Lenin, Wladimir Iljitsch (1870-1924) russischer Politiker

Während andere untergingen, stieg Lenin empor. Unaufhaltsam wie ein Elementarereignis. Phantasmagorisch entfaltete sich dieses Leben mit einem jähen und steilen Aufschwung. Aus einer Züricher Dachkammer in die prunkt vollen Gemächer des Kremls. Von der bedingten Herrschaft über eine verhältnismäßig geringe Partei zur Diktatur über das größte Imperium der neueren Geschichte. Alles, was nur je ausgesprochen, ersehnt oder erträumt wurde, ward, wie durch einen Zauberschlag,

Wirklichkeit, Theorien, die dem Gehirn eines Gelehrten zu entstammen schienen, verwandelten sich in greifbare Tatsachen. Wie ein Märchenprinz sah sich dieser Mensch, den alle für einen hoffnungslosen Doktrinär hielten, im Besitze des Tischlein-deck-dich. Wo immer er auch mit seiner Wünschelrute antippte, überall flossen leuchtende Quellen.


Aber konnte er etwas dafür, dass andere in ihm nur einen Doktrinär und Dogmatiker sahen, — während er in Wirklichkeit die eminenteste praktische Kraft des nachmarx’schen Sozialismus war? Was andere nur für theoretische Konstruktionen hielten, hatte für ihn schon längst unmittelbares Leben. Im Sozialismus erblickte er nicht das entfernte Ziel einer umsichtsvoll geleiteten Bewegung, sondern die direkte Aufgabe des Tages. Die Theorie als solche imponierte ihm wenig. Er pfiff auf die gelehrten Abhandlungen, welche die Unmöglichkeit einer sofortigen sozialen Umwälzung zahlenmäßig bewiesen. Er hatte das sichere Gefühl, dass es sich nunmehr nicht um theoretische Auseinandersetzungen, sondern um unbeugsame Willensentfaltung handelte. Anderen ist die Bewegung zum Selbstzweck geworden. Sie betrachteten liebevoll die mächtigen Organisationen, die sich die Arbeiterklasse im Laufe der Jahrzehnte geschaffen hat, und wollten erst dann zum letzten Sturmangriff blasen, wenn man die Überzeugung haben würde, dass man auch nicht das kleinste Risiko läuft. Sie kalkulierten und überlegten und zogen es vor, lieber kleinere Erfolge sicher einzuheimsen als größere Gefahren heraufzubeschwören.

Er aber sagte sich: was nützt diese ganze machtvolle Organisation, wenn sie nicht ein sofortiges Losschlagen ermöglicht? Wie lange soll man noch warten?

Jeder weitere Aufschub erschien ihm wie ein Verbrechen an der Weltgeschickte. Er sah das hypokratische Gesicht der alten Gesellschaft und hielt es mit den alten Heilkünstlern: was die Medikamente nicht heilen, wird am Feuer und Eisen gesunden.

Dass er als Russe geboren und in Russland wirken musste, war ihm willkommen. Denn die russische Not sollte Tugend werden. Eben darum, weil die russische Bourgeoisie so schwach war, weil das Zarenreich keine demokratischen Traditionen aufkommen ließ, weil sein gesellschaftliches Leben der großen Lüge des Parlamentarismus fern geblieben, weil seine Arbeiterklasse buchstäblich nichts zu verlieren hatte als ihre Ketten, — darum sollte hier der Hebel erstmalig, angesetzt werden. Die schläfrigen Demokratien des Westens waren ihm zu schwerfällig, zu vorsichtig. Wenn überhaupt, so konnte das Experiment nur in Russland gelingen, wo eine tatkräftige Minderheit immer im Stande ist, eine passive Masse unter dem Banne ihrer Entschlossenheit zu halten.

Schon 1905, — bei der ersten Revolution, — war Lenin bereit, die Macht zu ergreifen. Er verkündete die Parole des bewaffneten Aufstandes, die in Moskau zu einem aussichtslosen und blutigen Barrikadenkampf führte. Die Frucht war aber noch nicht reif. Noch konnte sich die Monarchie behaupten, — und zwar nicht nur, weil ihre militärische Macht noch nicht aufgerieben war, sondern auch weil das Bürgertum lieber mit ihm paktieren wollte als sich ins Ungewisse der Revolution zu stürzen. Der Zarismus kam mit einem blauen Auge davon.

Die nachfolgende Periode nutzte er aus, um seine Stellungen von neuem auszubauen. Die gemäßigten Parteien stellten sich auf den Boden der Verfassung und versuchten, die Reichsduma zum Werkzeug ihrer Wünsche zu machen. Die linken Gruppen aber sahen sich vollständig aus dem Sattel gehoben. 1905 jauchzten sie himmelhoch. Zu Tode betrübt gaben sie jetzt klein bei. Es war dies die Zeit, da in der Sozialdemokratie, die bis dahin die Hauptträgerin des Revolutionsgedankens war, das Liquidatorentum immer mehr um sich griff. Man sprach von Auflösung aller illegalen Organisationen, von verfassungsmäßiger Kleinarbeit. Eine Sturzwelle des Opportunismus riss alles mit.

Lenin war der Einzige, der aus dem allgemeinen Zusammenbruch mit derselben felsenfesten Überzeugung hervorging, dass der Kampf nur für eine kurze Weile unterbrochen sei, nach wie vor aber um die gleichen Ziele gehe. Er hat sich nur in der Stunde geirrt und war bereit, jede neue Gelegenheit zu ergreifen, um das Spiel von neuem zu beginnen.

Der Krieg goss frisches Öl in seine Flammen. Während alles rings, herum patriotisch jubelte und in einer Begeisterung tobte, die den Himmel voller Geigen sah, machte er eine nüchterne Bilanz. Dies alte Europa stürzte sich da in ein Unternehmen, aus dem es mit heilen Gliedern unmöglich hervorkommen konnte. Die Gebärde der nationalen Einigkeit täuschte ihn, der es wusste, dass der Krieg Gegensätze aufrollen würde, die sich durch keine Phrasen würden überbrücken lassen, ebensowenig wie das Selbstvertrauen des Militarismus, nachdem er zur Einsicht gelangte, dass die Spannkraft der kapitalistischen Ordnung nicht ausreichen könnte, um die Lasten der Kriegsjahre unerschütterlich zu tragen. Im Jubel der Kriegsbegeisterung hörte er schon andere Geräusche.

Die Nachricht von der Februarrevolution empfing er mit der kalten Gelassenheit des Astronomen, der den Eintritt der Sonnenfinsternis zum Voraus berechnete. Nun war seine Stunde wieder da, nun hieß es handeln. Am Abend des 3. April erschien er in Petersburg. Sein Programm sowohl wie die Marschroute lagen fest umrissen vor seinen Augen.

Auf dem Bahnhof empfängt und begrüßt ihn Tschcheidze. Der Ankömmling gehört ja zu den Honoratioren der Revolution, aber es ist immerhin bekannt, dass er mitunter ganz phantastische Anwandlungen habe. Kann er nicht auf den Gedanken kommen, die alleinseligmachende Koalition mit dem Bürgertum zu stören und die schöne Begeisterung der nationalen Eintracht zu trüben? Er soll eines Besseren belehrt werden. Tschcheidze spricht:

„Genosse Lenin, im Namen des Petersburger Sowjets, im Namen der Revolution begrüße ich Sie in Russland. Doch vergessen Sie nicht, dass es unsere Auf. gäbe ist, die Revolution sowohl gegen äußere als auch gegen innere Anschläge zu verteidigen. Was uns not tut, ist Einigkeit innerhalb der Demokratie. Wir hoffen, dass Sie zusammen mit uns dies gemeinsame Ziel verfolgen werden."

Ein Augenblick herrscht Schweigen, dann kehrt Lenin Tschcheidze den Rücken und wendet sich an die umstehende Menge.

„Werte Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in Euch die siegreiche russische Revolution zu begrüßen und Euch selbst als die Vorhut der proletarischen Weltarmee. Der imperialistische Raubkrieg ist der Anfang des Bürgerkriegs in ganz Europa. Die Stunde naht, wo die Völker auf das Zeichen unseres Genossen Karl Liebknecht die Waffen gegen ihre Ausbeuter, gegen die Kapitalisten kehren werden. Die Morgenröte der sozialistischen Weltrevolution ist angebrochen. In Deutschland gärt alles. Von heute auf morgen kann der Zusammenbruch des ganzen europäischen Imperialismus erfolgen. Die russische Revolution, die Ihr vollbracht habt, hat die Katastrophe vorbereitet und eine neue Epoche begonnen. Hoch die sozialistische Weltrevolution!"

Es war dies, wie gesagt, am Abend des 3. April auf dem finnländischen Bahnhof zu Petersburg. Wer Ohren hatte, um zu hören, konnte hören.

Die wenigsten hatten sie, die meisten blieben taub. Sogar in der eigenen Partei stieß Lenin zunächst auf gewissen Widerstand. Seine Forderungen kamen wie aus der Pistole geschossen. Angesichts der erdrückenden Mehrheit, welche die Anhänger der Koalition in den Räten hatten, schien ihre Verwirklichung schlechthin aussichtslos. Was die Gegner anbelangt, so fertigten sie Lenin noch rascher ab. Die einen, die Einsichtsvolleren, als schrullenhaften Theoretiker, die anderen, die Böswilligen, als bezahlten deutschen Spion.

Aber eher konnte man hoffen, ein Gewitter zu überreden als auf Lenin damit Eindruck zu machen. Seine Haltung an jenem folgenschweren Aprilabend war ja symbolisch. Ostentativ kehrte er den prominenten Würdenträgere der Revolution den Rücken, um sich an eine andere Zuhörerschaft zu wenden. Und diese spitzte die Ohren. Sie war kriegsmüde — : er verhieß ihr sofortigen Frieden, sie hatte Hunger — : er versprach ihr Brot. Sie — die Namenlose — misstraute instinktiv den neuen Günstlingen des Schicksals, die über ihr Leben verfügten — : er brandmarkte sie als Ausbeuter und Verräter.

Im Verhältnis Lenins zur Masse ist der Schlüssel seines Aufstiegs und seiner Wirkung. Alles, was der Krieg und die Revolution entfesselten, wühlte sprungbereit in den Tiefen der Volksseele und harrte nur auf ein Zeichen, um wie eine Lawine dahinzurasen. Alle Instinkte, die in jahrhundertelanger Knechtschaft niedergehalten wurden, alle Gelüste, die der brausende Odem der Freiheit entfachte, aller Hass, den eine Sklavenrasse gegen ihre Sklavenhalter hegte: alles schwängerte die Luft und wartete, eine greifbare Gestalt anzunehmen.

Das Volk blieb zunächst noch stumm. Jene Besseren, die es in Gehorsam erzogen hatten, betäubten es mit schönen Redensarten. Sie sprachen von Opferbereitschaft und künftiger Glückseligkeit, sie predigten ihm Entsagung und Friedfertigkeit. Hier aber war Einer, der ebenso schlecht sein wollte wie das Volk selbst, ja, mehr noch als das: der alles, was für schlecht galt, auf sein Gewissen zu nehmen bereit war. Er war von demselben Geschlecht wie jene geschniegelten Herren, die täglich salbungsvolle Litaneien hielten, indes sie im geheimen ihre Geschäfte besorgten, aber er stand inmitten des Volkes und band es von allen Skrupeln los. Raubt, sagte er, denn euer Raub ist Wiedervergeltung; tötet, denn aus dem Blut wird neues Leben erblühen; brecht das Gesetz, denn dies Gesetz haben Verbrecher errichtet. Alles, was ihr macht und machen werdet, nehme ich auf mich.

Die Herrscher sahen in Lenin einen Verschwörer. Die Gebildeten einen sozialistischen Wüterich. Die Parteileute einen Abenteurer. Die namenlose Masse, — dieselbe, die einst einem Razin oder Pugatschew zujubelte, — erblickte ihn in einer anderen Gestalt. Er war ihr Papst — und jedes seiner Worte eine Indulgenz.

Doch der die Leidenschaft entfachte blieb selbst kalt.

Lenin ist der nüchternste Rechner in den Reihen des zeitgenössischen Sozialismus. Er beschließt die Reihe europäischer Staatsmänner, die etwa mit Gambetta oder Bismarck beginnt, und ist der vollkommenste Abschluss dieser Reihe. Alle anderen brachten in die Politik persönliche Vorurteile, individuelle Leidenschaften mit. Er ist der Einzige, der sie als ein voll, kommen objektives Problem auffasst. Sein politisches Denken vollzieht sich mit der automatischen Sicherheit einer Rechenmaschine. Es ist das vollständig unpersönliche Denken eines beseelten und wundervoll organisierten Mechanismus, der sich in den Dienst einer bestimmten Partei gestellt hat. Er kennt keine Skrupel, keine Gewissensbisse, keine Regungen, überhaupt keine psychischen Hemmungen. Er ist die reinste und endgültige Verkörperung des politischen Menschen der Gegenwart.

Was Hegel von dem griechischen Philosophen Anaxagoras sagt: dass er der erste Nüchterne unter Betrunkenen gewesen sei, das kann man mit ebenso gutem Fuge auch auf Lenin anwenden. Er war der einzige Wachende unter so vielen Schlafwandlern der Revolution. Fast alle waren sie durch Phrasen und Illusionen, durch Prinzipien und Leitsätze gebunden. Lenin betrachtete die Wirklichkeit mit dem nüchternen Auge des Experimentators, und sie breitete sich vollkommen geheimnislos vor ihm aus.

Er sah, dass er sich fast nicht anzustrengen brauche: denn sie selbst arbeitete für ihn. Je weiter die wirtschaftliche Auflösung Russlands fortschritt, je kriegsmüder das Volk wurde, je landhungriger der Bauer, umso näher rückte die Stunde heran, da er, wie Hamlet, dem Maulwurf der Geschichte Zurufen konnte: „Du wühlst gut"! Er hatte nur ein spöttisches Lächeln für die Bemühungen der gemäßigten Parteien, den Durst der Revolution mit der Milch frommer Denkart zu stillen. Er musste sich durchsetzen, weil er die rohe Empirie der Revolution mit vollständig entschleiertem Auge betrachtete. Als er nach dem verunglückten und missgeborenen Aufstand vom 3. Juli 1917 sich verstecken musste, um nicht den Schergen Kerenskis in die Hände zu fallen, verschwand er vom öffentlichen Schauplatz der Begebenheiten. Wie so oft früher, war er bereit, ein unterirdisches Dasein zu führen, während oben sich alles einer scheinbaren Existenzfreudigkeit hingab.

Von seinem finnländischen Versteck aus belehrte Lenin die Parteileitung täglich über die Unvermeidlichkeit des kommenden Zusammenbruchs, bei dem man die Macht in die Hände bekommen würde. Zweimal wöchentlich schrieb er in der „Pravda" Artikel über die bevorstehende Diktatur der Arbeiter und der Dorfarmut. Zwei Wochen vor dem Oktober-Umsturz erschien seine Broschüre: „Werden die Bolschewiki die Macht behaupten können?" Seine eigenen Anhänger, — mit wenigen Ausnahmen, — schwankten noch, die Gegner wähnten sich immer noch im Besitze der Gewalt, — er arbeitete schon das Regierungsprogramm aus, und seine Leute suchten mit unermüdlichem Eifer Fabriken und Werkstätten, Kasernen und Unterstände auf, wo sie sein Evangelium predigten.

Am Abend des 26. Oktober konnte er als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, als faktischer Diktator Petersburgs und künftiger Beherrscher Russlands im weißen Saal des Smolnji erscheinen. In seiner Aktentasche lagen zwei Dekrete — „Allen, allen, allen!" — über den Krieg und über das Land. Der Maulwurf wühlte gut.

Vor dem 26. Oktober hatte Lenin ein Ziel, dem er alles bedingungslos opferte: die Macht zu ergreifen. Nach dem 26. Oktober steckte er sich ein anderes Ziel, dem er ebenso bedingungslos alles zu opfern bereit war: die Macht zu behaupten. Die präzise Maschinerie seines Denkens arbeitete in der neuen Richtung mit derselben Sicherheit. Diesem praktischen Ziel der Machtbehauptung warf Lenin alles in den Rachen, was andere aus Prinzip oder Denkgewohnheit nie preisgegeben hätten. Wenn anders das Schema von kommender Weltrevolution, dem zuliebe das russische Experiment gewagt wurde, richtig war, so hieß es, die eroberte Macht solange in den Händen zu behalten, bis eben jene Revolution käme. In diesem Punkt war sich Lenin vollkommen klar. Er: wollte und musste regieren, — um jeden Preis, — so lang es ging, — so gut es ging.

Und wieder setzte er sich durch: gegen die Zweifler und Prinzipienreiter in den eigenen Reihen, gegen passive Resistenz der Unzufriedenen, gegen Intervention der fremden Heerscharen und gegen Attentate der einheimischen Reaktion.

Er setzte durch den Frieden von Brest-Litowsk, der die erste Probe auf die Lebensfähigkeit der Oktober-Revolution war, — obzwar die erdrückende Mehrheit seiner Parteigänger sich schämte, — und wohl auch fürchtete, — das Odium der kannibalischen Friedensbedingungen auf sich zu nehmen. Superkluge Illusionisten, — wie Trotzki, versteckten sich hinter ratlosen Formeln: „Weder Krieg noch Frieden". Es komme, was kommen mag! Neurasthenische Phantasten, — wie Lunatscharski, — fieberten von einem revolutionären Krieg, vom Verlegen des Regierungssitzes nach dem Ural, von Unterminierung Petersburgs. Inmitten dieses allgemeinen delirium tremens behielt Lenin kaltes Blut. Krieg führen? — Ein Ding der Unmöglichkeit! Odium der Friedensbedingungen? — Was bedeutete es einer Armee, die vollkommen erschöpft, und einer Bevölkerung, die gewöhnt war, alle Regierungsakte stillschweigend hinzunehmen! Stand außerdem nicht die Weltrevolution unmittelbar bevor, die alle diese Bedingungen ins Raritätenkabinett der Geschichte werfen würde?

Er setzte durch die Aufteilung des Bodens, die Enteignung der Fabriken, die Erdrosselung der Intellektuellen, die Terrorisierung des ganzen Landes: weil das alles geschichtliche Vorbedingungen seiner Regierung waren. Der Auflösungsprozess musste vollständig ausreifen; die entfesselte Masse musste eine unüberbrückbare Kluft zwischen sich und der Vergangenheit legen; aus tiefster Tiefe heraufbeschworene Instinkte mussten Nahrung finden. Sein Zweck: regieren — heiligte alle seine Mittel.

Er setzte die neue ökonomische Politik durch, als der Zeitpunkt kam, neu erworbenen Besitz zu sichern, aus der Revolution hervorgegangene Gewaltherrscher an sich zu binden, neue wirtschaftliche Anhaltspunkte zu gewinnen.

Er ist zum Beherrscher Russlands geworden, — nicht weil in jener Oktobernacht betrunkene Soldaten und klassenbewusste Arbeiter das Winterpalais besetzten und Kerenski außer Landes jagten, sondern weil er die unpersönlichste und am konsequentesten durchgedachte Verkörperung der letzten Phase der russischen Geschichte, weil er der Einzige war, der das Ausmaß jener Trunkenheit und die Tragfähigkeit jenes Klassenbewusstseins vollkommen auskalkulierte.

Vor fünf Jahren, — seither ist eine Ewigkeit dahingegangen, — im Dezember 1917 schrieb ich:

„Nunmehr ist Lenin auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Alles, wovon er in den langen Jahren seines heimatlosen Wanderns nur träumen konnte, ist Wirklichkeit geworden. Nun hat er seinen Willen. Das größte Glück ist ihm beschießen worden, welches einem Denker überhaupt widerfahren kann: vom Wort konnte er zur Tat gehen. Alles geschah nach Wunsch. Der bewaffnete Aufstand, die Eroberung der Macht, die Diktatur des Proletariats, die Fraternisierung auf der Front: alle Parolen politischer Zeitungsartikel sind, wie unter einem Zauberstab, Fleisch und Blut geworden. Aber all dies wird verschwinden, wie eine Fata Morgana in der Wüste, — und darum muss Lenin sich beeilen. Die Erde ist schon bereit, sich aufzutun, um ihn zu verschlingen, — und er trinkt mit gierigen Schlucken aus seinem Kelch."

Die Erde hat sich aufgetan, — und der Trunk ist zu Ende. Noch regiert er, aber es ist nur noch schattenhaftes Dasein. Wohl mehren sich äußerliche Erfolge, — und eine Regierung nach der andern buhlt um die Zeichen seiner Freundschaft, Raubritter der Industrie umschleichen seine Wege. Seine Revolution ist das glänzendste Geschäft geworden, das es gibt in diesen Zeitläuften der Devisenstürze und Valutaschwankungen.

Doch hinter dem staatlichen Glanz dieser Fassade wohnt das Grauen. Die Weltrevolution, — die so bestimmt voraus berechnete, — kommt nicht. Die Sowjetrepubliken in Ungarn und Bayern, der Aufstand in Deutschland, die Märzaktion 1921: Wunden, an denen sie verblutete, — und wer weiß, wann sie sich wieder aufrichtet.

Der Hauptposten in der Rechnung stimmt nicht. Und die wundervolle Kalkulationsmaschine der Revolution versagt plötzlich. Es ist kein Zufall, dass dieses bestorganisierte Gehirn umnachtet wird.

Die weiteren Geschicke der Oktober-Revolution, — was immer auch ihr beschieden sein mag, — werden andere tragen. Andere, die leidenschaftlicher oder gewissenloser, abenteuerlicher oder egoistischer sind. Lenin hat sein Werk vollbracht. Mögen sich andere mit ihm abfinden, — so wie sie es können.