Der romantische Realismus

§ 37. Ist es Zufall gewesen, dass der romantische Idealismus so wenig feste Wurzel schlug? War es nicht viel mehr innerste Notwendigkeit, dass eine reale Stimmung einsetzte, die realste, die es nur geben konnte, verbunden noch dazu mit der tiefsten Melancholie, dem tiefsten Pessimismus Byrons? Wo sollte sich denn ein Plätzchen für die blaue Blume finden?

Alexanders I. Regierung (1801 — 1825) hatte so vielversprechend begonnen. Der Rousseauzögling hatte für die höchsten humanen Ideale geschwärmt, hatte für die Bildung des Volks Schulen, Universitäten gegründet, hatte die schlimmste Fessel des freien, schaffenden Gedankens, die Zensur, aufheben wollen, hatte zur Reformierung des ganzen Staatswesens den genialen Spjeranskij gerufen. Spjeranskij war Franzosenfreund, hinderte den Kaiser jedoch nicht, die tüchtigen Leute da zu holen, wo er sie fand. Alexander liebte seinen „Freund" Friedrich Wilhelm III. und Deutschland. So tritt denn wieder deutsche Wissenschaft in den Vordergrund. Schlözer und der Göttinger Staatsrechtslehrer Meiners wurden zur Reorganisation der Universitäten, der Staatsverfassung, des Handels herangezogen. Der Sturmdichter Klinger wurde zum Minister für Volksaufklärung berufen. An den neuerrichteten Universitäten in Charkov und in Kasan lehrten deutsche Professoren Schellings und Kants Philosophie. Freilich blieb das meiste nur Stückwerk. Die Zensur wollte Alexander aufheben, wollte. Alexander liebte auch Djershawins Poesie 62). War das etwas für die stürmende Jugend? Ihre Wünsche und Anschauungen mussten natürlich nach wie vor handschriftlich herumgehen, und es war ein sehr kühnes Unterfangen, eine Parodie zu Djershawins „Liebhaberverein des russischen Worts" (1811) in dem Verein „Arsamass" 63) (spöttisch nach einem russischen Städtchen à la Schilda benannt) zu gründen, in dem man die alte Generation bitter geißelte; Shukowskij und — viel schlimmer — Puschkin waren hier die Wortführer. Und was wurde nun erst, als auf Alexanders „Gesicht anstatt des früheren bezaubernden Lächelns Nachdenklichkeit und Kummer lagen", als er überall revolutionäre Ideen und Bestrebungen witterte, als an Stelle des aufklärerischen, ehrenhaften Spjeranskij der grausame Finsterling Araktschejev und der Mystiker Galizyn die Führung übernahmen, und als nun gar Nikolaus I. den Thron bestieg? Kein Wunder, dass da in der russischen Intelligenz die Stimmung Karl Moors herrschte, die alles mit Feuer und Schwert ausrotten wollte, oder die vollste Apathie, die tiefste Verachtung alles Irdischen und — Göttlichen.


Aus dieser Stimmung heraus ist die Dichtung Puschkins und Lermontovs aufzufassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte