Der Pessimismus der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts

§ 63. Die Poesie der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre hatte ganz im Zeichen der realen Tagesfragen gestanden. Die Lage eines großen Teils der Bevölkerung hatte nach Erlösung aus Unmündigkeit, Unterdrückung, Willkür geschrien, aus materieller, geistiger, moralischer Knechtung. Der Bauer war am stärksten von dieser Last niedergedrückt worden, sie hatte auch den ganzen Mittelstand hart genug gedrückt.

Drei Jahrzehnte hatte sich für diese Entrechteten die Literatur eingesetzt — allzuviel Neues ließ sich da über dies Thema nicht mehr bringen; es verbot sich noch aus andern Gründen. In den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren hatte die Regierung dann und wann selber freie Allüren gehabt und daher manches freie Wort gestattet, und zu den Zeiten, wo sie selber solche Allüren nicht gern zeigte, waren die äußeren Verhältnisse, die verlorenen bzw. nutzlosen Kriege, stärker als sie gewesen und hatten sie zum laisser aller verurteilt. Hier und da raffte sie sich auch mal auf und schlug dann mit um so kräftigerer Tatze drein. Um 1880 herum änderte sich dieses Bild. Die Reform war eigentlich ins Gegenteil umgeschlagen, sie hatte nicht etwa bloß den Büchernihilismus erzeugt, sondern den der Tat. Wjera Ssassulitsch eröffnete den Reigen der Attentate, denen viele hoch- und höchststehende Personen zum Opfer fielen. Die Anschläge auf das Leben des Kaisers kamen, der Versuch den Hofzug in Moskau in die Luft zu sprengen, die Explosion unter dem Speisesaal des Winterpalais, schließlich das Dynamitattentat, das den Tod Alexanders II. am 13. März 1881 zur Folge hatte. Alexander III. bestieg den Thron, ein starker, energischer, zielbewusster Mann. Außerdem hatte sich alles so zugespitzt, dass es nur noch ein Entweder — Oder gab, entweder er oder die Nihilisten. Bei Alexanders Natur war ein Schwanken ausgeschlossen. So trat denn auch in der Literatur eine Wendung ein: Das alte Thema war nicht mehr „zeitgemäß“.


Dichtung ist vorwiegend Zeitdichtung — was konnten nun diese Zeiten anderes ergeben als den Pessimismus? Wir bekommen da wieder die Dichter, die an sich, an den andern, an allem verzweifeln, die sehen, dass ihre Nerven zu schwach zu einem Kampf sind, die Überflüssigen, die Hamletnaturen, die Leute, die von einem Ufer abstoßen und am andern nicht ankommen. Und doch ist ein Unterschied zwischen diesem Pessimismus und dem Lermontovs. Es leuchtet bei vielen, nicht bei allen, eine Hoffnung auf bessere Zeiten, auf einen neuen Sonnentag hindurch.

Der äußeren Form nach tritt auch eine Änderung ein: Die dickleibigen Romane hören auf; an ihre Stelle kommen die kleinen Erzählungen, die Novellen, die Skizzen, und damit zugleich eine kürzere, präzisere, frischere, prägnantere Sprache. — Von den nun Aufgezählten reichen manche in die Gegenwart hinein; ihre Bedeutung liegt jedoch z. B. bei Korolenko und Potapjenko in diesen Jahren.

§ 64. Hamletnaturen, mit etwas modernem Einschlag, sind Nowodworskijs (Pseud. Ossipowitsch) (1853 — 1882) Menschen. Sie haben von sich eine gewaltige Meinung, sie erheben sich selber auf ein sehr hohes Piedestal und klagen, wenn sie dann herunterstürzen, nicht sich an, sondern die Familie, die Gesellschaft, das Leben. Sie halten sich für Helden, für Verfechter hoher Ideen — im Grunde sind diese hohen Ideen aber nur recht epikuräische Gastmähler, hübsche Operetten mit der Diva dazu. Nowodworskij wählt seine Typen gern aus dem verarmten Kleinadel. Er macht seine Gestalten genießbarer durch den dem Kleinrussen nun einmal eigentümlichen Humor, mit dem er sie umgießt. Seine besten Werke sind „Weder Pfau noch Krähe", „Die Karriere", „Der Schwärmer".

Keinen Humor, nur traurige, schreckliche Bilder, Blut- und Wahnsinnsszenen hat Garschin (1855 — 1888) in seinen Dichtungen wie in seinem — Leben. Er war ein gebildeter, talentvoller, äußerst sympathischer Mensch, aber von Jugend auf leidend, krankhaft nervös, im Kriege 1877, in den er als Freiwilliger gegangen war, verwundet, von innerer Angst von Ort zu Ort gejagt. Kurze Zeit beruhigte ihn dann seine Ehe mit einer Ärztin, aber eben nur kurze Zeit; ein Sturz aus dem Fenster des vierten Stockwerks seiner Wohnung setzte seiner Unruhe ein Ende.

Gleich die erste, 1877 in den „Vaterländischen Annalen" veröffentlichte Erzählung „Vier Tage“ ist ein Bild schrecklichen menschlichen Leidens, wie es leicht in dem Kriege, an dem er teilgenommen, vorgekommen sein kann. Vier Tage liegt der Soldat an einsamer Stelle auf dem Schlachtfelde mit zerschossenem Bein, so dass er sich nicht fortbewegen kann, ohne Nahrung, ohne Wasser in der heißesten Sonnenglut und neben ihm der sich in der Sonne zersetzende, furchtbaren Pestgestank verbreitende Leichnam eines Türken. Alle Gestalten seiner Werke, selbst die aus ruhiger Zeit wie „Die Erinnerungen des Gemeinen Iwanov" (1882) — gleichfalls, Episoden aus dem russisch-türkischen Kriege — sind Hamletfiguren, die weder physische noch moralische Kraft haben, die sich in allem ihrem Tun die Fragen vorlegen: wozu? wofür? und dabei zur Verneinung alles Glücks, alles Lebens kommen. Das endet dann schließlich, wie bei ihm, im Wahnsinn. Den Wahnsinn zeigt uns „Die rote Blume" (1883); eine rote Mohnblume erscheint dem Gestörten als die Inkarnation alles Bösen, er will die Menschheit davon erlösen, er reißt sie aus und stirbt infolge der Aufregung.

Dieselben Gestalten, dieselbe Lebensauffassung haben seine Erzählungen „Der Feigling", „Die Begegnung", „Die Nacht", „Die Bären", „Der stolze Aggej" usw. So niederdrückend, so abstoßend lins oft Menschen wie Situationen erscheinen, der Dichter lässt uns dabei tief in sein eigenes Herz sehen, und das zeigt warmes, inniges Mitgefühl für die Leiden seiner Menschen. Dazu kommt neben dem großartigen Realismus der Schilderung zugleich seine außerordentliche dichterische Phantasie.

Wie Garschin führt uns in den Krieg und auf das Schlachtfeld Schtscheglov. Auch er denkt nicht an das ehren- und ruhmvolle Schlachtfeld, an den lorbeerbekränzten Sieger, sondern an die Verwundeten, Verstümmelten, Siechen, an die, welche ruhmlos, ungekannt im schmutzigen Hospital sterben. Seine Erzählungen „Das erste Treffen" (1882), „Der Leutnant Posspjelov", „Der Held ohne Erfolg" wollen nicht durch Handlung interessieren, sondern durch die Wahrheit und Lebendigkeit der Szenen und Bilder. Im ,,Ersten Treffen" geht weiter nichts vor sich als dass der eben erst zum Fähnrich kreierte Jüngling sofort vom Regiment aus in die Schlacht geschickt wird und nun Rotte auf Rotte, Kompagnie auf Kompagnie vorgehen und fallen sieht.

Schtscheglov hat auch Bilder aus dem Friedensleben der Soldaten, gleichfalls nur düstere, finstere. Im „Gordischen Knoten" liebt der Artilleriehauptmann ein einfaches Mädchen, er will es gern heiraten, möchte es aber damit keineswegs seiner Verwandtschaft entfremden. Er gibt sich alle Mühe, gut Freund mit jenen zu sein, mit einem Lakai, einem Portier, einer Köchin; aber nur Misstrauen, Geringschätzung, Hohn begegnen ihm, und das Mädchen wird ihm durch sie auch abwendig gemacht. Er erschießt sich. Hier und da wird das Widerwärtige, Traurige der Situationen und der Menschen durch glücklichen Humor gemildert. — Wo Schtscheglov sich der Zeichnung anderer Gesellschaftsstände zuwendet, versagt er.

Ähnliche trübe Bilder, das Leben der Kranken und Sterbenden, an trostlosester Stätte, im Hospital, in den möblierten Zimmern, im schmutzigen Wirtshaus zeichnet Baranzewitsch. An ein menschliches Glück glaubt er nicht. So klingen seine ,,Zersprungenen Saiten" (1878) aus, so „Der Fremdling" (1882), „Die Sklavin" (1887), „Krankes Blut" (1900). Was die trüben Bilder erträglich macht, ist der künstlerische Aufbau und auch bei ihm dann und wann durchleuchtender Humor. Hübsch weiß er für Kinder zu schreiben.

Andere Schriftsteller kleiden ihren Pessimismus mehr in die Form des Hohns, der Satire. Jassinskijs (Pseudonym Maxim Bjelinskij) Helden sind die kleinen Gecken aus den Südprovinzen des Reichs. Sie betrachten alles Leben als schal, eitel, nichtig, bis sie ein gutes Beamtenpöstchen mit behaglichem Unterkommen erwischt haben. Man sieht Jassinskijs Werken, unter deren großen Zahl „Eine Petersburger Erzählung" und „Die Stadt der Toten" (1885) die besten sind, an, dass sie weniger von künstlerischem Streben eingegeben sind, als dass sie vor allem den Leser amüsieren wollen und dazu auch das probate Mittel der Erotik keineswegs verschmähen.

Mit ähnlichem Spott stellt Albov seine Menschen hin. In seinem ersten Roman „Der Tag der Schlussabrechnung" (1879) ist der Held von größter Bewunderung für sich erfüllt, erhaben über alles und jeden, bis zum ersten — Misserfolg. Der lässt ihn vollkommen zusammenknicken; Tage lang liegt er träumend auf dem Sofa, hat Halluzinationen, will sich töten. Der Held eines andern Romans „Wie Holz verbrannte" sieht noch mehr nach Hamlet aus. Er hat das Leben trotz seiner Nichtigkeit reichlich genossen; jetzt will er sich verheiraten und fährt zur Braut. Unterwegs durchgeht er jedoch noch einmal seine Vergangenheit und — erschießt sich. In ungefähr derselben Richtung, immer mit einer tüchtigen Dosis Humor, laufen alle seine Romane der achtziger Jahre. Nachdem hat er sich ausgeschwiegen.

Veranschaulichen uns diese Schriftsteller ihren Pessimismus , ihren Skeptizismus mehr durch einzelne Personen, durch Einzelumstände, so stellen andere ganze Gesellschaftskreise, die ganze gebildete Welt als morsch und verfault hin. So arbeitet z. B. der Vielschreiber Fürst Golizyn (Pseudonym Murawlin). Die Verderbnis der höheren Petersburger Gesellschaft, der Schwachsinn der verschiedensten Grafen und Fürsten ist sein Lieblingsthema, mit starker Betonung der guten Seiten des Proletariats. Seine besten Werke sind wohl „Arme und Elegante" (1884) und „Der Tenor" (1885). Die neunziger Jahre trieben ihn, nachdem er sich stark der Politik zugewandt hatte, immer mehr ins nationalistische Fahrwasser. Das färbt sehr in seinen Romanen „Die Babylonier" (1901), „Aus unruhigen Tagen" (1902) ab. Hübsch sind seine Reiseskizzen „Am blauen Meer".

Ebenso arbeitet, mit überlegenem Spott und bitterer Satire, Matschtjet. Schon seine Einteilung des ganzen Menschengeschlechts in zwei Klassen, in die der Wölfe und Schafe oder in die der Taugenichtse und Ehrlichen (lies Dummköpfe) charakterisiert ihn und seine Schreibweise. Seine ersten Werke, Skizzen aus dem sibirischen Leben, waren objektiver gehalten und zogen durch diese Objektivität, durch ihre Anschaulichkeit, ihren gesunden Realismus außerordentlich an. Nicht weniger taten dies aber dann wegen ihrer subjektiven Bissigkeit und wegen ihrer Verfechtung der Wolf- und Schaftheorie seine späteren „Aus unlängst vergangener Zeit" (1886), „Schwarzer Undank", „Ein neues Mittel" (1891).

Der bedeutendste unter den Pessimisten, der sogar höher steht als Garschin, ist Tschechov (1860 — 1904]. Tschechov war ursprünglich Mediziner, wandte sich aber bald der Schriftstellerei zu; sein Studium färbt in seinen Erzählungen ab. Er ist sehr stark im Humor und in der Satire, ein Meister in der anekdotischen Erzählung. Seine kleinen Skizzen „Nicht bei Laune", „Eine Erkundigung", „Der Tod des Beamten", „Bei der. Frau Adelsmarschall", vor allen sein „Kunstwerk" sind Perlen köstlichen Humors und geistreicher Plauderei. „Das Kunstwerk" ist ein Bronzeleuchter, den der dankbare Trödlersohn dem behandelnden Arzt als Geschenk bringt, den dieser aber weil die das Piedestal bildenden Frauengestalten so sehr kokett und so sehr nackt sind, an einen Freund abschiebt und dieser aus demselben Grunde wieder an einen Bekannten usw., bis der Leuchter endlich beim selben Trödler ankommt, und der bringt ihn nun glückstrahlend, weil er glaubt das lang gesuchte Pendant gefunden zu haben, zum Arzt zurück. Tschechov ist auch ein Meister darin, mit wenigen Strichen eine Persönlichkeit auf das schärfste zu zeichnen. Humor und Satire leuchten gleichfalls aus seinen späteren Werken hervor, nur stehen sie unter einem immer stärker hervortretenden Pessimismus, einem psycho-pathologischen möchte man sagen. Die Nachtseiten des Lebens, die innere Leerheit des kraftlosen Menschen, überhaupt das zwecklose Dasein erfüllen seine nervenzerrüttenden Erzählungen „Zelle Nr. 6", seinen „Schwarzen Mönch". Diese pessimistische Lebens- und Weltauffassung ist auch das Leitmotiv seiner Dramen: „Die Möwe“ (1901), „Onkel Wanja", „Drei Schwestern“ (1901), „Der Kirschgarten" (1904), von denen das erstere, trotz mancher szenischen Schwierigkeiten, oft aufgeführt ist und auch bei uns guten Erfolg hatte. Dass man übrigens bei der Beurteilung solcher Werke in Bezug auf die vom Dichter gewollte Tendenz sehr vorsichtig sein muss, zeigt eine erst jetzt bekannt werdende Äußerung Tschechovs, wonach er „Die drei Schwestern" und „Den Kirschgarten" gar nicht pessimistisch, sondern als leichte Komödien aufgefasst wissen will. Mag dies nun zutreffen oder nicht, Tschechov ist Pessimist, aber einer von denen, der seine Personen mit menschlicher Wärme und menschlichem Gefühl umgibt und der an eine bessere, gerechtere, schönere Zukunft glaubt.

Die Frucht einer Reise in den Osten Sibiriens ist das sehr interessant geschriebene Buch „Die Insel Ssachalin".

Ebenso wertvolle ethnographische Untersuchungen über Sibirien haben wir von Gussjev und Jelpatjewskij, die sich auch in ihrer Lebensauffassung mit Tschechov berühren. Gussjev (geb. 1867; nach seinem Geburtsort Orenburg Gussjev-Orenburgskij) war Volksschullehrer, dann Geistlicher, legte aber 1898 sein Amt nieder. Er selber nennt sich einen Schüler Usspjenskijs. Der Pessimist sieht das Schlechte hauptsächlich bei seinen Amtsgenossen und hier wieder ganz besonders in der schwarzen Geistlichkeit — die „schwarze" ist die höhere (Mönchs-) Geistlichkeit, angesehen und im Besitz der besten Pfründen; die „weiße" die niedere Weltgeistlichkeit, arm, verachtet, verheiratet — ; sie ist für ihn nur dumm, gewissenlos und vor allem habgierig („Schlechter Ruf"). Dieser Hass tritt überall hervor, auch in dem sonst vorzügliche Aufklärung über die sibirischen Völker, über die Kirgisen, Baschkiren, über die Mordwinen gebenden Buch „In die Heimat" (Sibirien). In seinem „Land der Väter" zeigt er sich als Nietzscheschüler und als Prediger der Revolution.

Eingehende, höchst packende Schilderungen von Sibirien gibt auch Jelpatjewskij (geb. 1854) in seinen „Sibirischen Skizzen" (1893 und 1897). Seine Verbannung nach dem fernsten Osten hatte ihn das Land dort genau kennen, aber nicht schätzen gelehrt. Ihn berührt nicht die Naturschönheit, sondern er findet nur die entsetzlichen Seiten heraus, die Einöde, die Schrecken der Kälte, das Vertiertsein der Menschen.

§ 65. Es gibt auch in dieser Nacht Sterne, die ihr Licht nicht verdunkeln lassen, die den Menschen den Glauben an die Helle nicht nehmen wollen.

Moralische Reinheit, warme Menschenliebe durchströmt Korolenkos (geb. 1853) Werke, mögen sie nun Bilder aus der südrussischen Heimat oder aus Sibirien bringen, wohin er 10 Jahre lang verbannt war. Selbst diese 10 Jahre der Verschickung haben in seinem milden, gütigen Herzen nur wenig Verbitterung zurückgelassen; auch hat sein glücklicher Humor über manches hinweggeholfen. Das offenbart schon die erste Erzählung, die wohl dort noch entstanden ist „Der Traum Makars“ (1885); dieser Makar ist ein Halbjakute, der schwertrunken eingeschlafen ist und nun träumt, dass er tot vor dem göttlichen Gericht steht. Die Hauptsache an der Erzählung bilden die philosophischen und psychologischen Betrachtungen des Dichters und die Beschreibung Sibiriens. Der Beschreibung Sibiriens, seiner Unkultiviertheit, dem Räuberleben, den Überfallen, den Sitten der Bewohner, den kirchlichen Sekten sind auch „Die Skizzen eines russischen Touristen" (1885) gewidmet. Mit derselben Wahrheit, denselben schönen Farben, mit innigem Heimatsgefühl schildert er kleinrussisches Land und kleinrussische Leute. Stimmungsbilder reinster Herzensfreude, seines Glaubens an das Gute, Schöne sind aus den achtziger Jahren die Skizzen „Der alte Glöckner", „Der blinde Musikant", später die Erzählung „Der Wald rauscht" (1901), wo ein alter Förster seine Eindrücke vom Waldesleben und Waldesweben wiedergibt, und aus der letzten Zeit „Die Geschichte meines Zeitgenossen" (1909), der er selber ist. Die letzten Jahre haben in ihm den Politiker hervortreten lassen: „Der Fall der Zarenmacht. Eine Rede an einfache Leute" (1917). Der letztere Zusatz spricht deutlich.

Potapjenko hat sich durch den Drang äußerer Verhältnisse zum Vielschreiber entwickelt und daher nicht das gehalten, was er versprach. Er begann seine schriftstellerische Laufbahn mit dem Werk „Heilige Kunst" (1881), worin er predigt, dass ein Talent sich nur durch ernste. Arbeit entwickeln kann. Damit ist seine Lebensauffassung gekennzeichnet. Er ist jedoch kein Optimist strenger Observanz, der alles nur in rosigem Licht leuchten lässt; er hat auch böse Menschen, aber ihre Laster werden durch menschliche Züge gemildert, die nach seiner Philosophie auch im Bösesten stecken. Ein Mensch muss höhere, ideale Auffassungen kennen, denen zuliebe er manches zu opfern imstande ist. So gibt in seiner Erzählung „Im wirklichen Dienst" (1890) ein junger Mann seine glänzende theologische Laufbahn gegen den bescheidenen Posten eines Landgeistlichen auf, um das höhere Ideal dieses Berufes zu verwirklichen. Ein anderer Roman „Gesunde Begriffe" (1890) zeigt einen ganz gewöhnlichen Menschen, der sich allein durch seinen gesunden Verstand und durch seinen festen Willen sein Glück zimmert. Der Humorist Potapjenko blickt dabei hindurch, wenn er sagt, dass man dazu nicht einmal viel Verstand brauche. Humoristisch ist u. a. auch „Der Sekretär seiner Exzellenz"; (1890) aber, wie gesagt, in allem leidet die Qualität durch die Quantität. Die Werke der neuesten Zeit verflachen sich immer mehr.

Auch Sslutschewskij (f 1904), der allerdings als Lyriker noch höher einzuschätzen ist (§ 67), gehört mit seinen „Dreiunddreißig Erzählungen" (1888) hierher. Die besten darunter sind „Zwei Tropfen", „Zwei Touren Walzer", „Zwei Tannen". Poetische Stimmung und wahre Lebensphilosophie durchfärben sie. Großartig ist er auch in der Beschreibung der erhabenen Naturschönheiten, des stillen, einsiedlerischen Lebens des äußersten Nordens.

Ebenso ist hier Mamin der Sibirier († 1912) zu nennen. Er kennt, wie sein Beiname andeutet, Sibirien und hat Land und Leute trefflich gezeichnet. Er kennt ebenso ausgezeichnet Russland, seine Großstädte und deren Auswüchse. So gibt sein Roman „Die Millionen der Priwalovs" ein treffendes Bild vom Großunternehmertum. Mamin war auch ein sehr beliebter Jugendschriftsteller und Märchenerzähler.

Wieder einer von denen, die vorzüglich das Land- und Gutsleben, besonders die Verwalter, die Bereiter, das ganze Hofgesinde zeichnen, ist Ertel. Anfangs Schüler Turgenjevs (in seinen „Memoiren eines Steppenbewohners") mauserte er sich vollkommen zum Schüler Tolstojs durch. Sein bester Roman „Die Gardjenins. Ihr Gesinde, ihre Anhänger und Feinde" (1889) predigen die Tolstojsche Lehre, dass das Gesunde nur im Volke ist. Sein Roman „Ablösung" (1891) zeigt die Ablösung der alten Generation durch die neue hauptsächlich in ihrer Auswirkung wieder auf das ländliche Leben.

§ 66. Der talentvollste Lyriker, der Schwärm der ganzen damaligen russischen Jugend, der männlichen und der weiblichen, das größte dichterische Talent seit Njekrassovs Tod war Nadson (1862 — 1887). Seine „Gedichte" (1885) atmen krankhafte Melancholie; nicht allein die allgemeine politische wie die gesellschaftliche Lage erzeugte sie, auch der eigene sieche Körper. Er hatte die ursprüngliche Offizierslaufbahn wegen Krankheit aufgeben müssen, hielt sich dann viel in der Krim, dem Krankenbade Russlands, auf und starb dort in jungen Jahren, in Jalta. Seine Poesie ist die der Skepsis, der tiefen Traurigkeit, des Zweifels, aber nicht der vollen Verzweiflung; es geht das Streben nach Licht und Wahrheit hindurch, die Hoffnung auf die Zukunft, der Glaube an Ideale. Sein Meisterwerk, das Gedicht „Mein Freund", gibt die Zeitstimmung am Ende der siebziger Jahre wieder, diese furchtbare Depression, die auf allen Gemütern lastete; aber der Grundgedanke läuft darauf hinaus, dass der Leidende nicht verzweifeln soll, wenn auch die Unwahrheit, der Trug in voller Macht über der in Tränen gebadeten Welt herrschen — die Zeit wird kommen, wo Baal untergeht und die Liebe zurückkehrt. Finster ist es in der Welt, das zeigen seine ,,Träumereien", sein „Herostrat" — aber es gibt auch noch Trost, das sehen wir aus der „Wolke", aus der „Mondlosen Nacht", aus der „Einsamkeit".

Nadsons Gedichte fanden beim jungen Publikum ungeheuren Beifall, ein Lyriker ist wohl in so kurzer Zeit noch nie so oft aufgelegt worden. Der Beifall war natürlich, gab der Dichter doch ganz die Gedanken und die Gefühle der jungen Aufstrebenden wieder. Dazu kam, dass seine Verse vollendet in der Form sind, dass sie etwas ungemein Zartes, Einschmeichelndes, Musikalisches haben, dass die Bilder voll schöner Empfindung und voll hoher Grazie sind. Seine Poesie hat aber auch ihre Fehler; abgesehen davon, dass das Weiche, Empfindsame ihr von den Kommenden gerade als Fehler angerechnet wurde, es ist auch sonst zu viel Abstraktion, zu viel Unbestimmtes und so sehr wenig wirklich Russisches darin. Er kennt auch fast nur die Menschen, die Natur dagegen sehr wenig.

Ein solch idealer Pessimist ist auch Frug (geb. 1860), er hofft auf den Sieg des Guten und des Wahren. Frug schreibt besonders im Hinblick auf seine Glaubensgenossen, die Juden, wie sie trauernd auf den Trümmern Jerusalems sitzen. Nachdem er schon 1879 mit ein paar Gedichten begonnen hatte, gab er die erste „Sammlung" 1885 heraus. Seine Verse sind klar und einfach, voll schöner Bilder. Er sucht für das Jetzt Trost in der Vergangenheit wie in der Zukunft. Diese Hoffnung bringen seine besten Gedichte, sein „Lebensgesang“ sein „Traum des Prometheus", sein „Im Tempel" schön zum Ausdruck. Wie er mit Vorliebe hebräische Themen hat, so bringt er in sie auch gern jüdische Sagen und Legenden hinein.

§ 67. Andrerseits retten sich auch wieder Lyriker reiner Kunst aus der Hässlichkeit des Daseins heraus.

Apuchtin (1841 — 1891) war mit seinen ersten Gedichten 1859 hervorgetreten. Dann, ein Feind alles Lauten und Extremen, hatte er sich lange vom Schauplatz zurückgezogen und kam erst 1885 wieder mit einer Buchausgabe lyrischer Gedichte. Sehnsucht nach reinem, stillem Glück, nach ewiger Ruhe, Melancholie und doch starke Hoffnung durchwehen sie; die Herbstblätter rauschen traurig, weil sie die Winterkälte fühlen, aber sie tröstet im Fallen der Gedanke, dass von neuem der Frühling kommt. Bilder von der russischen Natur („Ein Jahr im Kloster" 1885, „Eine Nacht in Monplaisir") sind so schön gefühlt und geformt wie bei Njekrassov.

Ebenso ist ein Dichter reiner Kunst, mit stark patriotischem Einschlag ohne die Schönseherei und die Schönfärberei der Slawophilen, der schon im Roman hervorgetretene Sslutschewskij. Man hat ihn eine Zeitlang den „König der zeitgenössischen Poesie" genannt, so sehr traf er mit seinen „Liedern aus dem Winkelchen", mit den Balladen „Zwei Zaren", „Der Priester von Memphis" den Geschmack des gebildeten Publikums. Die russische Natur, das russische Volk umfasst er mit seinem Herzen, und die will er mit seinen Liedern auch in die Herzen der andern singen. Sslutschewskij weilte im Norden Russlands. Er malt ausgezeichnet in den „Widerklängen von der Murmanküste" den fernen Himmelsstrich mit seinen Eisschollen, den seltenen und seltsamen Tieren, den sonderbaren Bewohnern.

§. 68. Es tummeln sich auch sonst noch auf dem Parnaß der achtziger Jahre Scharen von Dichtern und Schriftstellern, die, weder Pessimisten sind noch die reine Kunst predigen, sondern die nur die eine Tendenz haben, sich und das Publikum zu unterhalten. Ein paar Namen verdienen wohl herausgehoben zu werden:

Der Lyriker Graf Golenischtschev-Kutusov, der hübsche Gedanken in melodische Form zu kleiden versteht. Seine erste Buchausgabe (1878) zeigt frische, kraftvolle Poesie; die der späteren Jahre ist schwerer, wehmütiger. „Es tobt der Wind. Die Nacht ist dunkel.“

Ebenso hat hübsche Verse P. A. Koslov geschrieben. Er ist noch mehr bekannt durch eine gute Übersetzung von Byrons „Don Juan“ (1890).

Ferner der Prosaschriftsteller Boborykin (geb. 1836), ein Vielschreiber; 100 Bände liegen von ihm vor. Er trägt allen Literaturrichtungen Rechnung, von den Anklägern der sechziger Jahre bis zu den Erotikern des 20. Jahrhunderts. Er ist Romanschriftsteller, Dramatiker, Korrespondent, Kritiker, Ästhetiker, aber — sonst wäre seine große Beliebtheit beim Publikum nicht zu erklären — er schreibt alles mit Geist und Geschmack.

Ähnliches ist von Njemirowitsch-Dantschenko zusagen, der gleichfalls ein Vielschreiber ist. Aber seine Skizzen aus dem Soldatenleben, aus dem Dorf leben sind trefflich, seine Schilderungen des hohen Nordens, vor allem Lapplands vorzüglich; er war auch ein ausgezeichneter Kriegskorrespondent von 1877 und 1904. Und was ihm sehr hoch angerechnet werden muss, er ist der Schöpfer des Moskauer Künstlerischen Theaters; hier hat er ganz besonders dahin gewirkt, dass neben Tschechov die Werke Gerhart Hauptmanns eine Stätte fanden; das Moskauer Künstlerische Theater wurde mit einem Gottesdienst und Teilen aus der „Versunkenen Glocke" eröffnet (1898). Vorbilder waren für Njemirowitsch-Dantschenko und für seinen Mitgründer Stanisslawskij übrigens unsere Meininger gewesen.

§ 69. Sonst zeigt das russische Drama am Ende des Jahrhunderts eine starke Ebbe. Es wurden noch genug Stücke verfasst, und das Publikum strömte in Massen ins Theater; es suchte jedoch mehr prunkhafte Ausstattung, glanzvolle Szenerie und fand sich dafür mit seichtem Inhalt an. Ein paar bessere, geistreichere Stücke sind geschrieben wie „Tatjana Regina" (1888) vom Chefredakteur des „Nowoje Wremja" Ssuworin oder „Der Tod der Agrippina" (X887) von seinem Mitarbeiter Burjenin, aber auch sie konnten nur für den Augenblick interessieren. Der, welcher Gehaltvolleres sehen wollte, ging leer aus. Da würde nun das Moskauer Künstlerische Theater gegründet. Seine Tätigkeit gehört jedoch mehr dem neuen Jahrhundert an.

§ 70. Der Kritiker dieser ganzen Zeit, und zwar der einzig ausschlaggebende, von allen trotz seiner Steifleinigkeit anerkannte ist Michailowskij (1842 — 1904). Er arbeitete schon an Njekrassovs „Vaterländischen Annalen" und kann als der Fortsetzer Tscherayschewskijs und Pissarjevs angesehen werden. Nur folgte er nicht ihren Auswüchsen: die Kunst hat für ihn eine moralische und soziale Aufgabe. Er hat wertvolle ästhetische Aufsätze, besonders im „Nordischen Boten", über Turgenjev, Dostojewskij , Tolstoj, Usspjenskij veröffentlicht und in seinen späteren Jahren scharf gegen den Symbolismus und das Dekadententum gekämpft. Er ist auch als Philosoph, als Ethiker und als Sozialpolitiker bedeutend. Von Studium Naturwissenschaftler hat er, Darwin in Russland populär gemacht, ebenso hat er sich um die Einführung von Spencers und Louis Blancs Evolutionsphilosophie verdient gemacht.

Als Philosoph, als Dichter, als Literarhistoriker genoss nicht unverdienten Ruf Wl. S. Ssolowjov (1853 — 1900). Die ganze Familie Ssolowjov steht in der Wissenschaft in hohem Ansehen; sein Vater war der bekannte Historiker, sein Bruder ein guter Belletrist. Aus der Schule Schellings und Hegels hervorgegangen, hat er sich etwas zu stark in die Mystik verloren. Seine Religionsphilosophie will vor allem eine Aussöhnung, eine Union zwischen der griechisch- und römisch-katholischen Kirche, eine für Russland außerordentlich gefährliche Anschauung, so dass ein großer Teil seiner Schriften im Ausland erscheinen musste. In literarischer Hinsicht zeigt er genaue Bekanntschaft mit Goethe, Dostojewskij, Njekrassov; vom literarischen wie vom philosophischen Standpunkt aus schreibt er sehr scharf gegen Tolstoj. Er greift in seiner letzten Schrift „Drei Gespräche über den Krieg, die Moral und die Religion" (1900) den „Sophismus" Tolstojs auf das Heftigste an und setzt diesen, dessen schwache Seite ja in der Tat die Logik ist, leicht matt.

Als Kritiker der letzten Zeit — und damit greifen wir der Kürze halber gleich in das nächste Kapitel hinüber — heben sich Wolynskij und Owssjanniko-Kulikowskij heraus. Der erstere, an Kant gebildet, hat viele eingehende Studien über Dostojewskij, über den Idealismus, die Romantik, hauptsächlich im „Nordischen Boten" veröffentlicht; eben da auch Owssjanniko über Lermontov, Gogol, Turgenjev, Balmont. Seine fünf bändige Literaturgeschichte über das 19. Jahrhundert (1911) orientiert sehr gut.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte