Alexander Ssergejewitsch Puschkin (1799 — 1837)

§ 38. Der Dichter Puschkin 64) war, wie jeder Mensch, nicht mit einem mal fertig. In seinem dichterischen Schaffen sieht man deutlich drei Perioden, deren erste man die italienisch französische nennt, das Resultat seiner Erziehung.

Der am 26. Mai (a. St.) 1799 in Moskau geborene Alexander erhielt die Erziehung, welche alle alten russischen Adelsfamilien ihren Kindern zuteil werden ließen. Er hatte ausländische Lehrer, den Deutschen Schiller, der ihm russischen Unterricht gab, und eine deutsche Gouvernante, die nur französisch mit ihm sprach. Von sonstigem Einfluss der beiden hört man nichts. Sehr großen Einfluss hat dagegen, besonders auf die poetische Entwicklung des Jungen, seine Wartefrau gehabt, die ihm russische Märchen und Sagen erzählte und volkstümliche Lieder vorsang. Die dem Knaben angeborene Phantasie — die Mutter hatte orientalisches Blut in ihren Adern, sie war die Enkelin des „Mohren" Peters des Großen — wurde durch diese Anregungen stark befruchtet. Die vorwiegend französische Erziehung setzte sich auf der Militärschule in Zarskoje Ssjelo fort: er dichtete hier schon französische Verse. Der sehr geweckte junge Mann beschäftigte sich aber auch, so weit ihm die häufigen und wüsten Trinkgelage, die Stubenmädchen und Schauspielerinnen Zeit ließen, gern mit andern Sprachen, auch eingehend mit dem Deutschen. Genau denselben Beschäftigungen lag er, nach bestandenem Examen 1817, ob, als er, unvermögend um die gewöhnlich von Zarskoje Ssjelo gewählte Laufbahn des Gardeoffiziers einzuschlagen, in das Departement der auswärtigen Angelegenheiten eintrat.


Aus dieser Zeit stammt nun, abgesehen, von vielen kleinen „Gelegenheitsgedichten" verliebter, tändelnder, spöttischer, klagender Art — alle in französischem Geleise — sein erstes größeres Gedicht, das seinen Namen sogleich berühmt machte, sein Märchenepos „Russlan und Ljudmila" (1820). Der Stoff ist romantisch: Fürst Russlan ist der Freier der Ljudmila. Sie raubt der Zauberer Tschemomor. Russlan sucht seine Braut, und auf dieser Suche besteht er die seltsamsten Abenteuer. Die Ausführung läuft in dem Geleise seiner früheren Jahre: viel Spielerei, allerdings geistreich, viel Gekünsteltes, recht viel echt französische Erotik und Lüsternheit. Auf diesen französischen Geist hin, und weil ihm als Vorbild zum „Russlan" Ariosts „Orlando furioso" gedient hatte, spricht man gern von der italienischfranzösischen Periode seiner dichterischen Entwicklung; man könnte sie ebensogut die französisch-italienisch-deutsche nennen, denn zum „Russlan" hat auch bedeutend Wielands ,,Oberon" mitgeholfen.

Wenn das Publikum von der Dichtung begeistert war, so hatte es ein Recht dazu, denn die Sprache, der Vers waren äußerst gefällig und lebendig, der Witz war prickelnd und geistreich, der Stoff war neu geformt; aber wenn es darin schon das nationale Epos erblickte, so sieht man, dass es noch nicht recht wusste, was national ist — es war im Gegenteil französisch.

Puschkin fühlte sich. Spöttisch, ironisch, satirisch war seine ganze Natur. Dieser Charakteranlage ließ er jetzt freien Lauf, in Oden und Epigrammen, gegen den Kaiser und Araktschejev , für die Dekabristen und Pestel, gegen, die Tyrannen und für die Freiheit, gegen das geknechtete Russland und für die französische Revolution. Der „Arsamass“ mit seinen Bestrebungen blieb auch nicht unbekannt, da konnte er noch froh sein, dass er nicht eines guten Tags in Sibirien erwachte , sondern nur in Südrussland, in Jekatjerinosslawl. Puschkin studierte hier. Byron; er lernte den Kaukasus, dann die Krim kennen, und damit ist die französische Anakreontik abgetan. An ihre Stelle tritt Byron.

Die zweite Dichtungsperiode Puschkins beginnt mit zwei größeren Epen: „Der Kaukasusgefangene" (1822) und „Die Fontäne von Bachtschissaraj" (1824) — beide nahm das Publikum wieder mit der größten Begeisterung auf. Der Titel des ersteren kennzeichnet den Inhalt. Mit dem zweiten ist die historische Tränenquelle im Schlosshof der alten Tatarenchane der Krim gemeint, die ein Chan zur Erinnerung an eine schöne Christensklavin hat errichten lassen, die ihm eine andere, eifersüchtige Sklavin, hat ermorden lassen. Schon das Thema ist echter Byron; dazu nun die ganze Auffassung des Stoffes, die Stimmung, die Aufmachung, das Versmaß, und wir haben den „Giaour“ oder „Die Braut von Abydos" oder „Den Korsar"! Großartig und selbständig ist aber Puschkin in der Naturbeschreibung, in der Schilderung der Sitten und Gewohnheiten der Kaukasusbewohner, in der Schilderung der Landschaftsschönheiten der Krim. Das russische Publikum erfuhr hier zum ersten mal etwas von der Naturerhabenheit seines südlichen Reiches.

Ebenso scharf, wie er hier das Bergvolk des Kaukasus und die Bewohner der Krim zeichnet, zeichnet er in einem andern im Byronschen Stil geschriebenen Gedicht „Der Zigeuner" (1824) die Sitten dieser Leute; er selber soll mit ihnen herumgewandert sein.

Nachdem Puschkin aus der Verbannung zurückgekehrt war und in Moskau seinen Wohnsitz genommen hatte, schrieb er seinen großen Roman in Versen „Eugen Onjegin" 65) (1832 vollendet). Einen Inhalt hat der Roman kaum. Es wird uns nur das nutzlose, blasierte, gewissenlose Leben und Treiben eines jungen reichen Mannes aus der vornehmen russischen Gesellschaft jener Zeit vor Augen geführt — ein Typ für alle. Eugen Oujegin ist Childe Harold, ist Don Juan. Und doch geht Puschkin schon über Byron hinaus; es zeigen sich die Anfänge des nationalen Dichters. Eugen Onjegin ist ein Russe mit russischer Empfindung und russischer Anschauung. Und es zeigt sich noch ein zweites, das hiermit eng zusammenhängt, das eigentlich der Boden ist, aus dem erst sein nationales Empfinden herausgewachsen ist. Puschkin hat 8 Jahre am „Eugen Onjegin" gearbeitet — in dieser Zeit hatte er sich auf das eingehendste mit der deutschen Romantik beschäftigt, aus ihr sehr viel gelernt. „An dieser Dichtersonnenpracht (der Goethes und Schillers) War Puschkins eigene Glut erwacht" Er nahm selber, auch literarisch, engen Anteil am Kampf zwischen Pseudoklassizismus und Romantik ; er schrieb heftige Artikel gegen den ersteren im „Sohn des Vaterlands“; er überließ „dem Moskauer Boten“, dem Propheten Goethes, seine dichterischen Produktionen; er sandte, als Wjenjewitinov den „Moskauer Telegraphen" gründete und „den Sänger Byrons und Chéniers“ aufforderte, „auch dem großen deutschen Alten Goethe" ein freundliches Wort zu sagen, ihm sofort seine „Szene zwischen Faust und Mephistopheles". Es stammen aus dieser Zeit verschiedene Bekenntnisse seines dichterischen Glaubens, und sie alle sind die Forderungen der deutschen Romantik, voran ihre Auffassung vom Dichterberuf.

„Mit zartem Finger, wie im Traum,
Berührt er (der Seraph) meine Wimpern
kaum —
Und Sehkraft ward dem Augenpaare,
Wie sie verliehn dem jungen Aare.
Mein Ohr berührt er, — und Gedröhn
Durchscholl's und wundersam Getön:
Den Flog der Engel, lichterkoren,
Vernahm ich, und der Sphären Klang,

Der Rebe Sprießen und den Gang
Der Meergeschöpfe, nachtgeboren . . .
Stumm, leblos lag ich fort und fort,
Als ich vernahm des Höchsten Wort:
,Steh auf, Prophet, und sieh und höre.
Voll meines Willens, allerwärts
Zeug über Länder, über Meere
Und rede Glut ins Menschenherz'.“

Diese erhabene, überirdische Stellung des Dichters, die er hier im ,,Propheten" (1826) ausspricht, kehrt noch weihevoller, göttlicher, ferner dem alltäglichen Leben, ferner dem Treiben der Menge in seinem „Dichter“ (1827) und in „Der Pöbel“ (1828) wieder, und diese Auffassung ist aus der deutschen Romantik geholt. Wie sehr ihm deutscher Geist und deutsches Wesen zusagten, das zeigt andrerseits launig eine Stelle im „Eugen Onjegin“, da wo dem Genussmenschen Eugen gegenüber sein Freund Lenskij geschildert wird:

Von Gemüte
Göttinger Bursch, der in der Blüte
Der Hoffnung und des Lebens steht,
Verehrer Kants ist und Poet!
Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder
Mit Frchten der Gelehrsamkeit,
Freiheitsideen unserer Zeit.
Sein Haar hing bis zum Nacken nieder.

Er war schön, wunderlich, voll Schwung
Der Rede und Begeisterung . . .
In unentweihter Liebe pflegte
Er alles was nur schön und gut.
Und durch die Welt mit seiner Leier
Zog er zu Schillers, Goethes Feier;
An dieser Dichtersonne Pracht
War seine eigene Glut erwacht."

Zu diesem Freunde sieht Eugen in allen guten Stunden mit Begeisterung auf — in böser Stunde freilich fordert er ihn und tötet ihn. Wenn dann aber die guten wiederkommen, wenn sich seine Seele sammeln will, wenn Friede in sein Gemüt einzieht, dann schließt er sich von allem ab und liest — Schiller.

„Eugen Onjegin“ ist der erste psychologische Roman Russlands.

In Byrons Stil sind noch die liederlichen Epen: „Graf Nulin" und „Das Häuschen von Kolomna". Damit wirft Puschkin aber den Mantel Byrons ab. August Schlegel hatte als das eigentliche Wesen der Romantik das Nationale betont, dies jedoch nur den romanischen und germanischen Völkern zugestanden; Puschkin zeigte, dass es auch für das slawische galt: er schrieb 1831 aus Altrusslands Geschichte das Drama „Boriss Godunov“ — die dritte Periode seiner dichterischen Entwicklung.

,,Nationale Romantik“ zeigen auch schon vorher zwei auf russische Geschichte sich stützende Epen, der in Gedanken und Form gleich großartige „Gesang vom Weisen Oleg" — dem Oleg, der auf die Weissagung hin, er werde durch sein treustes Schlachtross den Tod finden, dies nie wieder besteigt und doch durch dasselbe stirbt, indem lange Jahre nachher unter seinem Totenschädel die giftige Schlange hervorschießt und Oleg umwindet — und das zweite Epos „Poltawa". Ursprünglich hatte der Dichter es richtiger „Maseppa“ genannt, denn die Schlacht nimmt nur einen Gesang ein. Er hatte den Titel fallen lassen, um einen Vergleich mit Byrons „Maseppa“ zu vermeiden.

Aber am schönsten tritt die nationale Romantik in „Boriss Godunov“ hervor. Es ist kein Drama im strengen Sinne der früheren Zeit, d. h. seine Handlung ist nicht einheitlich, steht nicht im Kausalzusammenhang, aber es ist ein Drama im Sinne unserer Jetztzeit, wie es Gorkij, Tschechov, unsere deutschen Modernen schreiben, und wie es ehedem Goethe in seinem „Götz“ geschrieben hat, der Puschkins Vorbild gewesen ist, Es sind mehr oder weniger fest aneinander gereihte Szenen, die ein Bild von jener Zeit aufrollen, wo der Usurpator Boriss Godunov nach Ermordung des letzten Rurik seinen Thron gegen den falschen Demetrius verteidigen muss. Welche Lebenswahrheit, welche Naturtreue herrscht in diesen Bildern, die streng auf der Geschichte, wie sie Puschkin bei Karamsin gefunden, aufgebaut sind! Die Menschen sind Menschen, keine Helden, keine Halbgötter, wie sie bis dahin die russische Bühne in Nachahmung der französischen gesehen. Boriss Godunov, Demetrius, alle übrigen haben Menschenblut, haben menschliche Vorzüge und menschliche Schwächen und reden die Sprache der Menschen. So hatte der Dichter die Menschen bei Shakespeare und bei Goethe gefunden, und so hatte er sie nicht im französischen Drama gefunden. Dem letzteren schlägt er überall ins Gesicht: keine Einheit des Orts, keine Einheit der Zeit, kein Alexandriner, keine Einteilung in Akte, sondern nur, genau wie „Götz“ Szene neben Szene, und was ein französisches Drama nie erlaubt hätte, Volksszenen, richtige Volksszenen mit Trunkenbolden und mit faulen Witzen — alles Shakespeare, alles „Götz"!

Mit dem Erscheinen von „Boriss Godunov“ war das französische Drama in Russland abgetan. Puschkins übrige Dramen haben dazu kaum beigetragen; sie stehen dem „Boriss Godunov" nach: die Tragikomödie „Der geizige Ritter" (1830 — der Ritter häuft Gold auf Gold und wird dadurch der Feind seines Sohnes), „Mozart und Salieri" (1830 — der Hass Salieris gegen Mozart), „Der steinerne Gast" (1830 — Don Juan), das unvollendete „Die Wassernixe" (1832 — aus Altrusslands Märchenwelt) und die oben erwähnte „Szene zwischen Faust und Mephistopheles" (1825).

Puschkin hat mit „Boriss Godunov" seine Höhe erreicht. Er war älter, und die Zeiten waren schlimmer geworden. Er hatte auch 1831 geheiratet, Fräulein N. N. Gontscharowa. Da wollte er gern in Petersburg bleiben, und so hieß es Kompromisse schließen, mit der Regierung, mit dem Kaiser. Nikolaus I. war freundlich zu ihm: er wurde Kammerjunker, was freilich nicht viel bedeutete.

Er zog sich, ähnlich wie Karamsin, in das Fach der historischen Belletristik zurück. Es entstanden seine „Geschichte des Dorfes Gorochino " (1830), die „Geschichte des Pugatschov-Aufstandes" (1833), „Die Kapitänstochter“ (1836 — Szenen aus dem Pugatschov-Aufstande), die „Historischen Anekdoten" (1834), auch „Die Pikdame" (1834). Er gründete die rein literarische Zeitschrift „Der Zeitgenosse". Aber weder das Publikum noch die Kritik zeigten die frühere Begeisterung; das Publikum zog den Stürmer dem Geklärten, dem etwas reaktionär Angehauchten vor, und einzelne Kritiker sprachen ihm sogar die Empfindung, selbst den Wohllaut seiner Sprache ab — was eine spätere Kritik wieder gutmachte.

Aufsehen erregte erst wieder sein tragisches Ende. Klatschereien, welche die Ehre seiner Frau berührten, ließen ihn den Verleumder, den Gesandtschaftssekretär Dantès, fordern. Dessen Kugel traf ihn tödlich. Er starb am 29. Januar 1837.

Puschkins Dichtungen 67) aus seiner guten Zeit sind ein großer, reicher Schatz für Russland gewesen und es geblieben. Seine Poesie wurde auf ihrem Höhepunkt national und vertrieb dadurch und durch ihre Natürlichkeit die Unnatürlichkeit des französischen Klassizismus. Puschkin ist der Maler der Wirklichkeit, der russischen Wirklichkeit; er wählte von der Romantik die reale Seite, aber er wühlte nicht in ihren Tiefen; er kannte auch die Höhen, und diese sind umstrahlt von der Ursonne, aus welcher der Realismus entflossen ist, von der reinen Romantik. Der Romantik oberste Forderung heißt Phantasie; mit ihr umschließt Puschkin den Himmel und die Erde, mit ihr zauberte er bis dahin unbekannte Gebilde hervor, die Schönheiten der kaukasischen Bergesnatur. Puschkins Sprache ist die Sprache der Wirklichkeit, aber bei aller Natürlichkeit und Einfachheit, fern von jedem überflüssigen Beiwerk, ist sie von unendlicher Grazie, von unendlichem Wohllaut 68).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Russische Literaturgeschichte