieser Firma segelnden egoistischen Bestrebungen des Provinzbeamtentums bloßlegt.
Ungefähr denselben Strang zieht Graf Wl. A. Ssologub (s. § 36) in seiner Komödie „Der Beamte" (1857); sie hatte wenig Erfolg.
Desto größeren hatte der äußerst gewandte und sehr fruchtbare Viktor Krylov († 1906). Er griff mit den Komödien „Die Landschaftsabgeordneten“ (1874) und ,,Gegen den Strom" in den Kampf der tobenden Geister. Später trat bei ihm die Politik zurück. Er übersetzte vorzüglich Lessings „Nathan" und überarbeitete eine Reihe französischer Stücke.
§ 53. Die „Anklageliteratur" erzeugte selbstverständlich Gegendruck; ihre äußersten Konsequenzen, Atheismus, Nihilismus konnten nicht ohne Antwort bleiben. So zeigt sich denn der extreme Gegensatz, der von einer Reform überhaupt nichts wissen will; neben ihm gemäßigtere Elemente, die vor der Reform sich von dieser eine durchgreifende Besserung versprachen oder nach ihrer Einführung, da sie gegen manche übriggebliebenen oder auch neuerstandenen Missbräuche nicht blind waren, doch eine langsam vorschreitende Gesundung erhofften, jedenfalls keine Über- oder Umstürzung, keine dilettierenden Versuche, keine nebelhaften Neuerungen wollten. Das Proletariat hatte bei den „Anklägern" die Führerrolle gehabt; diese übernimmt bei ihnen wieder der Gebildete. Stark hervortretende Geister gibt es freilich unter ihnen nur wenige. Einer von diesen wenigen ist:
Katkov (s. § 46), an Schärfe und an Schlagfertigkeit Ssaltykov nicht so fernstehend. Er nahm den politischen Kampf in der Monatsschrift „Russischer Bote" und in der Tageszeitung „Moskauer Nachrichten" auf. Auf seine Rechnung ist zu setzen, dass „Der Zeitgenosse", „Die vaterländischen Annalen" verboten, Tschemyschewskij nach Sibirien verbannt wurde. Freilich wurden auch seine „Moskauer Nachrichten" suspendiert, jedoch nur auf kurze Zeit, um dann desto schärfer wieder in streng nationalem, reaktionärem, absolutistischem Sinne zu arbeiten. Natürlich halfen ihm die politischen Verhältnisse; Karakassovs unseliges Attentat kam; Dmitrij Tolstoj, auf den Katkov sehr großen Einfluss hatte, wurde „Verfinsterungsminister“.
§ 54. Die „Ankläger“ fanden auch ästhetische Gegner, deren Stimme allerdings im Winde verhallte, nicht etwa, weil sie unbedeutende Männer waren; die Zeit war gegen sie. Annjenkov (1812 — 1887) und Drushinin (1824 — 1864) anerkannten der Kunst gegenüber nur den rein ästhetischen Standpunkt; sie wollten nicht Tendenzkritiker sein wie Ssaltykov und Tschemyschewskij, sie wollten sich auch nicht von Pissaijev belehren lassen, dass ein paar Stiefel wertvoller sei als die Verse Puschkins. Der Politik standen sie fem. Annjenkov hat sehr wertvolle Aufsätze in den „Vaterländischen Annalen", im „Zeitgenossen", im „Boten Europas" über Turgenjev, über Ostrowskij, über Gogol geschrieben. Er gab auch Puschkins Werke heraus. In seinen Kritiken trägt er oft eine von Bjelinskij abweichende Meinung vor.
Dnishinins erste Tätigkeit gehörte dem „Zeitgenossen“ solange dieser noch nicht im radikalen Fahrwasser segelte, dann schrieb er für „die Lesebibliothek", für den „Funken", für „den Russischen Boten". Er war ein sehr guter Kenner auch der westeuropäischen Literatur; er hat mehrere Stücke Shakespeares übersetzt, und manches sehr Lesenswerte über Balzac, Thackeray geschrieben. Dass er ein bedeutendes Erzählertalent besaß und vorzüglich Menschen zu charakterisieren und das menschliche Herz, besonders das weibliche, zu analysieren verstand, beweist sein Roman „Pauline Saks" (1849). Er rollte mit diesem zum ersten Male in der russischen Literatur die weibliche Frage auf. Die junge Frau liebt einen andern. Der Ehemann hält sich nicht für berechtigt, sie zu verdammen und ihr die Möglichkeit zu nehmen, dem geliebten Mann zu folgen. — Dnishinins treffliches Herz und gesunder Verstand ließen ihn die „Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Schriftsteller und Gelehrten" ins Leben rufen.
Auch Apollon Grigorjev (1822 — 1864) ist ein Gegner der „Ankläger". Er bekennt sich aber auch nicht zur rein ästhetischen Kritik der Vorhergehenden, sondern vertritt die Carlylesche organische Kritik, d. h. er sieht zwischen der Kunst und der Kritik eine organische Verwandtschaft, in der Erkenntnis des Idealen. Es steckt auch vieles vom Slawophilen in ihm. Seine kritischen Abhandlungen in den „Vaterländischen Annalen", im „Russischen Wort", im „Russischen Boten" konnten gegen die gegnerischen nicht aufkommen.
§ 55. Von den Dichtungsarten ist der Roman hier gleichfalls am besten vertreten. Mancher „klagt" auch „an" und nicht etwa bloß den Nihilismus und den Atheismus, sondern genau dieselben Sünden und Gebrechen, gegen die sich die „anklägerische" Literatur wandte, aber doch ist ein bedeutender Unterschied zwischen beiden: er hält Maß in seinen Anklagen, er sieht nicht überall Missstände, er sieht auch lichtere Seiten; er klagt nicht an bloß der Anklage wegen.
Noch auf dem Boden der Ideale der vierziger Jahre steht Kljuschnikov. Sein bester Roman „Luftspiegelung" (1864) spricht von den Leuten, die mit hohen Idealen im Herzen sich mit dem ganzen Feuereifer ihrer Seele in die revolutionäre Bewegung stürzen und dort nun nach und nach erkennen, dass alle diese Ideale an der alltäglichen Wirklichkeit zerschellen, dass die ganze Bewegung — Luftspiegelung ist.
Wie Kljuschnikov kämpft gegen den Nihilismus, gegen seine sinnlose Zerstörungswut, gegen seine blutigen Konsequenzen Krestowskij. (Nicht zu verwechseln mit der gleichfalls Romane schreibenden, weniger bedeutenden Frau Chwoschtschinzkaja, deren Pseudonym Krestowskij ist.) Bekannt machte er sich durch seine „Petersburger Spelunken" (1864 bis 1867), worin er nach Sues „Pariser Geheimnissen" die schaurigen Nachtseiten der Hauptstadt schilderte. Er war ein guter Kenner der französischen Literatur, wie die meisten dieser Schriftsteller wieder über eine gediegene Bildung verfügen, auch im äußeren Leben wieder mehr hervortreten; Krestowskij nahm 1877 als offizieller Hofhistoriograph am russisch türkischen Kriege teil. Lesenswert sind seine Romane: „Nicht der erste und nicht der letzte" (1859), ,,Durchtriebene Schelme" (1887).
Den Bauern gilt natürlich auch das Mitgefühl dieser Schriftsteller. Ssalov schrieb von 1877 ab in den „Vaterländischen Annalen“ eine Reihe von Erzählungen, so „Die Mühle des Kaufmanns Tschessalkin“ „Der Pächter" u. a., die uns das hungernde Dorf, die zerlumpten Kinder, die vernagelten Fenster der dem Einsturz nahen Häuser malen gegenüber dem feisten, aufgeputzten, Festmahle feiernden Volksaussauger, dem Kulak. Er bekämpft also auch die Auswüchse der Reform, aber nicht die Reform selber. Seine Naturschilderungen, seine Bilder aus dem ländlichen Leben, Bilder vom Fischfang, von der Jagd sind trefflich.
Den Trotz und Starrsinn des russischen Bauern, ebenso des Kleinkaufmanns, geißelt mit starkem Humor Lejkin. Sein „Stück Brot" (1869) wurde viel gelesen. Tiefen Ernst und tiefe Trauer atmet sein Roman „Auf Lohn" (1891), in dem das Los der armen Bäuerinnen geschildert wird, die nach Petersburg kommen, um Arbeit zu suchen, und dort nur Leid erfahren.
Arm waren nicht bloß die Bauern, arm war infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft auch der Kleinadel geworden; Unfähigkeit, angeborener Leichtsinn trugen natürlich ein gut Teil dazu bei. Davon sprechen die Skizzen, die Tjerpigorjev (unter dem Pseudonym Atawa) in den „Vaterländischen Annalen" brachte, und die er dann unter dem Titel „Verarmung“ (1881) zusammenfasste. Auch Ssaltykov hatte das Thema berührt, aber nur allgemein, während Tjerpigorjev konkrete, lebende Bilder zeichnet.
Lesskov und Mjelnikov behandeln ganz besondere Themen. Lesskov (Pseud. Stjebnizkij) hat auch nihilistische Typen, die unreifen Jünglinge mit den unverstandenen Ideen, manche, die nach Wahrheit verlangen und das Gute wollen, manche, die meisten, die nur den eigenen Vorteil und den eigenen Genuss suchen, beide ihre Kräfte nutzlos verschwendend und ein Chaos für Mann und Weib herbeiführend; er bringt jedoch noch ein anderes Element hinein, die Geistlichkeit, die nur selten bis jetzt berührt ist. Sie spielt schon in seinen ersten großen Roman hinein „Nirgends wohin" („Kein Ausweg" — 1865). Ihr ganz gewidmet ist der Roman „Die Kirchenleute" (1876). Außerordentlich anschaulich und zugleich sympathisch ist hier ihr häusliches Leben mit Frau und Kindern, ihre seelsorgerische Tätigkeit, ihr Kampf mit dem Unglauben, dem Sektenunwesen, dem Nihilismus geschildert. Am wenigsten befriedigt eigentlich sein Roman „Auf Messern" (1872), und dabei hat er die meisten Auflagen erlebt.
Besonders dem Sektenwesen widmet sich Mjelnikov (Pseudonym Pjetscherskij). Um dieses noch vollkommen im Dunkel liegende Gebiet genau kennen zu lernen, ist er in die fernsten, abgelegensten Orte, besonders der Wolgagegend, gewandert, zu den Bauern und kleinen Kaufleuten, den zähesten Schismatikern. In seinen Büchern „Alte Jahre" (1857), „Der Bärenwinkel" (1857), später in „Den Wäldern" (1872), „Auf den Bergen" (1875 — 1881) gibt er eine vorzügliche Schilderung ihrer Sitten und religiösen Gebräuche, wahre Kulturgemälde. In die Erzählungen flicht er eine ganze Reihe von Volkslegenden und Sagen, viele russische Sprichwörter ein. Leider verteilt er zu viel Licht auf die Sektierer, zu viel Schatten auf die Geistlichen, denen er vor allem Trunksucht anhängt. Mjelnikov hat auch mehrere wissenschaftliche historische Arbeiten über die Schismatiker verfasst.
Es verdienen auch die Namen von Markov und von Golowin (Pseudonym Orlowskij) erwähnt zu werden, die beide für den „Russischen Boten" diesen und jenen hübschen Roman geschrieben haben.
§ 56. Im Roman bietet sich noch eine neue Seite. Die russische Frau tritt in die Erscheinung. Turgenjev hatte sie sogar zur Herrin des Mannes gemacht. Das war vordem anders, ganz anders gewesen. Das Leben der russischen Frau noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war genau dasselbe, wie es im 16. Jahrhundert der „Domostroj" vorgezeichnet hatte, d. h. das der oft geprügelten Dienstmagd gegenüber dem strengen und rohen Gebieter. Eine Bresche in diese von den Männern stark verteidigte Festung schlugen die am Ende der vierziger Jahre in Russland eindringenden Werke George Sands, die nicht allein die Frau über sich selbst aufklärten, sondern auch den Männern ihr unrechtes Handeln zur Einsicht brachten. Die ersten Früchte dieser Aufklärung waren Drushinins „Pauline Saks", Herzens (Iskanders) „Wer ist schuld?" gewesen und, stark an „Pauline Saks" erinnernd, Awdjejevs „Stein unter Wasser" (1860). (Ein anderer Roman Awdjejevs „Tamarin" (1852), gleichfalls eine starke Nachahmung (von Lermontovs Pjetschorin) ist trotz der Anlehnung interessant und damals vom Publikum hoch eingeschätzt worden.) Dann kam Turgenjev und neben ihm Gontscharov, die nun aus der unterdrückten Sklavin eine erhabene Gebieterin machten. Und ähnlich stellte sich selbst Pissjemskij, der die Männer mit schonungsloser Satire verfolgt, die Frauen in allem entschuldigt. Im übrigen machte sich nicht bloß theoretisch im Roman der Fortschritt bemerkbar, sondern auch draußen im praktischen Leben; schon 1858 wurden die ersten weiblichen Gymnasien errichtet, also lange bevor man bei uns überhaupt nur eine Ahnung davon bekam. Die Entwicklung ging mit Sturmschritten weiter. Die Frau begnügte sich sehr bald nicht mehr mit der eben erst zugebilligten Stellung in der Familie und der Gesellschaft, sie wird selber handelnd, treibend, sogar politisch treibend. Die Frau auch dieser Art, nicht mehr die Herz und Sinne bestrickende, eher die abstoßende, unweibliche, unreif politisierende kennt man zur Genüge aus Turgenjev.
Diesen Auswüchsen fernstehend, dringt jetzt die arbeitsame, kluge, unabhängige Frau selbständig auch in unser Gebiet; sie tritt selber literarisch für die Rechte ihres Geschlechtes ein.
Schriftstellerinnen hatte es ja lange vorher gegeben. Katharina II., die Fürstin Daschkova ragten hervor. Aus einem Ssmirdinschen (Buchhändler-) Katalog ersieht man, dass am Ende des 18. Jahrhunderts und im Anfang des 19. sehr viele Frauen ihre Gedichte, Erzählungen, Dramen drucken ließen, durchweg dürftig und tendenzlos. Die Frauenfrage behandeln zum ersten Male in ihren Romanen Frau Chwoschtschinskaja, Frau Ssochanskaja, Frau Markovitsch.
In den vielen Romanen der Frau Chwoschtschinskaja (Pseudonym Ws. Krestowskij — alle diese Damen schreiben pseudonym, wie ja auch viele Männer dieser Zeit) sieht man deutlich zwei Perioden. Die der ersten („Der Dorflehrer" 1850, „In Erwartung des Besseren" 1860) zeigen noch das unter der starren Aufsicht der tyrannischen Mutter duldende junge Mädchen, dem auch der schwache Vater nicht helfen kann; dagegen tritt im Roman „Der große Bär" (1871) schon die neue Frau auf, die für das Allgemeinwohl arbeitet, die auf dem Boden der neuen Bewegung steht, die im Kampfe ist mit dem noch die Ideale des Domostroj vertretenden Manne. Frau Chwoschtschinskaja hat ein scharfes Auge für die Fehler jener Zeit. Die großen Phrasenhelden und die kleinen Seelen zeichnen ihre letzten Werke, der Romanzyklus „Die Provinz in der alten Zeit" (1884) und „Pflichten" (1888). Überall haben wir in abgerundeter, anmutender Darstellung treffende Bilder aus dem Leben in der kleinen Provinzstadt, im Dorfe; besonders das Treiben der höheren Schichten ist gut beobachtet und gut wiedergegeben. Mehrere ihrer Romane sind ins Deutsche, auch ins Italienische übersetzt.
Mit grelleren Farben malt ihre Bilder aus der vom Leben abgeschnittenen fernen Provinzstadt, aus dem fernen Dorf, aus dem dort vegetierenden Dasein Frau Ssochanskaja (Pseudonym Kochanowskaja). Die unglückliche Ehe, die aus dem in Russland heilig gewordenen Herkommen resultiert, das junge Mädchen nur nach dem Beschluss der Eltern, nicht nach ihrem Willen dem Mann zu übergeben, dieser Krebsschaden aus der Vergangenheit, der noch immer kräftig Wurzel treibt, ist das Thema ihres ersten besseren Romans „Nach dem Mittagessen" (1857). Großartig ist hier wie in dem folgenden „Aus einer Provinzgemäldegalerie " (1859) die Schilderung der Stagnation fern vom Strom des Lebens, fern vom bildenden Treiben der Großstadt; aber der Roman zeigt zu gleicher Zeit an vielem, dass die alte Zeit auch gut sein kann, dass die Herren und die Leibeigenen durchaus nicht immer Feinde zu sein brauchen, dass sie einander zugetan und treue Diener und treue Schützer waren. Frau Ssochanskaja ist ebenso wie Frau Chwoschtschinskaja außerordentlich gewandt im Ausdruck.
Am geschicktesten fasst die neue Zeit und die neuen Aufgaben Frau Markowitsch (Pseudonym Wowtschok) mit ihrem Roman „Die lebendige Seele" (1868) an. Nachdem die Erzählung erst die Bedingungen entwickelt hat, unter denen sich der Charakter einer Frau vernünftig bilden kann — Erziehung zur Arbeit, zum selbständigen Denken, zur wahren Religiosität — zeigt er, wie eine solche Frau bei einem Ehemann, der unter ihr steht, der nicht schaffen kann und will, alle herkömmliche Sitte und Moral beiseite setzen und ruhig von ihm gehen kann.
§ 57. Aufs engste mit diesem Sittenroman verwandt ist der historische Roman, gibt er uns doch genau wie jener Bilder aus der Vergangenheit oder Gegenwart, nur nicht aus dem Kreise der Kleinen und schnell Vergessenen, sondern aus dem der Großen und Fortlebenden. Hier handelt es sich natürlich um ganz besonders hervorragende Gestalten, um besonders herausfallende Ereignisse. Eine solche Gestalt ist Iwan der Schreckliche. Mit ihm beschäftigen sich mehrere, wieder wirklich bedeutende Leute. An ihrer Spitze steht
Graf A. Tolstoj 104) (181 7 — 1875), ein gebildeter, viel gereister Mann, eine Künstlernatur, ein Dichter. Auch äußere Umstände hatten zu seiner Entwicklung viel beigetragen. In Petersburg geboren, brachte er doch seine Jugend in Kleinrussland zu, dessen prächtige Natur außerordentlich auf das Knabengemüt wirkte; dann wurde er mit dem Thronfolger zusammen erzogen; später war er vielfach im Auslande, in Deutschland, in Italien, wo er mit den erlauchtesten Geistern verkehrte. Die kurze Begegnung des Knaben mit Goethe ist dem alten Tolstoj immer eine der wertvollsten Erinnerungen geblieben. Alle diese Umstände erweckten in ihm ein tiefes Kunstempfinden, ein tiefes Verstehen von Mensch und Natur.
Graf Tolstojs Roman „Fürst Sserebrjanyj" (1861) greift in die schlimmen Zeiten Iwans hinein, wo dieser in seiner steten Angst um Verrat sich mit einer Leibwache, den Opritschniki, umgibt und wo diese Leibwache nun in maßlosester Willkür herrscht und die maßlosesten Grausamkeiten verübt. Fürst Sserebrjanyj kehrt aus dem litauischen Kriege zurück und sieht diese furchtbare Wandlung, sieht den nur nach Blut und Mord dürstenden Herrscher. Mit hohem Mut tritt er ihm entgegen und bezwingt ihn durch seine edlen Gründe. Der Wert des Romans besteht natürlich nicht in diesem Rahmen, am wenigsten in dem Endresultat, sondern in den Bildern, die er vom Zaren, von seiner Umgebung, von den damaligen Sitten und Anschauungen entwirft, und nicht allein von denen Russlands, sondern auch von denen des eben erst in russischen Besitz übergegangenen neu eroberten Sibiriens.
Ungefähr in dieselbe Zeit Iwans greift ein Roman Kostomarovs hinein. Kostomarov ist als Schriftsteller und als Gelehrter gleich bedeutend. Aus seinen vielen gelehrten Arbeiten über russische Geschichte schöpfte er die Stoffe zu seinen Schriftstellereien, bei denen ihm seine Künstlerader wie seine reiche Phantasie sehr zustatten kamen. Mit seinem Roman „Kudjejar" (1875 im „Europäischen Boten") berührt er jene geheimnisvolle Persönlichkeit, die auf die unheilvolle Politik Iwans so entscheidenden Einfluss hatte; so soll durch ihn Iwan zu der entsetzlichen Grausamkeit gegen die Nowgoroder bewogen worden sein. Am Schluss des Romans entpuppt er sich als Sohn Wassilijs III., also als älterer Bruder Iwans.
Ein anderer, früher fallender Roman Kostomarovs „Der Sohn" (1865) führt uns in die Zeit Stjenka Rasins, jenes aufständischen donischen Kosaken unter Alexejs Regierung, der vom Kaspischen Meer an bis Nishnij Nowgorod alles an sich riss und ausplünderte, bis er (1671) gefangen und hingerichtet wurde. „Der Sohn" rächt die vom tyrannischen Gutsherrn beleidigte Mutter; er zündet das Gut des Beleidigers an, gerät aber in Gefangenschaft und wird nun getötet. Das Hauptaugenmerk des Verfassers ist darauf gerichtet, uns mit den Sitten des 17. Jahrhunderts bekannt zu machen, mit den damaligen Hochzeitsgebräuchen und Leichenbegängnissen, mit den Gerichtssitzungen und der Art der Rechtsprechung, kurz mit allem, was dem 17. Jahrhundert eigen war.
Der Pugatschovsche Aufstand, also jener unter Katharina II. tobende Aufstand, der vom Kosaken Pugatschov angestiftet war mit der Proklamation, Kaiser Peter III. lebe noch und er sei dieser Peter, bot gleichfalls reiche Nahrung. Er wurde von dem auf historischem wie auf belletristischem Gebiet gleich fruchtbaren Grafen Ssaliass de Turnemir im Roman „Die Leute des Pugatschov" (1873) behandelt. Er gibt vortreffliche Bilder von der Kasaner Gesellschaft, von der Gärung im Volke, dann von der Einnahme Kasans, auch vorzügliche Charakteristiken der russischen Kommandierenden Bibikov und Ssuworov.
Denselben Stoff wählte auch Danilewskij für sein „ Schwarzes Jahr" (1888). Bedeutender in seiner künstlerischen Ausführung, wenn auch nicht immer treu der Historie folgend, ist Danilewskijs „Brennendes Moskau" (1885 — 1886). Er berührt sich da in vielem mit Leo Tolstojs „Krieg und Frieden". Tolstojs großes und großartiges Werk wird an anderer Stelle besprochen (S 62). Genau wie Danilewskij in manchem mit Tolstoj zusammengeht, genau so gehen sie natürlich auch auseinander: z. B. hat Napoleon bei Danilewskij viel realere Züge, und in der Auffassung der Frau divergieren sie vollkommen. Die Heldinnen Tolstojs sind Heldinnen als Mütter, Töchter, Gattinnen, Danilewskijs Heldin steht auf dem Boden der neuen Bewegung: ihr Opfermut gilt dem Vaterland.
§ 58. Dieselben Stoffe lagen auch dem Dramatiker. In die Epoche Iwans des Schrecklichen greift Ostrowskijs bestes historisches Drama „Wassilissa Mjelentjewa" hinein. Wassilissa ist die ehrgeizige Witwe eines Bojaren, welche die Hand Iwans erstrebt; auch er will sie lind will dazu seine eigene Frau beseitigen. Wassilissa ist aber noch grausamer, sie will den Triumph des Mordes für sich haben und überredet einen Geliebten hierzu. Der Zar erfährt von dem Geliebten, und nun muss Wassilissa sterben. Das ist dramatischer Stoff, aber Ostrowskij hat ihn ein wenig schnell hingeworfen, und so ist es nur dramatisierte Geschichte geworden. Nichts anderes ist sein „Kosma Minin", sein „Pseudodemetrius“, sein „Wassilij Schujskij" (§ 52).
Alexej Tolstoj hatte neben seiner epischen Ader entschieden auch eine dramatische. Seine große Trilogie: „Der Tod Iwans des Schrecklichen" (1858), „Der Zar Feodor Joannowitsch" (1868), „Der Zar Boriss" (1869) packt den Stoff dramatisch an, hat auch gute szenische Effekte, aber Tolstojs Personen reden zu wohlgesetzt, sind blutlos und matt, so dass sie mit einem so großartig erfassten und so großartig durchgeführten Werke wie Puschkins „Boriss Godunov" nicht in Konkurrenz treten konnten.
Noch ein paar Dichter haben sich, keineswegs mit Ungeschick, auf diesem Gebiete, in diesem Stoffe versucht; nur werden auch sie natürlich von der Konkurrenz Puschkins erdrückt. So malt und charakterisiert ausgezeichnet
L. A. Mej. In der „Frau aus Pskov" (1860) ist die Heldin eine Tochter Iwans und einer Bojarenfrau. Sie lebt in Pskov. Iwan will die Pskower wegen ihrer Unbotmäßigkeit züchtigen. Da erkennt er die Tochter, und sein Zorn verraucht. Vortrefflich ist dem Verfasser die Zeichnung der übermütigen Opritschniki, des alten Volksrats, der aufrührerischen Massen gelungen; nur blickt überall ein bisschen stark der gelehrte Inspektor am Moskauer Gymnasium hindurch. Der Gelehrte hat auch sonst mancherlei, zu dem ihn sein Studium führte, dramatisiert: aus dem russischen Altertum, aus der römischen Geschichte, aus der Bibel.
Auch Awjerkijev knüpft in seinem Drama „Freiheit — Unfreiheit" (1868) an Iwan an. Er bringt den Zaren jedoch mehr zu Hause, in seinem Verhältnis zu den Dienern, zu der Leibwache, zu denen, die er liebt, wo er also nicht der Zar ist, sondern Wanja. Awjerkijevs Stücke zeigen den effektsicheren Arbeiter, den geschickten Dramaturgen. Er hat noch ein sehr bemerkenswertes Stück geschrieben, das einzige, das ein Bild aus der Zeit unmittelbar vor Peter gibt, die Komödie „Frol Sskabjejev". Frol ist ein Narr am Hofe Alexej Michailowitschs. Das Stück zeigt das Leben und Treiben des Hofes und der Hofgesellschaft mit Hineinarbeitung aller Scherze und Witze, welche die naive Phantasie des Volkes für diese Narrensperson ausgesonnen und ausgesponnen hatte. Der Narr ist, wie bei uns, kein Narr, sondern eine kluge, witzige, schlagfertige Persönlichkeit.
Auch Kostomarovs Dramen verdienen Erwähnung: „Ssawa Tschalyj" (1838), und sein Trauerspiel „Die Nacht in Pjerejassiaw" (1841), mit kleinrussischem Hintergrund und in kleinrussischer Sprache geschrieben.
§ 59. Fern vom politischen Wirrwarr und jeder revolutionären Bewegung hält sich auch ein Teil der Lyrik, Genüge findend in der reinen Kunst, sich in die Natur versenkend, in die Vergangenheit. Sie alle sind recht bedeutende Dichter.
Den Reigen eröffnet wieder Alexej Tolstoj. Der Verehrer Goethes, Heines, Dantes hat von ihnen die Schönheit der Form übernommen. Besonders gelingt ihm die Beschreibung der Natur, der Natur, die das Entzücken seiner Kindheit gebildet hatte, die kleinrussische. Manche der Gedichte treffen in glücklichster Weise den echten Volkston. Die ernste Seite liegt ihm, auch die religiöse — in erster Reihe steht da die epische Erzählung „Die Sünderin'' (1858). Andere schöne Erzählungen sind „Aljoscha Popowitsch", „Der Drache" (1875) usw.
Eine zarte, weiche Natur, fern allem Leidenschaftlichen, Stürmischen ist A. N. Majkov (1821 — 1895). Er hatte die Rechte studiert, beschäftigte sich aber viel mehr mit Poesie und Malerei. In Italien hatte er sich für die Antike begeistert; der durch sie gewonnenen Richtung blieb er in allem treu. Aus dieser ersten Zeit stammen seine besten Schöpfungen: 1841 seine erste Sammlung Gedichte — 1842 seine „Römischen Skizzen" — 1841 auch das lyrische Drama „Drei Tode". Seine „Römischen Skizzen" mit ihren Bildern aus der Vergangenheit, denen die moderne Zeit gegenübergestellt ist, zeigen die Idealauffassung des Künstlers. Ebenso tritt sie in den „Drei Toden" entgegen, d. h. Gesprächen, welche die durch sinnlose Tyrannenwut zum Tode verurteilten Seneka, Luzian und Lukan führen. Der Gegensatz zwischen dem untergehenden Heidentum und der neuen Welt des Christentums ist kühn herausgearbeitet. Das lyrische Drama hat seine Fortsetzung im „Tod Luzians" und findet seine Krönung in „Zwei Welten".
Der Epiker Majkov hat wirkliche Perlen der Poesie geschaffen in „Savonarola", „Der Dom von Clermont", „Die Beichte der Königin", „Die Fürstin". — Alle Dichtungen haben eine klangvolle, weiche, sich in Ohr und Herz einschmeichelnde Sprache; sie haben auch die russische Melancholie, aber nicht die herbe, sondern die sich in stillem Frieden auflösende.
Ein anderer Dichter, dem es gleichfalls das Altertum angetan hat, diesem das griechische, ist der Halbgrieche Schtscherbin — seine Mutter war Griechin, sein Vater Kleinrasse. Es war also Blutsdrang, der ihn unwiderstehlich nach Griechenland zog. Am besten sind seine Verse „Griechische Dichtungen" (1849). Auch sonst nahm er den Stoff zu seinen Dichtungen aus dem altgriechischen Leben. Er steht Majkov an Schönheit etwas nach.
Kleiner als Majkov ist auch wohl Fet (sein Vater heißt Schenschin). Seine Gedichte, schon die ersten, die er 19 Jahre alt veröffentlichte (1840), zeigen tiefe Seelenstimmung sowie ein lebendiges Sichversenken in die Schönheiten der Natur. Der Freund der Natur fühlte sich in der Stadt nicht wohl, sondern siedelte auf das Land über und schrieb hier praktische Briefe über die Landwirtschaft, dann auch über ländliche Sitten, über das Verhältnis zwischen Bauer und Besitzer und äußert sieh hier unverhohlen zugunsten der alten, vorreformatorischen Zustände. Er gab dies gesammelt unter dem Titel „Aus dem Dorfe" heraus. In späteren Jahren, seit 1877, verließ er diese idyllische Richtung und tändelte, schon ein Vorbote des neu heraufkommenden Dekadententums, in anakreontischen Weisen, tändelte auch im Versbau. So zeigt in seinen „Abendlichen Feuern" (4 Sammlungen 1882 — 1887) das Gedicht „Schatten der Nacht" kein Verb, sondern Substantiv reibt sich an Substantiv. Damit verliert aber der Wert dieser Dichtungen nicht; sie zeigen hübsche Gedanken und tiefes Gemüt. Fet hat auch manches vorzüglich übersetzt, z. B. Goethes „Faust“ und „Hermann und Dorothea“.
Ebenso wenig verbarg sein vorreformatorisches Herz Polonskij. Er schuf sich in seinen Gedichten „Abendläuten" (1869) eine eigene Welt, etwas schwärmerisch, phantastisch, elegisch, reichlich mit philosophischen Betrachtungen durchsetzt, aber voll schöner, warmer Bilder, voll Empfindung. Die Bilder aus dem Kaukasus sind besonders schön. Sehr hübsch ist auch sein großes Scherzgedicht „Grille-Musikant“ (1863). Es zeigt den lachenden, aber unter Tränen lachenden Dichter. So ist sein eigenes Leben wie das der Grille, die den Schmetterling liebt. Der verrät sie aber und umwirbt die Nachtigall. Die Nachtigall tötet ihn jedoch bald, und nun begräbt ihn die Grille. (Im Russischen macht sich das Bild noch weit wirksamer — die Grille ist das männliche Wesen, der Schmetterling das weibliche und die Nachtigall wieder das männliche). Das ist allegorisch das Herzweh des Dichters, der um das Glück der Welt wirbt und es nicht finden kann und darüber zugrunde geht. Weniger hervorragend sind Polonskijs Erzählungen und Romane.
§ 60. Es ist dies auch die Zeit der guten Übersetzer. Eigentümlich ist es, wie gern, wie gierig das Publikum sie aufnahm ; man brauchte Ablenkung von der Trübsal und den Unruhen des Tages.
Gerbel (1827 — 1883), von Abstammung Deutschschweizer, übersetzte vorzüglich Byron. Dann gab er in den fünfziger Jahren die Werke Schillers, Goethes, Shakespeares mit Biographien heraus. Seine eigenen Verse „Echos“ (1857) zeigen auch den Dichter.
Weinberg (1830 — 1908) übersetzte und dichtete für verschiedene Zeitschriften, er gab dann selbst „Das Zeitalter“ heraus. Von Shakespeare hat er neun Stücke übersetzt, ferner aus Byron, Shelley, Gutzkow („Uriel Acosta“). Er gab Goethe und Heine heraus (sein humoristisches Pseudonym war „Heine aus Tambov"). In den achtziger Jahren gründete er, hauptsächlich für Übersetzungen, die Zeitschrift „Die schöne Literatur“.
M. P. Michailov (1826 — 1864) schrieb Verse, Erzählungen, Kritiken. Er übersetzte aus Tennyson, Longfellow, vor allen aber deutsche Gedichte: Heine, Lenau. Er gab Heines „Buch der Lieder'' heraus. Ein viel gelesener Roman von ihm war „Zugvögel", worin er die Sitten und das Treiben der Schauspieler mit Humor und Satire schildert.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte