Der realistische (naturalistische) Roman. — Turgenjev (1818 —1883) — Gontscharov (1812 — 1891)

Die „neue“ Zeit sucht sich ganz besonders eine Form aus, in der sie wirken will: den Roman. Für den Roman ersteht eine Blütezeit durch Turgenjev und Gontscharov.

§ 47. Iwan Ssergejewitsch Turgenjev (1818 — 1883). Gogols Romantypen waren hauptsächlich Beamte gewesen. Turgenjev wählte die seinigen mit Vorliebe aus den Edelleuten, den adligen Gutsbesitzern — er selbst war der Sohn eines solchen. Das Kind hatte auf dem Gute des Vaters, nicht weit von Mzensk im Gouv. Orlov, die Gutsbesitzer, die dort ein- und ausgingen, kennen gelernt; er hatte auch die schlechten Beziehungen zwischen den Gutsbesitzern und ihren Bauern-Leibeigenen, schlecht infolge der Rohheiten der ersteren, beobachtet. Ein beredtes Beispiel bot das eigene Haus, die harte und grausame Mutter, die auch den Sohn nicht anders behandelte. Sein erstes bedeutendes Werk, „Die Memoiren eines Jägers", zeigt uns diesen Verkehr zwischen Herren und Knechten; es ist ein flammender Protest gegen das Los der unterdrückten, geprügelten, verkäuflichen Menschen, gegen die Leibeigenschaft mit allen ihren tollen Auswüchsen.


Turgenjev ist in seinen „Memoiren eines Jägers" schon Realist Das war er nicht gleich im Anfang. Seine ersten lyrischen und epischen Versuche neigen nach der romantischen Seite hin. Der Held seines größeren Gedichtes „Parascha" (1843) ist vollkommen der Eugen Onjegin Puschkins oder der Pjetschorin Lermontovs, freilich nicht mehr zum Schluss. Da ist er ein dicker, fetter Spießer geworden, und seine Angebetete Parascha eine behäbige, nichtssagende Hausmadame. Es kommt also hier der Spottvogel heraus. Aber im großen und ganzen ist alles noch Romantik, mit der er sich während seiner Studienjahre in Moskau, Petersburg, Berlin gründlich beschäftigt hatte. Turgenjev ist Überhaupt einer von den wenigen Russen, die etwas gründlich studiert und gelernt und die eine wirkliche Allgemeinbildung besessen haben; die ganze Turgenjevsche Familie, sein Vater, seine vier Brüder waren gebildet, westlich, stark deutsch. Er selber hätte gern die Universitätskarriere eingeschlagen; da die Mutter nicht das Geld dazu gab, arbeitete er im Ministerium des Innern. Als sie starb, konnte er, der nicht Unbemittelte, den Beruf des freien Schriftstellers wählen.

Turgenjevs erste poetische Versuche hatten keinen Erfolg. Jedoch gewann sich die im „Zeitgenossen" 1847 veröffentlichte Bauernskizze „Chor und Kalinytsch" viele Freunde, und nun ließ er bis 1851 eine ganze Reihe solcher folgen, die er zusammen 1852 unter dem Titel „Memoiren eines Jägers" — Turgenjev war leidenschaftlicher Jäger — herausgab. Der Bauer, der gewöhnliche Mann ist hier mit großer Liebe umfasst; er ist nicht etwa ohne Fehler dargestellt, sondern wie die Wirklichkeit ist, mit gesunder Natürlichkeit, mit offenem Kopf, mit gutmütigem, . . . . Herzen, und ein solcher Mensch hat ein überaus . . . . bereitet, durch den Eigennutz und die Rohheit des Herrn. . . . sind durch diesen Blick in die sozialen Verhältnisse eines . . . . der russischen Bevölkerung überaus wertvoll, sie werden . . . . durch die vollendete Darstellung der Schönheiten der . . . . Natur.

Die abfällige Kritik, die er hierin an einer so einflussreichen Kaste, wie die der Landedelleute war, übte, zog ihm manchen Hass zu, und als er nun mit einem Nekrologe auf Gogol auch die Regierung verletzte, wurde er unter Polizeiaufsicht gestellt. Tief verletzt verließ er nach Aufhebung des Arrests Russland und ist nur noch ein paarmal flüchtig da gewesen. Er lebte lange in Deutschland, in Baden-Baden, und nach 1870 in Paris.

Turgenjev hat viele, bedeutende Romane 88) geschrieben, durch die das Ausland überhaupt erst Aufschluss und richtigen Einblick in die sozialen und politischen Zustände Russlands erhalten hat. Er ist der genaue Kenner und Schilderer der russischen Menschen und russischer Verhältnisse vor der großen Reform, vor Aufhebung der Leibeigenschaft; selbst die Werke, die er viel später geschrieben hat, Ende der sechziger Jahre und im Anfang der siebziger Jahre, und die eigentlich die Menschen dieser Zeiten wiedergeben sollen, wurzeln in jenem Boden.

Russlands Menschen jener Zeit sind „überflüssige“ Menschen. Alle seine Romanhelden in „Rudin" (1856), in „dem Adelsnest“ (1859), in „Am Vorabend" (1860), in „Väter und Söhne" (1862), in „Rauch" (1867), in „König Lear" (1870), in „Neuland" (1876) u. a. sind „überflüssige" Menschen, sind „Hamletnaturen". Sie haben keinen schlechten Charakter, sie haben ein gutes Maß Bildung, sie haben auch mancherlei Talente, aber sie sind ohne Tatkraft, ohne Energie, sie tändeln mit ihrer Bildung, sie reden und schwatzen, sie können nicht handeln, und deswegen kann das Vaterland sie entbehren, deswegen sind sie überflüssig. Nur sehr, sehr selten gibt es davon eine Ausnahme; z. B. Basarov in „Väter und Söhne“ 89). Das kann natürlich kein Adliger sein, Basarov ist eines Kleinbürgers Sohn. Im Kleinbürgerstand steckt eine gewisse Kraft, die der Adel längst eingebüßt hat Aber Basarov ist kalt, nur berechnend, nur an sich denkend, und daher kann das Vaterland auch ihn und seinesgleichen nicht gebrauchen. Diese beiden Gruppen sind Russlands gebildete Gesellschaft — an solcher moralischen Krankheit muss es zugrunde gehen.

Turgenjev ist also ausgesprochener Pessimist; nur in einem ist er Idealist, und zwar Idealist vom reinsten Wasser, in seinen Frauengestalten, Seine Frauen überragen weit, weit alle diese Männer, an Charakter und an Herzensbildung. Im „Adelsnest", wo die Männer alle so einfältig oder so faul oder so arrogant sind, ist Lisa der Ausbund aller Tugenden, und wie sie, so ist Marianne in „Rauch", und so sind sie alle. Turgenjev ist der Herold der Frau. In seinen Männern steckt, nach seiner eigenen Äußerung, ein Stück von ihm, und bei seinen Frauengestalten spricht auch ein Stück von seiner Lebensgeschichte mit; er hat sein Leben lang — möchte man sagen — im Banne von Frau Garcia Viardot 90) gestanden; ihretwegen ist er auch 1870 vom Deutschenfreund ein Franzosenfreund geworden.

„Väter und Söhne" ist Turgenjevs bester Roman; er charakterisiert die Zeit der jungen Generation und ihrer Väter. Aber der Realist und Wahrheitsfanatiker hatte bei allen die Farben richtig verteilt, und so wurden nun beide verstimmt. Die Kritiken haben ihm großen Schmerz bereitet. Sein Gleichgewicht hat er erst ganz zum Schluss wieder gewonnen in seinen „Gedichten in Prosa" (1878). Senilia hat er sie selber genannt — senil sind sie aber keineswegs, sie haben nur das Friedlich-Ausgleichende, das Versöhnende des Alters.

Turgenjev ist der erste, der Russland im Ausland erst wirklich bekannt gemacht hat. Zunächst bei uns; seine Romane haben zum Teil in Deutschland eher und fester Fu8 gefasst als im eigenen Land. Seine vielen Freunde, Bodenstedt, Adolf Menzel, Paul Heyse haben natürlich dazu beigetragen 91). Als er dann Deutschland Lebewohl sagte und sich in Paris niederließ, hat er, der Freund Flauberts, Goncourts, Daudets, Maupassants, nicht etwa bloß für sich gewirkt, er hat auch Tolstoj die Wege geebnet. Seinem Vaterlande stand er stets zurückhaltend gegenüber. Erst in den letzten Lebensjahren besuchte er es wieder, und nun wurde ihm eine glänzende Aufnahme zuteil. Als er 1880 eine Festrede zur Enthüllung eines Denkmals von Puschkin hielt, holte man Versäumtes nach; er wurde Ehrenmitglied der Moskauer Universität und der „Gesellschaft der Liebhaber der russischen Literatur", und als er 1883 starb, begrub man ihn mit ungewöhnlichem Pomp.

In Russland fand, nachdem sich einmal die Geister beruhigt hatten, nicht bloß, wie bei uns, seine Epik, sondern auch seine Lyrik und selbst seine Dramatik Anklang; man führte recht oft seine kleinen, der Jugendzeit angehörenden Lustspiele auf: „Das Frühstück beim Adelsmarschall" (1849), „Ein Monat auf dem Lande" (1856), humoristische Bilder der ländlichen Sitten aus guter, alter Zeit.

Turgenjev gibt in allen seinen Werken eine wirkliche Zeitgeschichte Russlands, seiner vierziger und fünfziger Jahre. Sie waren ein Ringen und Streiten der Jugend mit den Anschauungen der älteren Generation, ein Kämpfen der erst jetzt in Russland allgemeiner werdenden Wissenschaft gegen Unwissenheit und Vorurteil. Träger dieses Wissens war für Russland die studierende Jugend. Die Helden von Turgenjevs Romanen sind also vorwiegend Studenten. Auch bei uns wurden ja zur selben Zeit die Studentenromane beliebt; vielleicht ist Spielhagen durch Turgenjev beeinflusst worden, vielleicht liegt Wechselwirkung vor. Da die Bildung von jungen Studenten aber keine ausgereifte war, da sie keine Früchte . . . . wegen der eigentümlichen Veranlagung des ganzen russi . . . . en, da sie anstatt zum Segen nur zur Verneinung, zum . . . . ozialen, moralischen Umsturz, in das Nichts führte, so hat . . . . . n früher nur literarisch verwendeten Ausdruck Nihilismus . . . ., der von jetzt ab zu so trauriger Berühmtheit gelangt ist.

Turgenjevs Romane haben keine sensationellen Verwicklungen, sie sind nur groß in der Schilderung der Zustände und der diese charakterisierenden Personen. Hinzu kommt eine hübsche, innige Zeichnung der Natur und des mit ihr unmittelbar verbundenen Landlebens. Und dazu ist er ein vollendeter Meister der Form, einfach im Ausdruck, klar im Gedanken, hierin Dostojewskij und Tolstoj weit hinter sich zurücklassend.

§ 48. Gontscharov (1812 — 1891) hat dieselben Themata, dieselben Zeiten, die vierziger und fünfziger Jahre, wie Turgenjev; er hat auch dieselben Menschen, nur wählt er sie aus einem andern Beruf, dem, welchen Gogol bevorzugt hatte und der sein eigener war, aus den Beamten.

Er ist, auch wie Turgenjev, in der Romantik groß geworden. Der in Ssimbirsk in wohlhabender Kaufmannsfamilie Geborene hatte in Moskau Geschichte und Philologie studiert, bei Nadjeshdin und Schewyrjov gehört und bei ihnen Schiller, die deutsche Dichtkunst, vor allem die Romantik lieben gelernt. Im Beruf — er war im Finanzministerium, dann in der Oberpostverwaltung, eine Zeitlang auch Redakteur der offiziellen „Nordischen Post“ erst in späteren Jahren Privatmann — versagte sie; das reale Leben will anderes 92).

Das ist zum Teil das Thema seines ersteren größeren Romans; erschöpft ist es damit nicht. In seiner „Gewöhnlichen Geschichte" (1847) Ist der junge Edelmann Adujev ein solcher romantischer Schwärmer; er ist aus der Provinz nach Petersburg gekommen, um etwas zu werden, und er wird in der Tat etwas, sogar Geheimrat, aber nur weil er Onkels Rezept befolgt: „Zieh deine Träumereien aus, Jugend, und die Vizeuniform an!" Hat man erst die Uniform, dann kann man alles ruhig an sich herantreten lassen, dann ist der Zweck erfüllt — eine höhere Aufgabe gibt es für Russland nicht. Der Dichter geht zum zweiten Thema über: Adujev hat nach jenem Rezept reich geheiratet, aber er will diese Frau ganz nach sich, ganz nach seinem Willen und seinen Wünschen formen und modeln — auch das gelingt ihm, aber was wird dabei aus der Frau? Ein vollkommen apathisches Wesen, eine leblose Masse, eine Gliederpuppe, ein Nichts. Das ist also dasselbe Thema, wie es Drushinin in „Pauline Saks" hat, und wie es, nur unendlich dramatischer, in Ibsens „Nora" durchgeführt ist. Wahrscheinlich hat er übrigens den ganzen Roman nach George Sands „Horace" gearbeitet.

Sein zweites, sehr großes Aufsehen erregende Werk war „Oblomov" (1859). Oblomov ist Kollegiensekretär in Petersburg, hat aber noch irgendwo hinten ein Gut von 350 Seelen. Er galt auf der Universität für sehr begabt, er ist es noch jetzt. Er hat den Kopf voll von großen Projekten, für seine Stellung, für sein Gut; sein Herz zittert in freudiger Erregung über alle großen Zukunftstaten , aber er — liegt auf dem Sofa und räkelt sich und will sich anziehen und räkelt sich wieder und schläft wieder ein, und so liegt er tage-, wochenlang, und um ihn herum vergeht und verfällt alles in Unordnung. Auch Freund und Geliebte können ihn nicht aus der „Oblomoverei" reißen. Und „so sind sie alle in Russland". Tatkraft wohnt nur in seinem Freund Stolz, und das ist ein Deutscher. Die Person des Stolz möchte man ein hohes Lied auf deutsches Wesen, deutsches Wissen, deutsche Kultur nennen; selbstverständlich hat er auch Fehler und berührt bisweilen etwas spießbürgerlich. In allem also dieselbe Erkenntnis, dasselbe Resultat wie bei Turgenjev.

Ein ähnliches Bild haben wir im „Abgrund" (1869). Nur ist hier der Held, Rajskij, kein Beamter, sondern ein Künstler — der Roman war ursprünglich „Der Künstler" betitelt — und kein Nichtstuer im Sinne Oblomovs; im Gegenteil, er ist geschäftig, sehr geschäftig, jedoch zerspaltet er seine Kräfte überall und wird so ein Nichtstuer, ein „Überflüssiger". Die überragende Rolle hat hier, wie bei Turgenjew, die Frau. Selbst die unbedeutenden stehen höher als Rajskij, sie lassen ihn mit seinen Bewerbungen abfallen, und nun gar erst die kluge, gemütvolle, charakterfeste, Willensstärke Wjera! Jedoch stürzt sie, indem sie sich Rajskijs Gegenbild, dem starken, tatkräftigen Wolochov zuwendet, in den Abgrund; Wolochov ist ein egoistischer Zyniker.

Gontscharov hat nicht viel mehr als diese drei großen Romane geschrieben. Erwähnenswert sind noch seine scherzhafte Skizze „Ein literarischer Abend" (1880) und mehrere literarische Aufsätze im „Europäischen Boten" und in der „Niwa" und sein großes Jugendwerk „Die Seereise auf der Pallada" (1852), nicht nur eine der besten Reisebeschreibungen in der russischen Literatur, sondern auch ausgezeichnet durch Humor und tiefes Nationalgefühl, das überall, selbst in der weitesten Ferne, durchleuchtet. Mit seinen drei Romanen sticht er gegen die vielen Turgenjevs ab. Er unterscheidet sich auch sonst von ihm. Turgenjev hat eine freiere, weitere Auffassung von Menschen und Leben, Gontscharov wird mehr von den Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten des Alltäglichen angezogen. Freilich ist er darin ein vorzüglicher Kenner und ein kunstvoller Erzähler. So ist er ein Genremaler. Er liebt nicht, wie Turgenjev, die Natur, sondern nur den Menschen, und den studiert er bis in den innersten Kern, er zerlegt alle Fasern seines Herzens. Freilich macht er denselben Fehler wie Turgenjev; er will uns im „Abgrund" Leute von 1869 zeichnen, es sind jedoch Menschen aus den vierziger und fünfziger Jahren.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte